Vokallänge
In der Regressionsanalyse wurde die Quantität des Vokals der letzten Silbe, die auf einen oder mehrere Konsonanten endet1, in einer nominalen Variable 'Vokallänge: kurz' mit den Ausprägungen JA oder NEIN behandelt. Dies geht nicht zuletzt darauf zurück, dass Fehringer (2011: 95) in Berufung auf Pfeffer/Morrison (1979) über eine Präferenz für -es bei einsilbigen Nomen spricht, die einen kurzen Vokal vor Einzelkonsonant enthalten (z. B. Stoffes), während Szczepaniak (2010: 116) bei solchen Nomen eine starke Tendenz zu -s ausmacht. Bei auf Konsonanten endenden Einsilbern im Allgemeinen gebe es Szczepaniak (2010: 112) zufolge jedoch keine Korrelation zwischen der Genitivform und der Vokallänge, weil die Endung -s sowohl bei einem kurzen als auch bei einem langen Vokal seltener sei als die Endung -es. Allerdings erscheine die Endung -s bei kurzen Vokalen (z. B. des Klang(e)s) marginal häufiger als bei langen Vokalen (z. B. des Wein(e)s).
Interessanterweise betrafen die Feststellungen von Pfeffer/Morrison (1979: 310), auf die sich Fehringer berief, nicht nur Einsilber, sondern auch Mehrsilber und dabei nicht einfach alle Nomen mit einem kurzen Vokal, sondern - in einer graphemisch orientierten Darstellung - die Nomen auf -ch, -ff, -ll, -mm, -nn, -tt, -zt, -sch, -st. Außerdem postulierten Pfeffer und Morrison bei solchen Nomen nicht eine Neigung zu -es, sondern letztlich einen (nahezu) ausnahmslosen Einsatz dieser Endung. Hinsichtlich der einheimischen Nomen auf -zt, -sch, und -st wird diese Meinung von einigen Forschern in Ansätzen geteilt. Dementsprechend wurden die Auslaute auf einen sch-Laut und auf eine st-Gruppe (einschließlich -zt) in dieser Studie bereits unter den 'starken' Faktoren behandelt2. Im Hinblick auf die restlichen Nomen findet aber Pfeffers und Morrisons Postulat der Ausnahmslosigkeit von -es in der Spezialliteratur kaum ein Echo. Dabei können Nomen auf -ch sowohl einen kurzen Vokal als auch einen Diphthong in der letzten Silbe enthalten (z. B. Tuch respektive Teich) und nur bei den immer noch übrig gebliebenen Auslauten -ff, -ll, -mm, -nn, -tt lässt die grafische Verdopplung des Konsonanten auf einen vorangehenden kurzen Vokal schließen wie in Stoff oder Fall. Die dazugehörigen Nomen repräsentieren dennoch nicht alle Nomen auf Einzelkonsonant mit einem kurzen Vokal in der letzten Silbe (man denke etwa an Fälle Schmuck oder Gestrüpp).
Vgl. Lautliche, prosodische und morphologische Faktoren. Dabei stellte sich vor allem für den Auslaut auf sch-Laut heraus, dass die Annahme einer (selbst tendenziellen) Invarianz sehr problematisch ist.
Um die Meinungen zu Nomen mit einem kurzen Vokal in der letzten Silbe kurz
zusammenzufassen: Pfeffer und Morrison schlagen die Ausnahmslosigkeit von -es für
einen großen Teil der Nomen mit einem kurzen Vokal vor Einzelkonsonant vor, daraufhin spricht
Fehringer bei Einsilbern mit einem kurzen Vokal vor Einzelkonsonant pauschal von einer Präferenz
für -es, wogegen Szczepaniak bei Einsilbern auf einen oder mehreren Konsonanten
bei einem kurzen Vokal marginal häufiger die Endung -s findet als bei einem langen
Vokal und bei Einsilbern auf Einzelkonsonant bei einem kurzen Vokal schließlich eine starke Tendenz
zu -s feststellt. Es bleibt noch hinzuzufügen, dass ein langer Vokal vor
konsonantischem Auslaut lediglich Pfeffer und Morrison näher beschäftigt: Sie attestieren den
Einsilbern mit einem langen Vokal bzw. einem Diphthong vor Einzelkonsonant eine häufige Verwendung
von -es (z. B. Staates oder Kleides, vgl.
Pfeffer/Morrison 1979: 307).
Um mehr Licht in die offensichtlich kontroverse Frage nach der Bedeutung der
Vokalquantität in der letzten Silbe der auf Konsonanten ausgehenden Nomen zu bringen, erscheint es
zweckmäßig, die Endungswahl in den einzelnen relevanten Nomengruppen zu überprüfen. Unser Blick
richtet sich daher im Folgenden nacheinander auf:
- alle (varianten) Nomen auf einen oder mehrere Konsonanten
- die Einsilber auf einen oder mehrere Konsonanten
- die Einsilber auf Einzelkonsonant
- die Nomen auf -ch, -ff, -ll, -mm, -nn, -tt
Szczepaniak (2010) und Fehringer (2011) fassen den Faktor Vokallänge binär auf - als eine pauschale Opposition von kurzem und langem Vokal. So betrachtet wirken kurze Vokale bei Nomen auf einen oder mehrere Konsonanten in unserem Material den bisherigen Analysen zufolge leicht zugunsten von -es. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die meisten Token mit kurzen Vokalen mit -es erscheinen. Sowohl bei Nomen mit einem kurzen Vokal als auch bei solchen mit einem langen Vokal überwiegt die Endung -s und die festgestellte Wirkungsrichtung ergibt sich u. a. daraus, dass die (varianten) Nomen im Allgemeinen noch stärker '-s-lastig' sind als die Nomen mit einem kurzen Vokal (vgl. Abbildung 1 in Wirkung schwacher Faktoren im Vergleich ).
Um an belastbare Informationen zu Nomen mit einem anderen als einem kurzen
Vokal in der letzten Silbe zu kommen, muss aber der Bereich Vokalquantität eigentlich
differenzierter strukturiert werden, denn in einer binären Auffassung werden Nomen, die auf
Diphthonge vor Konsonanten enden (z. B. Streit, Rauch, Zeug, Verein, Spielraum,
Geheul), unter der Kategorie 'lang' mit behandelt, obwohl sie hinsichtlich der Endungswahl
ganz anders einzustufen sind als Nomen mit den restlichen langen Vokalen wie Rat, Weg, Hof,
Spiel, Buch, Vorjahr, Bahnhof, Gebiet (vgl. Abbildung 1).
Abb. 1: Anteil der ES-Endung: Durchschlagskraft verschiedener Ausprägungen von Vokallänge
Diphthonge vor Konsonanten präferieren relativ deutlich die Endung
-s, wobei sonstige lange Vokale leicht (aber um einiges stärker als kurze Vokale)
in Richtung -es wirken. Die Zusammenstellung der logarithmierten Odds Ratios
verdeutlicht dies (vgl. Abbildung 2), und die
einschlägigen Phi-Werte zeigen, dass Diphthonge auch unter Berücksichtigung der
Reichweite der Faktoren hinsichtlich der Effektstärke einen deutlichen Vorsprung behalten (vgl.
Abbildung 3). Allerdings ist ihre Effektstärke im
Gesamtspektrum der Faktoren immer noch als verhältnismäßig gering einzuschätzen (vgl.
Abbildung 2 in Wirkung schwacher Faktoren im Vergleich).
Abb. 2: Richtung und Effektstärke einzelner Ausprägungen von Vokallänge - logarithmierte Odds Ratios für die ES-Endung
Abb. 3: Reichweite und Effektstärke einzelner Ausprägungen von Vokallänge - Korrelationskoeffizient Phi
Eine so ausdifferenzierte Betrachtung des Faktors Vokalquantität macht
deutlich, dass die bei binärer Auffassung des Faktors evtl. feststellbare Wirkung der Ausprägung
'lang' zugunsten von -s auf die Wirkung von Diphthongen vor abschließendem
Konsonant zurückgehen kann. Betrachtet man in unserem Material die Diphthonge separat, wirken
sowohl kurze als auch lange Vokale geringfügig zugunsten von -es.
Bei Einsilbern auf einen oder mehrere Konsonanten ist in allen
einschlägigen Nomengruppen ein Übergewicht von -es zu verzeichnen, das sich dem
Einfluss der Einsilbigkeit verdankt (vgl. Abbildung
4)3. Anders als bei der
Gesamtheit der Nomen auf Konsonanten zeigen kurze Vokale hier einen marginalen Effekt zugunsten von
-s, was übrigens den Einschätzungen Szczepaniaks
(2010: 112) entspricht.
Abb. 4: Durchschlagskraft verschiedener Ausprägungen von Vokallänge bei Einsilbern
Bei Einsilbern auf Einzelkonsonant wirkt die Ausprägung 'kurz'
noch stärker zugunsten von -s (vgl. Abbildung
5). Die Effektstärken aller Ausprägungen werden größer (vgl.
Abbildung 6 für die logarithmierten Odds
Ratios).
Abb. 5: Durchschlagskraft verschiedener Ausprägungen von Vokallänge bei Einsilbern auf Einzelkonsonant
Abb. 6: Richtung und Effektstärke einzelner Ausprägungen von Vokallänge bei Einsilbern auf Einzelkonsonant - logarithmierte Odds Ratios für die ES-Endung
Den größten Phi-Koeffizienten zeigen jetzt lange Vokale (vgl.
Abbildung 7), was damit zusammenhängt, dass sie
deutlich häufiger werden, wenn man nur einen Einzelkonsonanten als Auslaut zulässt. Alle
Effektstärken sind aber immer noch als klein einzustufen (Phi < 0,2).
Abb. 7: Reichweite und Effektstärke einzelner Ausprägungen von Vokallänge bei Einsilbern auf Einzelkonsonant - Korrelationskoeffizient Phi
Dass bei Einsilbern 74% der Nomen auf langen Vokal vor Einzelkonsonant die
Endung -es zeigen (vgl. Abbildung 7),
erinnert uns an die Feststellungen Pfeffers und Morrisons
(1979). Pfeffer und Morrison behandelten unter langen Vokalen aber Diphthonge mit.
Hätten wir sie nicht ausgesondert, weil sie eine zu anderen langen Vokalen entgegengesetzte Wirkung
zeigen, hätten Nomen auf langen Vokal vor Einzelkonsonant die Endung ES zu etwa 70% zu sich
genommen. Dies würde zwar der Einschätzung Pfeffers und Morrisons
(1979: 307) entsprechen ("-es is added in two out of three
cases"), aber noch keine besonders nennenswerte Wirkung zugunsten von ES bedeuteten, weil
die ES-Wahrscheinlichkeit für alle Einsilber auf Einzelkonsonant bereits bei 69% liegt.
Zum Schluss bleibt zu vermerken, dass bei Nomen auf -ch, -ff, -ll, -mm,
-nn, -tt keine Besonderheiten im Sinne der von Pfeffer und Morrison postulierten
Ausnahmslosigkeit von -es bzw. einer sehr deutlichen Tendenz zu
-es zu beobachten sind: Bei Mehrsilbern zeigen die Nomen einen Effekt zugunsten von
-s, und bei Einsilbern zeigt nur der Auslaut auf -ch eine
überdurchschnittliche Präferenz für -es Fälle (84% gegenüber 71% bei allen
Einsilbern - vgl. Abbildung 4; dieser Tendenz folgen z.
B. Buches, Daches, Deiches).