Valenz
Seit Lucien Tesnière 1959 in seinem Buch "Éléments de syntaxe structurale" (hier als Open-Access-Publikation) den aus der Chemie stammenden Begriff “Valenz” auf sprachliche Phänomene anwendete, hat sich die Valenztheorie zu einem wichtigen grammatischen Konzept entwickelt. Eingang gefunden hat es in viele moderne Grammatikdarstellungen, aber im Besonderen in Grammatiken, Wörterbücher und Lehrbücher für Deutsch als Fremdsprache.
Als Verbvalenz bezeichnen wir die Fähigkeit aller Vollverben, je nach Bedeutung eine festgelegte Anzahl sprachlicher Ausdrücke zu fordern, um mit ihnen zusammen einen Sachverhalt auszudrücken. Der Einfluss des Verbs erstreckt sich nicht nur auf die Anzahl der geforderten Ausdrücke, sondern auch auf deren Form. Verben, die die Eigenschaft haben, Leerstellen zu eröffnen, nennt man in diesem Zusammenhang Valenzträger; die Ausdrücke, mit denen die Leerstellen gefüllt werden, sind die Komplemente.
Die Komplemente in den nachfolgenden Beispielen erscheinen farbig. Die verschiedenen Farben kennzeichnen die verschiedenen Komplemente.
Er belügt seine Mutter.
Der Mensch stammt vom Affen ab.
Herr von Ribbeck schenkte dem Jungen eine reife Birne.
Die Geschichte stimmte ihn traurig.
Sie glaubte, dass sie ihren Schlüssel auf der Kommode hatte liegen lassen.
Sie hatte ihm geholfen, die Hausarbeit zu schreiben.
In einem Satz gibt es aber außer dem Verb und den von ihm geforderten Komplementen noch weitere sprachliche Ausdrücke. Diese Ausdrücke haben die Funktion, den dargestellten Sachverhalt zu spezifizieren, zu kommentieren oder zu situieren. Sie kommen zusätzlich zu den notwendigen Bestandteilen hinzu und sind als Supplemente ebenso wie die Komplemente und der Verbalkomplex primäre Komponenten eines Satzes. In den nachfolgenden Beispielen sind die Supplemente farbig gekennzeichnet:
Er hat seine Mutter immer wieder belogen.
Der Mensch stammt in Wahrheit vom Affen ab.
Gestern hatte Herr von Ribbeck zum letzen Mal einem Jungen eine Birne geschenkt.
Sie glaubte irrtümlich, dass sie den Schlüssel auf der Kommode hatte liegen lassen.
Weil er sie darum gebeten hatte, hatte sie ihm geholfen, die Hausarbeit zu schreiben.
Selektionsforderungen
Die Auswahl der Komplemente geschieht sowohl auf der semantischen als auch auf der syntaktischen Ebene. Das ist der Grund, warum inzwischen von einem multidimensionalen Valenzkonzept gesprochen wird, denn die Auswahl bezieht sich auf die Anzahl der Ausdrücke, auf den Grad ihrer Weglassbarkeit (inwiefern sie im Satz erscheinen müssen oder können), auf ihre kategorielle Bedeutung (andere Bezeichnungen: kategorielle Bestimmung, sortale Eigenschaften), ihre semantische Rolle, ihre syntaktische Funktion und ihre morphosyntaktischen Merkmale (Kasus, feste Präposition usw.). Die Selektion steht im Zusammenhang mit der Bedeutung – bei mehreren Bedeutungen mit jeder einzelnen Bedeutung – des Valenzträgers.
Die folgenden Beispiele zeigen, wie unterschiedlich und auf welchen verschiedenen Ebenen sich die valenzgesteuerten Selektionsforderungen bemerkbar machen.
Nehmen wir an, man möchte den Sachverhalt ausdrücken, dass jemand irgendwelche Gegenstände auf einen Lastwagen bringt. Dafür stehen im Deutschen unter anderen diese zwei Verben zur Verfügung:
beladen
Bei diesen Verben sind drei Komplemente vorgesehen mit den folgenden semantischen Rollen:
- derjenige, der etwas auf ein Transportmittel bringt
- dasjenige, das auf ein Transportmittel gebracht wird
- dasjenige, worauf etwas gebracht wird (das Transportmittel)
Je nach gewähltem Verb haben die Ausdrücke für diese semantischen Rollen eine andere syntaktische Funktion:
laden | jemand lädt Gegenstände auf einen Lastwagen |
beladen | jemand belädt einen Lastwagen mit Gegenständen |
Die Verbauswahl steuert auch die Rektion. Der Ausdruck
ist grammatisch nicht korrekt, denn helfen verlangt ein Komplement im Dativ:
Dagegen würde ein Komplement im Dativ als Komplement zu unterstützen, einem Verb mit ähnlicher Bedeutung, zu einem ungrammatischen Satz führen:
Hier ist wiederum ein Komplement im Akkusativ richtig:
Auch ob ein Komplement gesetzt werden muss oder weggelassen werden kann, wird durch das Verb gesteuert. Wenn der Ausdruck
reduziert wird zu
dann ist der Satz grammatisch nicht korrekt, und es wird auf die Information, 'auf wen sich jemand verlässt', gewartet. Dagegen ist es möglich, den Satz
zu reduzieren auf
ohne dass der Satz dafür ungrammatisch wird.
Das Verb und seine Komplemente müssen außerdem semantisch kompatibel sein: Der Satz
ist zwar von der Anzahl der Komplemente, von deren syntaktischer Funktion und morphosyntaktischen Merkmalen her ein grammatisch korrekter Satz, allerdings ist dieser Satz semantisch auffällig, denn die kategoriale Bestimmung (sortale Eigenschaft) von Stein [konkretes Objekt] passt nicht zu der Bedeutung des Verbs, denn ermorden kann man in unserer Welt nur Menschen.
Diese Mannigfaltigkeit der Selektionsforderungen hat zu der anfangs erwähnten multidimensionalen Konzeption der Valenz geführt (vgl. z. B. Helbig 1992 und besonders Jacobs 1992; Zifonun et al. 1997.)