Abgrenzung zu starken Faktoren und adäquate Darstellung des Faktorenspektrums
Um die Grenzen zwischen dem Bereich tendenziell invarianter Nomen und dem Bereich variierender Nomen zu problematisieren, müssen die schwächeren der sog. starken Faktoren mit den stärkeren der sog. schwachen Faktoren verglichen werden. Ausschlaggebend ist dabei die Durchschlagskraft von Faktoren (relative Häufigkeit entsprechender Endungen), da diese die Ausnahmslosigkeit der Faktorenwirkung direkt anzeigen kann. Ausnahmslosigkeit ist vom Ansatz her typeunabhhängig. Die (tendenzielle) Ausnahmslosigkeit ist die Grundlage dafür, zwischen festem und schwankendem Gebrauch der Endungen zu unterscheiden, wie es etwa in Duden 9 (2007: 370) getan wird.
Die Grenze zwischen dem tendenziell invarianten und dem varianten Bereich fällt innerhalb der zu S tendierenden Nomen viel klarer aus als innerhalb der zu ES tendierenden Nomen.
Abb. 1: Anteil der S-Endung: Der Übergang von varianten zu (nahezu) invarianten Nomen bei Tendenz zu S1
1‚Nomen auf Diphthong plus Konsonant‘ = ‚Vokallänge/-höhe: Diphthong‘ aus Abbildung 1 in Wirkung "schwacher" Faktoren im Vergleich.
In Abbildung 1 ist das Gefälle zwischen der relativen Häufigkeit der S-Endung für Nomen der Sondergruppen und der für Nomen auf Liquid besonders stark ausgeprägt, was als eine deutliche Grenze gedeutet werden kann. Mitten im Grenzbereich befindet sich der Wert für Nomen auf Diphthong. Diesem Befund entspricht die Einschätzung in Duden 9 (2007: 370f.),2 wo Nomen auf Diphthong zwar dem Bereich des zwischen -es und -s schwankenden Gebrauchs zugeschlagen, aber gleichzeitig als sehr stark zu kurzer Form -s neigend eingestuft werden.
Eine solch klare Grenzziehung ist bei zu ES-tendierenden Nomen auf den ersten Blick nicht möglich (vgl. Abbildung 2).
Abb. 2: Anteil der ES-Endung: Der Übergang von varianten zu (nahezu) invarianten Nomen bei Tendenz zu ES
2 Ähnliche Meinungen finden sich in Duden 4 (2009: 198) und – die Position der -s-Endung sogar noch weiter schwächend – bei Pfeffer/Morrison (1984: 17).
Das Gefälle zwischen den relativen Häufigkeiten verkleinert sich allmählich von Nomen auf s-Laut3 bis hin zu Nomen auf Affrikate (-pf), um dann zum Nomen mit einem tiefen Vokal (a-Laut) in letzter Silbe hin deutlich abzufallen. Das Sprechen von einer – selbst tendenziellen – Ausnahmslosigkeit wird schon bei Nomen auf -st problematisch (86,4% ES-Fälle)4 , sodass der Übergang zu den sog. schwachen Faktoren schon hier anzusetzen ist. Mit diesem Befund weitgehend konform wird in Duden 4 (2009: 197) festgestellt: „Die lange Endung -es überwiegt bei Substantiven auf -sch, -tsch, -st […], die kurze Endung ist aber standardsprachlich ebenfalls möglich […].“ Etwas abweichend wird in Duden 9 (2007: 370) den Nomen auf -sch und -st der feste Gebrauch von -es zugeschrieben, wobei aber Ausnahmen eingeräumt werden. Der etwas älteren, stark auf Generalisierung ausgerichteten Darstellung von Pfeffer/Morrison (1984: 17) zufolge stehen diese Nomen wiederum immer mit -es. Unseren Ergebnissen folgend müsste man spätestens bei Nomen auf -sch darauf verzichten, einen tendenziell ausnahmslos wirkenden Faktor zu postulieren. Dieser Einschätzung entsprechend warten in unserem Material beispielsweise folgende Nomen mit einem relativ niedrigem Anteil von ES-Token auf: Tausch – ca. 79%, Austausch – 50%, Schlagabtausch – 49%. Wie bei diesen Beispielen lässt die Tendenz zu ES vor allem bei Mehrsilbern bzw. komplexen Nomen nach. (hier eine MW und SD-Betrachtung ergänzen)
3Hier sind gemischt flektierende Lexeme wie Fels und Herz ausgeschlossen. Lässt man Formen wie Felsens und Herzens zu, greift bei Nomen auf s-Laut die Endung ES zu 97,3% (vgl. Lautliche, prosodische und morphologische Faktoren).
4Allerdings fallen bei Nomen auf st-Gruppe u. a. die Lexeme Protest, Test, Holocaust, Palast und Manifest stark ins Gewicht, die als Fremdwörter zu -s tendieren. Sie befanden sich nicht auf der verwendeten Fremdwortliste und konnten daher nicht im Voraus ausgeschlossen werden (vgl. Methodik und Lexikalische Faktoren). Im von diesen Lexemen (5.531 Token) nachträglich bereinigten Material (es verbleiben 68.800 Token auf -st in 4.585.236 Token ohne Sondergruppen gesamt) beträgt die relative Häufigkeit für ES bei Nomen auf -st 89,3% und die entsprechende odds ratio steigt auf 1,16 (vgl. mit Abbildung 3). Ähnliche Verschiebungen konnten bei anderen Faktoren nicht beobachtet werden.
Obige Modellierung der Grenzen zwischen starken und schwachen Faktoren wird durch die Zusammenstellung der einschlägigen logarithmierten Odds Ratios verdeutlicht. In Abbildung 3 sind Säulen für Nomengruppen, die die Übergänge markieren sollen, abgeblendet.
Abb. 3: Effektstärken bei den Übergängen von varianten zu invarianten Nomen – logarithmierte Odds Ratios
Nomen auf Diphthong und Nomen auf st-Gruppe befinden sich hier in den Bereichen der größten Wertegefälle. In Abbildung 1-4 beziehen sich die Werte für Nomen auf Vokal, Nomen auf Diphthong, Nomen auf s-Laut, Nomen auf st-Gruppe und Nomen auf sch-Laut wie in Abbildung 2 in Wirkung "starker" Faktoren im Vergleich auf das Material unter Ausschluss der Sondergruppen, der Wert für Sondergruppen auf alle Nomen mit Endung und die restlichen Werte auf das Material nach Abzug der Sondergruppen und der Nomen mit sog. starken Faktoren.
Ein Vergleich der mithilfe des Korrelationskoeffizienten Phi berechneten Effektstärken kann zur Modellierung der Übergänge von varianten zu invarianten Nomen wenig beitragen, denn die Reichweite eines Faktors ist von seiner relativen Häufigkeit (als dem Maß für die Tendenz zur Ausnahmslosigkeit) nicht direkt abhängig (vgl. Wirkung "starker" Faktoren im Vergleich). So ist der bei weitem nicht ausnahmslose ES-Faktor ‚Silbenanzahl: 1‘ wegen seiner Reichweite mit Phi = 0,38 ähnlich stark wie ‚Sondergruppen‘ mit Phi = 0,37 und Nomen auf s-Laut mit Phi = 0,40, die beide den starken (sprich tendenziell ausnahmslosen) Faktoren zugeordnet wurden, wogegen der fast ausnahmslos wirkende, aber selten einschlägige S-Faktor ‚Nomen auf -ich, -ing, -ig‘ mit Phi =0,03 auch unter den schwächsten der sog. schwachen Faktoren wie Vokallänge oder Genus nicht auffallen würde (vgl. Abbildung 3 in Wirkung "starker" Faktoren im Vergleich und Abbildung 2 in Wirkung "schwacher" Faktoren im Vergleich weiter oben). Wohl aber kann eine Betrachtung des Korrelationskoeffizienten Phi bei der Entscheidung helfen, welche Faktoren der Endungsvariation in Standardwerken primär zu behandeln sind bzw. wie detailliert man bei der Variationsbeschreibung vorgehen soll. Bei solchen Fragen rücken Faktoren in den Vordergrund, die – eine relativ große Durchschlagskraft, also eine hohe relative Frequenz für eine Endung vorausgesetzt – eine große Reichweite im Nomensystem aufweisen bzw. eine durch den Phi-Wert gespiegelte Signifikanz für die Genitivbildung besitzen. Als Orientierung könnte hier etwa der Phi-Wert 0,3 dienen, der in den Sozialwissenschaften vielfach bereits als die Schwelle zur mittelgroßen Effektstärke betrachtet wird. Abbildung 4 stellt alle um den Wert herum und darüber liegenden Nomengruppen dar, und zwar ohne Rücksicht auf die ursprünglich vorgenommene Arbeitsaufteilung in sog. schwache und starke Faktoren zusammen. Zusätzlich zeigt sie (abgeblendet) die angrenzenden Werte von drei weiteren Faktoren. Letztere erst einmal unbeachtet gelassen, reduziert sich auf diese Weise die Anzahl der mithilfe des Korrelationskoeffizienten Phi insgesamt untersuchten 29 Faktoren auf eine überschaubare Anzahl von acht. Nicht dabei sind einerseits etwa die in der Spezialliteratur immer wieder herangezogenen, aber hier von vornherein als schwach eingestuften Faktoren ‚Nomen auf Konsonantengruppe‘ (–> es) oder Komposition (–> s) und andererseits – aufgrund der relativ niedrigen Frequenz einschlägiger Nomen – etwa die bereits erwähnten, beinahe ausnahmslos wirkenden Faktoren Nomen auf Vokal oder Nomen auf -ich, -ing, -ig. Bei den einen schlägt die geringe Durchschlagskraft, bei den anderen die mangelnde Reichweite zu Buche.
Abb. 4: Reichweite und Effektstärke zentraler Faktoren – Korrelationskoeffizient Phi Pänultima korrigieren
Die acht Faktoren, die es in die Auswahl geschafft haben, sind heterogen: Neben der lexikalischen Einflussgröße ‚Sondergruppen‘ und der performanzbasierten Frequenz ‚HK < 8‘ finden sich hier eine Reihe von lautlichen bzw. prosodischen Faktoren. Auffällig ist, dass die binär modellierten Faktoren ‚Silbenanzahl: 1‘, ‚Vokalhöhe: tief‘, ‚Betonung: Ultima‘ und ‚Sonoritätshierarchie: P‘ eigentlich komplexeren Faktoren mit jeweils mehr als zwei Ausprägungen unterstehen – Silbenanzahl: 1, 2, 3 etc.; Vokalhöhe: tief, mittel, hoch; Betonung: letzte Silbe, vorletzte Silbe, drittletzte Silbe etc.; Sonoritätshierarchie: L, N, … A, P. Interessanterweise sind für Sonoritätshierarchie und Betonung die Pendants vom anderen Ende der Wirkungsskala gleich in der angrenzenden Dreiergruppe untergebracht. Zusätzlich korreliert mit bestimmten Ausprägungen der Betonung der stärkste der Faktoren aus Abbildung 4: ‚Nomen auf Schwa‘. Silbenanzahl, Betonung und Sonoritätshierarchie erscheinen hier als zentral. Vor allem die beiden ersten sind in der Spezialliteratur bereits als Einflussgrößen der Endungsvariation etabliert. An allen drei kommt man – will man die Endungsvariation in einem Standardwerk angemessen gewichtet beschreiben – kaum vorbei. Für eine entsprechende Darstellung der Endungsvariation könnte man sich gut ein Szenario vorstellen, in dem noch der lexikalische Faktor Sonderwortschatz hinzukommt, eventuell ergänzt um eine listenartige Darstellung einiger übrig gebliebener sog. starker Faktoren. Bei einer weniger detaillierten Beschreibung wäre dabei bereits die Behandlung der Übergangsfaktoren zum Bereich der freier variierenden Nomen – Nomen auf Diphthong und Nomen auf -st – an sich weglassbar. Ob bzw. inwiefern Frequenz und Vokalhöhe zu den zentralen Faktoren gehören, hängt davon ab, wie ihre Korrelationen mit anderen starken Faktoren wie Silbenanzahl oder Sonoritätshierarchie zu interpretieren sind. Dies versuchen die folgenden Kapitel zu klären.