Die Vorstellung hat bereits begonnen oder Die Vorstellung begann bereits? — Unterschiede beim Gebrauch von Präteritum und Präsensperfekt

Die Frage, ob hier hat begonnen (Präsensperfekt, auch: Perfekt) oder begann (Präteritum, auch: Imperfekt) angemessen sei, ist einfach zu beantworten: Es kommt ganz darauf an, was man zu sagen wünscht. Das klingt zunächst wenig hilfreich, doch es trifft einen wesentlichen Aspekt des Problems, das nicht darin besteht, diese Ausdrucksformen generell als mehr oder weniger gutes Deutsch zu bewerten, sondern vielmehr darin, die Verwendungsweisen beider Formen klar zu erfassen.

Eilige Leser gelangen hier zum Fazit.

Für beide Formen lassen sich Verwendungszusammenhänge finden, in denen sie eindeutig als korrekt und angemessen gelten können:

(a) Tut mir leid, aber ich kann Sie hier nicht mehr einlassen. Die Vorstellung hat bereits begonnen.
(b) Weil ein defekter Lastwagen den Eingang Friedrichstraße blockierte, bildete sich am Südeingang eine riesige Schlange. Die Vorstellung begann bereits, und noch immer hatten nicht alle Besucher Einlass gefunden.

Bemerkenswert ist, wie es sich auswirkt, wenn man die markierten Partien in diesen Textpassagen vertauscht:

(c) Tut mir leid, aber ich kann Sie hier nicht mehr einlassen. Die Vorstellung begann bereits.
(d) Weil ein defekter Lastwagen den Eingang Friedrichstraße blockierte, bildete sich am Südeingang eine riesige Schlange. Die Vorstellung hat bereits begonnen, und noch immer hatten nicht alle Besucher Einlass gefunden.

In beiden Fällen ergeben sich Sequenzen, die zwar nicht wirklich unverständlich, doch seltsam verquer sind:

  • Bei Sequenz (c) ist die Präteritumform unangemessen, weil das Präteritum den beschriebenen Sachverhalt als etwas erscheinen lässt, das ohne Bezug zum aktualen Geschehen in der Vergangenheit liegt.
  • Bei Sequenz (d) stört weniger das Präsensperfekt selbst als vielmehr die Fortführung des Berichts im Präteritumperfekt (hatten Einlass gefunden). Was dem markierten Satz vorangeht, könnte als Bericht oder Erzählung der Vorgeschichte verstanden werden, bevor der Sprecher zu einer Schilderung des aktualen Geschehens übergeht, doch dieses Verständnis wäre nur aufrechtzuerhalten, wenn der Folgesatz ebenfalls im Präsensperfekt gehalten wäre: und noch immer haben nicht alle Besucher Einlass gefunden. So, wie der Text formuliert ist, verstößt er jedoch gegen die Logik der Zeitenfolge (Consecutio Temporum).

Gleich mehrere Faktoren erschweren den rechten Gebrauch von Präteritum und Präsensperfekt und sorgen zugleich dafür, dass sich für den Betrachter kein homogenes Bild der Verwendungsweisen ergibt:

Nachvollziehbarkeit der Entscheidung

Beide Formen werden dazu benutzt, von Vergangenem zu reden, und es fällt manchmal schwer, in der Entscheidung für eine der Formen einen besonderen Sinn zu erkennen, insbesondere dann, wenn derselbe Sprecher, wie bei den folgenden Beispielen, bei gleichen Rahmenbedingungen — Ankündigung eines nachfolgenden Gesprächsausschnitts — mal Präteritum mal Präsensperfekt verwendet:

Marianne Bachmeier hat den Mörder ihres Kindes erschossen. Sie ist nach ihrer Haftzeit nach Italien gegangen und hat dort ein Buch geschrieben: Palermo, Amore Mio. Darin hat sie ihre Geschichte verarbeitet. (Stefan Siller, 1994 in SDR3 Leute)
Nach dem Krieg arbeitete Lamprecht in Berlin als Dachdecker und als Orthopädiemechaniker, eh er in einer Berliner Kneipe entdeckt wurde. (Stefan Siller, 1994 in SDR3 Leute)
Nach den beiden ersten Spielen der deutschen Fußballnationalmannschaft bekamen wir einen Termin bei Franz Beckenbauer in Chicago. Der Kaiser, bei der letzten Weltmeisterschaft als Trainer dabei, gab sich diesmal als Kollege mit eigener Fernsehsendung die Ehre. (Stefan Siller, 1994 in SDR3 Leute)
Und das ist ein Preis, den auch Leute-Gast Giorgio Moroder schon bekommen hat. Wie viele Songs er schon geschrieben oder produziert hat, das weiß nicht mal er selbst. (Stefan Siller, 1994 in SDR3 Leute)

Schwer nachvollziehbar ist oft auch der Wechsel der Form innerhalb einer Textpassage oder eines Gesprächsbeitrags:

Damals stand ich, und wie heute noch, unheimlich auf Jazzmusik, und da gab's in Berlin die Berliner Badewanne, den Jazzkeller, den berühmten, und da sauste ich nach Feierabend meist immer hin, und dort verkehrten viele Schauspieler, aber det war et für mich, det wusst ich gar nicht, ich hab dort die Ansage gemacht, hab mein' Boogie getanzt, und darüber äh entstand dann so'n so'n na ja so ne Bekanntschaft mit dem Gert Günther Hoffmann, einem der berühmten Berliner Schauspieler aus der Zeit. (>Günter Lamprecht, 1994 in SDR3 Leute)
Auch das hat natürlich nicht erst am 13. August 1961 begonnen. Das deutsche Elend begann mit dem terroristischen Naziregime und dem von ihm entfesselten schrecklichen Krieg. (Willy Brandt am 10.11.1989, Rede vor dem Rathaus Schöneberg, Berlin)
Ich war nicht in Hamburg, sondern lag mit der ortsüblichen Grippe im Bett – und habe die Zeit benutzt, mir noch einmal alles durch den Kopf gehen zu lassen. (Kurt Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 11248)
Das kommt vielleicht daher, daß ich gestern zum ersten Mal aus war und Pilsner getrunken habe. (Kurt Tucholsky, Werke, Briefe, Materialien, S. 11648)
Der Alte folgte der Leiche und die Söhne, Albert vermocht's nicht. Man fürchtete für Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet. (Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther, Hamburger Ausgabe Bd. 6, S. 124)

Darüber, was diese Sprecher und Schreiber dazu bewegt haben mag, die Tempusformen zu wechseln, kann man kluge Überlegungen anstellen. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass die Sprecher bzw. Schreiber an entsprechenden Punkten ihrer Erzählung, ihrer Rede oder ihres Berichts ungestellte Fragen ihrer Zuhörer oder Leser vermuteten und auf diese so eingehen, als ob sie ausgehend vom Hier und Jetzt gestellt worden wären:

Und was haben Sie dort gemacht? — Ich hab dort die Ansage gemacht, hab mein' Boogie getanzt.
Wann hat das eigentlich begonnen? — Auch das hat natürlich nicht erst am 13. August 1961 begonnen.

Einfach handhabbare Regeln für den Gebrauch von Präteritum und Präsensperfekt wird man mit solchen Erklärungsversuchen freilich nicht bestimmen können, denn dabei sind zu viele den Einzelfall betreffende Annahmen erforderlich.

Begrenzte Austauschbarkeit der Formen

Wie sich bereits bei der exemplarischen Betrachtung zur Titelfrage zeigte, sind Präteritum und Präsensperfekt keineswegs beliebig austauschbar. Tatsächlich wird mit beiden Formen das Ziel, von Vergangenem zu reden, auf verschiedene Weise erreicht, und dies bleibt nicht in allen Kontexten ohne Wirkung.

Mit dem Präteritum wird ein Zeitpunkt oder Zeitraum als so genannte Betrachtzeit gesetzt, zu dem bzw. der sich ereignete, was Gegenstand der Mitteilung ist. Diese Betrachtzeit liegt zwingend vor dem Zeitpunkt der Äußerung, der so genannten Sprechzeit und kann auch nicht durch zusätzliche Zeitbestimmungen an diese "angedockt" werden:

Während sich etwa jetzt und soeben bei Sätzen wie

Ich habe jetzt genug gesehen.
Du hast soeben das Spiel verloren.

als Zeitbestimmungen auf die Sprechzeit beziehen, sind dieselben Wörter in Verbindung mit Präteritumformen auf eine zuvor eingeführte, in der Vergangenheit liegende Betrachtzeit zu beziehen:

Endlich setzte sich der Riese in der Reihe vor mir. Ich sah jetzt genug.

[jetzt bezogen auf den Zeitpunkt, zu dem sich der Riese gesetzt hatte.]

Als ich dich ansah, wusste ich gleich: Du verlorst soeben das Spiel.

[soeben bezogen auf die Zeit, in der ich dich ansah.]

Weil mit dem Präteritum eine Betrachtzeit eingeführt wird, die sich weder an der Sprechzeit noch an einer anderen bereits eingeführten Betrachtzeit orientiert, scheinen Beschreibungen, die im Präteritum gehalten sind, gleichsam losgelöst vom aktualen Geschehen. Sie eignen sich deshalb bestens dazu, von Ereignissen und Zuständen zu berichten oder zu erzählen, die zur Sprechzeit nicht aktual als informativ und relevant zu gelten haben.

Beim Präsensperfekt unterbleibt die Setzung einer eigenen Betrachtzeit. Deshalb kommen Präsensperfektformen problemlos auch mit Betrachtzeiten zurecht, die mit der Sprechzeit zusammenfallen oder gar nach ihr ansetzen:

Aber jetzt haben sie ihren Teil der Abmachung nicht eingehalten. (die tageszeitung, 21.04.1988, S. 7)
Was passiert, wenn der Zähler gegangen ist? (die tageszeitung, 06.04.1987, S. 5)
Heute, Freitag, und morgen haben die Stände zwischen 10 und 19 Uhr geöffnet und laden zum Bummeln und Verweilen ein. (Vorarlberger Nachrichten, 24.11.2000, S. A6)

Zum Reden über Vergangenes eignet sich das Präsensperfekt erst indirekt. Mittels Präsensperfekt werden Ereignisse als etwas beschrieben, das vor der jeweils gegebenen Betrachtzeit liegt, eventuell an sie heranreicht, jedoch zu dieser nicht mehr zutrifft:

Aufgrund der mit ihnen verbundenen Vorzeitigkeit könnten Präsensperfektformen grundsätzlich immer dazu genutzt werden, über Vergangenes zu reden, doch die besondere Wirkung, die Präteritumformen zum Mittel der Wahl für Erzählungen und Berichte macht, lässt sich mit ihnen nicht erzielen.

Mündlicher und schriftlicher Gebrauch

In Erzählungen und Berichten herrscht, insbesondere in Schriftform, eindeutig das Präteritum vor, wenn sie Vergangenes zum Gegenstand haben. Hier nur einige wenige Beispiele, gefolgt von ein wenig exemplarischer Statistik:

Da war Zischen und Rollen, Hasten, Abschiednehmen und das singende Ausrufen der Zeitungs- und Erfrischungsverkäufe, und über allem glühten die großen elektrischen Monde im Nebel des Oktoberabends. Zwei rüstige Männer zogen einen Handkarren mit großem Gepäck den Zug entlang nach vorn zum Gepäckwagen. Ich erkannte wohl, an gewissen vertrauten Merkmalen, meinen eigenen Koffer. Da lag er, ein Stück unter vielen, und auf seinem Grunde ruhte das kostbare Konvolut. Nun, dachte ich, keine Besorgnis, es ist in guten Händen! (Thomas Mann: Das Eisenbahnunglück. In: Gesammelte Werke Bd. 8, 1960, S. 417)
Käuchi konnte von links einen Freistoss schiessen. Er sah, dass die Mauer schlecht stand, und erwischte Torhüter Lehmann mit einem Flachschuss. (St. Galler Tagblatt, 22.05.1999, Niederlage fällt zu hoch aus)
Der Elfjährige ging gerade spazieren, als er Flammen aus einem Haus schlagen sah und hörte, daß ein Kind in dem Gebäude sei. (Neue Kronen-Zeitung, 18.05.1994, Elfjähriger Bub rettete Zweijährigen vor Feuertod)
Die UNO sei die letzte Hoffnung für Somalia, erklärten soeben die afrikanischen Staaten auf ihrem Gipfel in Kairo. (Salzburger Nachrichten, 01.07.1993, Somalia, die UNO und das Elend der Welt)

Exemplarische Häufigkeiten

PräteritumFrequenzPartizip IIFrequenz
ging-7.499.698gegangen1.366.529
fand-4.145.590gefunden2.930.680
lag-3.060.605gelegen527.441
trat-1.667.324getreten307.192
sprach-2.361.584gesprochen1.136.398

Schon diese Zahlen — erhoben im Rahmen einer Recherche im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) (Stand Februar 2024) — legen nahe, dass in geschriebener Sprache Präteritumformen gegenüber Präsensperfektformen bevorzugt werden. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass die Partizip II Formen keineswegs immer als Elemente von Präsensperfektformen zu interpretieren sind.

Beim Reden hingegen setzen manche, des Standarddeutschen durchaus fähige Sprecher selbst dort das Präsensperfekt ein, wo sie beim Schreiben das Präteritum gewählt hätten. Ein geradezu klassisches Beispiel hierfür:

Und dann hat er bei mir festzustellen geglaubt, dass es mir an der nötigen Zuneigung zur Kreatur fehle, und hat mir zwei Stallhasa kaufa lassen, und dann isch er nach einiger Zeit wieder komma und hat — Soll e des vorlesa — Ja. — Eines Tages kam er auf den Gedanken, dass ich kein rechtes Verhältnis zu Tieren hätte und die Verantwortung für ein Tier übernehmen müsste. Gegen die Anschaffung eines Hundes wehrte ich mich nachhaltig und erfolgreich, und so kam ich in den Besitz von zwei Kaninchen, welche sich eifrig zu vermehren begannen, so dass ich, auch durch Zukauf, schließlich zwanzig Tiere besaß, die ich für fünf Mark je Stück verkaufte. Als dies mein Vater bei einer Durchreise nach Wiener Neustadt erfuhr, ärgerte er sich sehr, sagte, man habe in mir eine Viehhändlersnatur großgezogen und veranlasste die Veräußerung des gesamten Tierbestandes, wobei es mir freilich gelang, meine Mutter davon zu überzeugen, dass das Geld mir gehörte. (Manfred Rommel im Gespräch mit Martin Born, 2. September 1988, SWR4)

Ob und, wenn ja, in welchem Ausmaß das Präsensperfekt in mündlicher Rede häufiger auftritt als das Präteritum, lässt sich auf legale Weise schwerlich vollständig erfassen, denn die erforderliche Datenbasis könnte allenfalls mittels einer großangelegten Abhöraktion beschafft werden. Annäherungsweise liefert der Blick in ein Spezialkorpus mit Transkripten mündlicher Kommunikation (basierend auf Inhalten aus der Datenbank für Gesprochenes Deutsch) im Umfang von insgesamt ca. 10 Millionen Wortformen folgende Zahlen:

PräteritumFrequenzPartizip IIFrequenz
ging-2.560gegangen2.555
fand-1.923gefunden1.091
lag-477gelegen278
trat-55getreten40
sprach-513gesprochen3.316

Man erkennt hier, dass Präteritumsformen mündlich zumindest relativ seltener Verwendung finden als schriftlich, im Fall von sprach/sprachst/sprachen/spracht vs. gesprochen kehrt sich das Verhältnis sogar um. Das hat vermutlich gleich mehrere Ursachen:

  • Alltagskommunikation ist zu einem guten Teil Kommunikation über das, was hier und jetzt von Interesse ist. Insbesondere wird man Fragen wie Und was hast du dann gemacht? wesentlich häufiger zu hören bekommen als Fragen wie Und was machtest Du dann? Fragen im Präsensperfekt aber ziehen Antworten in derselben Form nach sich. Hinzu kommt, dass Fragen in mündlicher, dialogischer Kommunikation generell häufiger vorkommen als in überwiegend monologisch gestalteten Texten. So kamen etwa in den Textkorpora des Instituts für Deutsche Sprache — Archiv W1 im Februar 2024 — auf 5.025.063 Verwendungen der Präteritum- und Präsensperfektformen von gehen ganze 46.421 Verwendungen in Fragesätzen, also nicht einmal ein Prozent.
  • Von Vorträgen und sonstigen eher offiziellen Anlässen abgesehen herrschen in mündlicher Rede eher informelle Kontexte vor, in denen weniger darauf geachtet wird, "nach der Schrift" zu sprechen, d.h. normativen Ansprüchen zu genügen. Entsprechend kommen auch regionale Varietäten des Deutschen stärker zum Zug, in denen das Präteritum nicht die Rolle spielt, die ihm im Standarddeutschen zukommt. Das Beispiel des damaligen Stuttgarter Oberbürgermeisters Rommel, der bis heute auch bei öffentlichen Auftritten nicht versucht, seine Herkunft zu verbergen, demonstriert eindrucksvoll diese Tendenz.

Regionale und situationsbedingte Unterschiede

Seit Radio und Fernsehen standarddeutsche Normen bis ins letzte Dorf tragen, geht die Bedeutung der regionalen Varianten als Kommunikationsmedien stetig zurück, doch vor allem in Süddeutschland zeigen sich in vielen Bereichen noch deutliche Nachwirkungen der ursprünglich vorherrschenden oberdeutschen Dialekte, wohl weil diese weniger gründlich als die niederdeutschen Dialekte von der schriftgeprägten Standardsprache verdrängt wurden.

Die oberdeutschen Dialekte verfügen infolge des bereits Mitte des 16. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossenen sog. Präteritumschwunds über keine Präteritumformen. Das Präsensperfekt ist hier mithin konkurrenzlos, wenn es darum geht, von Vergangenem zu sprechen. Dies bleibt nicht ohne Auswirkung auf die Bedeutung der Präsensperfektform: Während sie standardsprachlich in erster Linie dazu dient, Ereignisse als abgeschlossen zu beschreiben, ist bei konkurrenzloser Verwendung des Präsensperfekts nicht immer davon auszugehen, dass die beschriebenen Handlungen, Vorgänge oder Zustände zur Betrachtzeit zum Abschluss gekommen waren. Dies wird deutlich, wenn man betrachtet, wie etwa — im Heilbronner Stadtdialekt — grad (standarddeutsch: gerade) in entsprechenden Kontexten zu interpretieren ist:

Des Schbiel had grad ågfanga. S'schdeht noch null null.
I bin grad mid'em Fahrrad underwägs gwä, wie's bletzlich saumäßig zum rägern ågfanga hat.

Im ersten Fall bedeutet grad soviel wie erst vor Kurzem, im zweiten Fall — ganz wie dies standarddeutsch bei Verwendung des Präteritums anzunehmen wäre — soviel wie zu der Zeit, zu der stattfand, was der Temporalsatz beschreibt.

Wer — wie auch der Schreiber dieser Zeilen und Millionen weitere Sprachteilhaber — in einem Umfeld aufgewachsen ist, in dem dialektgeprägtes Sprechen im Alltag die Regel war, neigt dazu, zumindest in informellen Kontexten eher Präsensperfekt- als Präteritumformen einzusetzen, auch wenn er im Übrigen bemüht ist, standardkonform zu sprechen. Unter sich verzichten Sprecher mit oberdeutscher Biografie ganz auf Präteritumformen und empfinden solche Formen sogar geradezu als gestelzt oder überkandidelt, wenn einer der ihren sie verwendet.

Viele Sprachteilhaber mit oberdeutschem Hintergrund haben den Gebrauch der Präteritumformen erst im Rahmen des Schulunterrichts erworben, fast so, wie man eine Fremdsprache erwirbt, und sie neigen deshalb vor allem bei spontanen Äußerungen oder unter Zeitdruck dazu, auch mal zum Präsensperfekt zu greifen, wo normative Grammatiken ein Präteritum für angemessen erklären. Man mag dergleichen "Ausreißer" belächeln, doch ebenso könnte man sie zum Anlass nehmen, die Berechtigung einer Norm in Frage zu stellen, die dem Sprachgefühl von Millionen Sprachteilhabern nicht entspricht. Immerhin handelt es sich beim Präteritum um Formen, die in Teilen des Landes schwinden konnten, ohne zu einer ernsthaften Bedrohung der Ausdruckfähigkeit der dortigen Sprachgemeinschaft zu werden.

Fazit

Betrachtet man den Gebrauch, den Sprecher und Schreiber des Deutschen von Präteritum und Präsensperfekt machen, ergibt sich kein klares Bild, doch lassen sich Regeln formulieren, deren Befolgung zu allgemein akzeptierten Verwendungen dieser Verbformen führt:

Will man von Vergangenem als Vergangenem erzählen oder berichten, sollte man das Präteritum wählen, denn dieses versetzt Hörer oder Leser virtuell in die Vergangenheit, die sie aus dieser Perspektive gleichsam wie einen Film betrachten können, losgelöst von den aktualen Handlungszusammenhängen, in denen sie stehen.

Kommt man im Zug seines Berichts oder seiner Erzählung auf etwas zu sprechen, dessen Auswirkungen bis zur Sprechzeit man eigens festhalten möchte, sollte man ins Präsensperfekt wechseln.

Als das Unwetter vorüber war, trennten sich unsere Wege. Wir haben uns seitdem nie mehr wiedergesehen.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Entscheidend ist hier nicht, ob das berichtete Ereignis Auswirkungen bis zur Sprechzeit hat, sondern, ob man diesen Umstand als Sprecher oder Schreiber eigens festhalten möchte, denn Auswirkungen bis zur Sprechzeit hat, von reiner Fiktion abgesehen, so gut wie alles, was sich in der Vergangenheit ereignet hat.

Soll etwas, das zur Sprechzeit zwar bereits abgeschlossen und mithin vergangen ist, gerade wegen seiner Auswirkungen noch zu diesem Zeitpunkt zur Sprache gebracht werden, ist das Präsensperfekt die Form der Wahl.
Hast du schon den neusten Film von Woody Allen gesehen? - Ja, den haben wir uns gestern Abend im Gloria angesehen.

Will man – ganz wie der oben zitierte, inzwischen ehemalige Stuttgarter Oberbürgermeister – in mündlicher Rede keinen Hehl von seiner Herkunft machen, sollte man sich – wiederum wie dieser – auch erkennbar dialektgefärbt ausdrücken.

Als Heilbronner könnte man etwa sagen:

Geschdern haw e grad da Rasa mäha wella, wie mr eigfalla isch, dass e dr Abberad ledschd Woch zum Rebariera brachd hab.

Jedoch besser nicht in vermeintlichem Standarddeutsch:

* Gestern habe ich gerade den Rasen mähen wollen, als mir eingefallen ist, dass ich den Apparat letzte Woche zum Reparieren gebracht habe.

Sondern dann etwa:

Gestern wollte ich gerade den Rasen mähen, als mir einfiel, dass ich den Apparat letzte Woche zum Reparieren gebracht habe.

Man sollte allerdings jederzeit damit rechnen, dass beileibe nicht alles, was man zu lesen oder zu hören bekommt, in Anwendung solcher Regeln zustande kam oder gekommen ist.

Einführendes und Weiterführendes

Eine einführende Beschreibung der Verwendung der Tempusformen gibt: Reden von dem, was war, was ist und was sein wird — Ereigniszeit, Sprechzeit, Betrachtzeit

Eine ausführliche Darstellung des Tempussystems findet sich in der Systematischen Grammatik: Das Tempus-System des Deutschen

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Autor(en)
Bruno Strecker
Bearbeiter
Roman Schneider
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