Besonderheiten im Gebrauch von Infinitivkonstruktionen und Nebensätzen

Infinitivkonstruktionen mit um...zu

(1) „Ich bin hier, um die Wahrheit zu sagen (dpa, 24.02.2009)
(2) Naipaul sieht mich jetzt mit weit aufgerissenen Augen an und sagt: "Das werde ich niemals tun. Ich kann das nicht. Aber, um die Wahrheit zu sagen, es interessiert mich auch nicht“ (Berliner Zeitung, 17.08.2022, S. 4)
Lesen Sie die Beispiele (1) und (2). Beide enthalten eine Infinitivkonstruktion mit um…zu. Diese Konstruktion hat herkömmlich eine finale Bedeutung, denn sie drückt den Zweck des Ereignisses im Hauptsatz aus – mehr dazu finden Sie hier. Ist das in beiden Beispielen auch so?

Die Infinitivkonstruktion mit um…zu hat nur im Beispiel (1) eine finale Bedeutung: „die Wahrheit sagen“ ist der Zweck von „hier sein“. In (2) hat die Infinitivkonstruktion keine finale Bedeutung: „die Wahrheit sagen“ ist nicht der Zweck von „es interessiert mich auch nicht“.

Im gesprochenen (und zum Teil auch im geschriebenen) Deutsch können Infinitivkonstruktionen mit um…zu auch erklärende Kommentare zur Sprechhandlung im Hauptsatz ausdrücken. Der Satz im Beispiel (2) könnte man so umschreiben: „Aber ich will dir die Wahrheit sagen: Es interessiert mich auch nicht“.
HINWEIS: Infinitivkonstruktionen mit um…zu wie im Beispiel (2) können am Anfang, in der Mitte sowie am Ende einer Äußerung stehen. Wenn sie wie im Beispiel (2) am Äußerungsanfang stehen, findet im Hauptsatz oft keine Verb-Subjekt-Inversion („Um die Wahrheit zu sagen, interessiert es mich nicht“) statt.

Nebensätze mit wo

(3) „… und [sie] sind dann irgendwo anders hingegangen, wo sie mehr Geld gekriegt haben (Datenbank für Gesprochenes Deutsch, FOLK_E_00004_SE_01_T_02/c373)
(4) „Weißt du, wo die Banane liegt?“ (Datenbank für Gesprochenes Deutsch, FOLK_E_00013_SE_01_T_01/c994)
(5) „Besserwisser heißt: Er gibt auch Kommentare, wo er gar nicht gefragt ist (Datenbank für Gesprochenes Deutsch, FOLK_E_00004_SE_01_T_01/c722)
(6) „Ich glaube, dass heute weniger Schüler Bücher lesen als damals, wo nicht jeder in seinem Zimmer seinen eigenen Fernseher hatte (Datenbank für Gesprochenes Deutsch, FOLK_E_00035_SE_01_T_01/c601)
(7) „Du musst halt irgendwas nehmen, wo du noch nichts hast (Datenbank für Gesprochenes Deutsch, FOLK_E_00358_SE_01_T_01/c580)
Die Beispiele (3) bis (7) enthalten Nebensätze mit dem Subjunktorwo. Dieser hat herkömmlich eine lokale Bedeutung, aber im gesprochenen Deutsch kann er weitere Bedeutungen haben. In welchen Beispielen hat wo eine lokale bzw. eine nicht-lokale Bedeutung?

Nur in den Beispielen (3) und (4) hat der Subjunktor wo eine lokale Bedeutung. In (3) leitet er einen Relativsatz ein, in (4) einen interrogativen Komplementsatz (W-Satz). In den Beispielen (5), (6), (7) hat er dagegen verschiedene nicht-lokale Bedeutungen.

Neben seiner herkömmlichen lokalen Bedeutung kann der Subjunktor wo im gesprochenen Deutsch auch eine konzessive, eine temporale sowie eine kausale Bedeutung haben.

Im Beispiel (5) ist der wo-Nebensatz durch einen Konzessivsatz (z.B. mit obwohl) ersetzbar: „Besserwisser heißt: Er gibt auch Kommentare, obwohl er gar nicht gefragt ist“.

Im Beispiel (6) ist der wo-Nebensatz durch einen Temporalsatz mit als ersetzbar: „Ich glaube, dass heute weniger Schüler Bücher lesen als damals, als nicht jeder in seinem Zimmer seinen eigenen Fernseher hatte“.

Im Beispiel (7) ist der wo-Nebensatz durch einen Kausalsatz (z.B. mit weil) ersetzbar: „Weil du noch nichts hast, musst du halt irgendwas nehmen“.

HINWEIS: In einigen süddeutschen Dialekten wird der Subjunktor wo auch als Relativpronomen verwendet – z.B. Der Mann, wo ich gesehen habe statt Der Mann, den ich gesehen habe. In der deutschen Standardsprache ist diese Verwendung von wo allerdings weder schriftlich noch mündlich akzeptabel – mehr dazu erfahren Sie hier.

Nebensätze mit wenn/falls

(8) Wenn ich darf, würd‘ ich auch gehen“ (Datenbank für Gesprochenes Deutsch, FOLK_E_00022_SE_01_T_02/ c366)
(9) [Fernsehmoderator spricht] „Wenn Sie Lust und Zeit haben, wir melden uns morgen früh um neun Uhr wieder hier aus dem Stuttgarter Rathaus live“ (Datenbank für Gesprochenes Deutsch, FOLK_E_00070_SE_01_T_12/c349)
(10) Falls jemand nicht damit einverstanden sein sollte, dann könnt ihr das jetzt sagen“ (Datenbank für Gesprochenes Deutsch, FOLK_E_00386_SE_01_T_01/c27)
(11) „Ich hab’ so ’n Sportprogramm für zu Hause. Das gibt’s kostenlos bei YouTube, falls es dich interessiert (Datenbank für Gesprochenes Deutsch, FOLK_E_00084_SE_01_T_01/c321)
Die Beispiele (8) bis (11) enthalten Nebensätze mit den Subjunktoren wenn und falls. Nebensätze mit wenn/falls sind vor allem als Konditionalsätze bekannt. Lesen Sie die Beispiele. Haben die Subjunktoren wenn bzw. falls in allen vier Fällen eine konditionale Bedeutung?

Nur in den Beispielen (8) und (10) haben die Subjunktoren wenn und falls eine konditionale Bedeutung.

Im Beispiel (8) hat wenn eine konditionale Bedeutung: „Ich darf ➙ Ich gehe/Ich darf nicht ➙ Ich gehe nicht“.

Im Beispiel (9) hat wenn keine konditionale Bedeutung. Das Fernsehprogramm wird unabhängig davon übertragen, ob die Zuschauer Lust und Zeit haben. Der Satz in (9) ist so zu verstehen: „Wir melden uns morgen früh um neun Uhr wieder hier aus dem Stuttgarter Rathaus live. Diese Information ist für Sie nur dann relevant, wenn Sie Lust und Zeit haben“.

Im Beispiel (10) hat falls eine konditionale Bedeutung: „Jemand ist nicht damit einverstanden ➙ Ihr könnt das jetzt sagen/Alle sind damit einverstanden ➙ Ihr sagt nichts“.

Im Beispiel (11) hat falls keine konditionale Bedeutung: Das Sportprogramm für zu Hause gibt es sowieso auf YouTube. Es ist egal, ob das den Hörer interessiert. Der Satz in (11) ist so zu verstehen: „Das Sportprogramm gibt es auf YouTube. Diese Information ist für dich nur dann relevant, wenn sie dich interessiert“.

Neben ihrer herkömmlichen konditionalen Bedeutung haben Nebensätze mit den Subjunktoren wenn und falls im gesprochenen Deutsch eine weitere Funktion. Sie können nämlich auch kommunizieren, unter welcher Bedingung die Information im Hauptsatz für den Hörer relevant ist. In solchen Fällen ist das Verb sowohl im Nebensatz als auch im Hauptsatz immer nur im Indikativ – in echten Konditionalgefügen kann es auch im Konjunktiv II sein.
HINWEIS: Wenn Konditionalsätze wie in den Beispielen (9) und (11) vor dem Hauptsatz stehen, dann findet im Hauptsatz in der Regel keine Verb-Subjekt-Inversion ("Wenn Sie Zeit und Lust haben, melden wir uns...") statt.

Kausalsätze mit wenn

(12) „Ja, und da wollt’ ich eigentlich hinfahren, aber wenn es so kalt ist, dann überleg’ ich mir ’s noch mal“ (Datenbank für Gesprochenes Deutsch, FOLK_E_00437_SE_01_T_03/c153)
(13) „Ich verspreche dir, noch auf deine Mail zu antworten. Ich glaub’, das hab’ ich auch noch nicht gemacht“ – „Ja. Kann sein“ – (…) „Okay, wenn du es nicht weißt, dann ist es wahrscheinlich nicht so relevant“ (Datenbank für Gesprochenes Deutsch, FOLK_E_00401_SE_01_T_02/c1354)
Die Beispiele (12) und (13) enthalten beide einen Nebensatz mit wenn. Sind es Konditionalsätze?

Nein. Weder in (12) noch in (13) hat der wenn-Nebensatz eine konditionale Bedeutung.

In (12) hat der wenn-Nebensatz keine konditionale Bedeutung. Es gilt nicht „Es ist so kalt ➙ Ich überlege es mir noch mal/Es ist nicht so kalt ➙ Ich überlege es mir nicht noch mal“. Stattdessen gilt „Ich habe gerade beschlossen, es mir noch mal zu überlegen. Der Grund für meinen Beschluss ist, dass es so kalt ist“.

Auch in (13) hat der wenn-Nebensatz keine konditionale Bedeutung. Es gilt nicht „Du weißt das nicht ➙ Es ist wahrscheinlich nicht so relevant/Du weißt das ➙ Es ist wahrscheinlich relevant“. Stattdessen gilt „Ich vermute, dass es nicht so relevant ist. Der Grund für meine Vermutung ist, dass du es nicht weißt“.

Im gesprochenen Deutsch können Nebensätze mit wenn auch eine kausale Bedeutung haben. Dabei liefern sie eine Begründung für die Sprechhandlung (Vermutung, Meinung, Einschätzung, Beschluss usw.) im Hauptsatz.

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Autor(en)
Giorgio Antonioli
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