Komplemente und ihre Leitformen

Zwischen dem Verb als Valenzträger und den Komplementen bestehen Vorkommensbeschränkungen. Damit ein akzeptabler und sinnvoller Satz des Deutschen entsteht, müssen die Komplemente Bedingungen erfüllen, die vom Verb vorgegeben werden.

Auf der Grundlage der von den Verben ausgehenden formalen und semantischen Restriktionen kann man eine überschaubare Anzahl untereinander abgrenzbarer Komplemente ermitteln. Die formalen Restriktionen lassen jeweils mehrere verschiedene Realisierungsformen zu. Die allgemeinsten davon können als Ersatz für alle Vertreter eines Komplements dienen. Diese allgemeinen Orientierungsformen werden Leitformen genannt.

Als Leitformen kommen in Frage:

  • anaphorische Personalpronomina in spezifischen Kasus (er, sie, es; sie; ihn, etc.)
  • Präposition + Pronomen bzw. Präpositionaladverb (an ihn, daran, etc.)
  • bestimmte einfache Adverbien wie dann, dort, so und mit diesen gebildete Ausdrücke
  • oder komplexe Ausdrücke wie etwas zu tun.

Z. B. ist im folgenden Satz das Subjekt Dubiositäten durch die Leitform sie und das Präpositivkomplement in der Natur der Sache durch die Leitform darin ersetzbar:

Dubiositäten liegen also in der Natur der Sache. [Süddeutsche Zeitung, 31.05.2006]
Sie liegen in der Natur der Sache.
Sie liegen darin.

Mit Hilfe der Leitformen können insgesamt 8 Komplementklassen unterschieden werden:

Kernkomplemente (Kasuskomplemente + Präpositivkomplement)

Subjekt (Ksub) - Leitform: Anaphorisches Personalpronomen im Nominativ (er, es, sie; sie)
Thematisch verwandte Bezeichnung: Nominativergänzung

Der Mann hat bei der Katastrophe seine Familie verloren [...]. [die tageszeitung, 11.02.2005]
Er hat bei der Katastrophe seine Familie verloren.


Auch im Norwegischen ist das anaphorische Personalpronomen im Nominativ (han, hun, det, den; de) die Leitform für das Subjekt.

Mannen har mistet familien sin i katastrofen.
Han har mistet familien sin i katastrofen.


Akkusativkomplement (Kakk ) - Leitform: Anaphorisches Personalpronomen im Akkusativ (ihn, es, sie; sie)
Thematisch verwandte Bezeichnung: Akkusativobjekt, direktes Objekt, Akkusativergänzung

Ich suche den Portier. [Neue Kronen-Zeitung, 13.04.2000]
Ich suche ihn.


Auch das direkte Objekt im Norwegischen hat ein ein anaphorisches Personalpronomen im Akkusativ (ham, henne, det, den; dem) als Leitform.

Jeg leter etter portieren.
Jeg leter etter ham.


Dativkomplement (Kdat) - Leitform: Anaphorisches Personalpronomen im Dativ (ihm, ihr; ihnen)
Thematisch verwandte Bezeichnung: Dativobjekt, indirektes Objekt, Dativergänzung

Sag das mal den Menschen in Madrid. [die tageszeitung, 12.06.2004]
Sag das mal ihnen.


Im Norwegischen ist das indirekte Objekt strukturell über die Position im Satz definiert und setzt die Existenz eines direkten Objektes voraus (vgl. Komplementklassen). Anaphorische Pronomen kommen zwar grundsätzlich als Leitformen für beide Realisierungsformen – als Nominalphrase vor dem direkten Objekt, und als Präpositionalphrase nach dem direkten Objekt – in Frage, doch ist die die Verwendung anaphorischer Pronomen in einer Präpositionalphrase nach dem direkten Objekt nur eingeschränkt möglich, da hierdurch ggf. das allgemeine Prinzip der Informationsverteilung – bekannte Information vor neuer Information – verletzt wird. Dies gilt beispielsweise, wenn das direkte Objekt (z.B. als indefinite Nominalphrase) neue Information enthält. Umgekehrt ist auch die Realisierung des indirekten Objektes als Nominalphrase (anstelle einer Pronominalphrase) schlecht möglich, wenn das direkte Objekt als Pronominalphrase realisiert ist (und damit auf bekannte Information verweist), weil hierdurch ebenfalls das Prinzip "bekannte Information vor neuer Information" verletzt wird. Beispiele für nominale und pronominale Realisierungsformen des indirekten Objekts (die Markierung als grammatisch fragwürdig (?) bezieht sich auf die Aussprache mit unbetontem Pronomen):

Indirektes Objekt als Nominal-/PronominalphraseIndirektes Objekt als Präpositionalphrase
Hun ga ranerne pengene.
(indirektes und direktes Objekt als definite NP)
Hun ga pengene til ranerne.
(indirektes und direktes Objekt als definite NP)
Hun ga dem pengene.
(pronominales indirektes Objekt vor direktem Objekt als definite NP)
? Hun ga pengene til dem.
(pronominales indirektes Objekt nach direktem Objekt als definite NP)
? Hun ga en veldedig organisasjon pengene.
(indirektes Objekt als indefinite NP vor direktem Objekt als definite NP)
Hun ga pengene til en veldedig organisasjon.
(indirektes Objekt als indefinite NP nach direktem Objekt als definite NP)
Jeg ga henne en gave.
(pronominales indirektes Objekt vor direktem Objekt als indefinite NP)
? Jeg ga en gave til henne .
(pronominales indirektes Objekt nach direktem Objekt als indefinite NP)
Jeg ga henne den.
(pronominales indirektes Objekt vor pronominalem direktem Objekt)
Jeg ga den til henne .
(pronominales indirektes Objekt nach pronominalem direktem Objekt)


Genitivkomplement (Kgen) - Leitform: Pronomen im Genitiv (seiner, ihrer; ihrer - dessen, deren; derer)
Thematisch verwandte Bezeichnung: Genitivobjekt, Genitivergänzung

Zehntausende gedachten gestern der 1919 ermordeten Kommunistenführer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. [die tageszeitung, 10.01.2005]
Zehntausende gedachten gestern ihrer.


Da es keine direkte Entsprechung des Genitivkomplements im Norwegischen gibt (vgl. Komplementklassen), gibt es hier auch keine entsprechende Leitform.


Präpositivkomplement (Kprp) - Leitform: Präposition + Anaphorisches Personalpronomen/Präpositionaladverb (an sie, auf ihm ... / daran, darüber ... )
Thematisch verwandte Bezeichnung: Präpositionalobjekt, Präpositivergänzung

Ich denke oft an unsere Schiffsreise von Europa nach Hongkong. [Mannheimer Morgen, 12.11.2004]
Ich denke oft daran.


Wie im Deutschen ist die Leitform für das "preposisjonsobjekt" im Norwegischen eine Präposition + Personalpronomen (til henne, på ham). Es gibt jedoch keine Entsprechung der Präpositionaladverbien im Norwegischen.

Jeg tenker ofte på reisen vår fra Europa til Hongkong.
Jeg tenker ofte på den.


Adverbialkomplemente (Kadv)

Die Klasse der Adverbialkomplemente ist in semantische Subklassen aufgeteilt.
Wir unterscheiden dabei Adverbialkomplemente,

  • die die Richtung, das Ziel oder den Ausgangspunkt einer Bewegung oder einen durchquerten Raum angeben (Kadv: direktiv) - Leitform: dahin, dorthin, von dort, hindurch
    Thematisch verwandte Bezeichnungen: Richtungsbestimmung, Direktionalergänzung

    Sophie fährt nach Marseille [...]. [die tageszeitung, 23.09.2004]
    Sie fährt dorthin.

  • die einen Sachverhalt temporal oder lokal spezifizieren (Kadv: situativ) - Leitform: dort, dann
    Thematisch verwandte Bezeichnungen: Zeit-/Ortsbestimmung, Temporal-/Raumergänzung

    Er wohnt am Lausitzer Platz. [Berliner Zeitung, 03.05.2004]
    Er wohnt dort.

  • die eine messbare Größe angeben (Kadv: dilativ) - Leitform: (um) so viel, so weit, so lange u.a.
    Thematisch verwandte Bezeichnung: Expansivergänzung

    Die Fahrt dauert den ganzen Tag [...]. [Mannheimer Morgen, 14.08.2003]
    Die Fahrt dauert so lange.

  • die die Art und die Weise, wie sich ein Sachverhalt verhält angeben (Kadv: modal) - Leitform: irgendwie
    Thematisch verwandte Bezeichnung: Modalergänzung

    Die Genossen und Kollegen fasst sie hart an. [Berliner Zeitung, 20.12.2000]
    Die Genossen und Kollegen fasst sie irgendwie an.


Die Einteilung der semantischen Subklassen der "bundne adverbial", der norwegischen Entsprechung der Adverbialkomplemente, in der Norsk referansegrammatikk weicht etwas von der in der vorliegenden Grammatikdarstellung ab: Es werden dort die Klassen "steds-" tids-" und "måtesadverbial" aufgeführt. Die meisten der "steds-" und "tidsadverbial" entsprechen den Kadv: direktiv bzw. Kadv: situativ. Es gibt jedoch auch Überschneidungen mit Kadv: dilativ: Beispiele wie Foredraget varte i to timer, werden in der Norsk referansegrammatik unter den "tidsadverbial" aufgeführt, während sie hier als Kadv: dilativ angeführt werden. Die anaphorischen Leitformen sind jeweils ähnlich wie im Deutschen.

  • "Stedsadverbial", mit den Subtypen "direktiv" (Leitformen: hit und dit) und "lokativ" (Leitformen: her und der)

    Sophie reiser til Marseille.
    Hun reiser dit.
    Han bor på Carl Berners plass.
    Han bor der.

  • "Tidsadverbial" - Leitform: nå, da, så lenge

    Premieren er på fredag.
    Premieren er.
    Møtet varte i fire timer.
    Møtet varte så lenge.

  • "Måtesadverbial" - Leitform: slik, sånn

    Han oppfører seg på en ufordragelig måte.
    Han oppfører seg slik.

Prädikativkomplemente (Kprd)

Es ist schwierig, für alle Typen von Prädikativkomplementen eindeutige Leitformen zu bestimmen. Für einige der Prädikativkomplemente kommen folgende Leitformen in Frage: es, so, als solch-, dafür
Thematisch verwandte Bezeichnungen: Prädikativum, Gleichsetzungsnominativ - bei sein, bleiben, werden -, Prädikatsnomen, Nominativ-/Subsumptiv-/Artergänzung

Er nennt sie eine loyale amerikanische Staatsbürgerin. [Berliner Zeitung, 13.05.2003]
Er nennt sie so.
Ich hielt dich für einen Kellner.
Ich hielt dich dafür.


Auch für die festen Prädikative im Norwegischen ist die Identifizierung eindeutiger Leitformen problematisch. Mögliche Leitformen sind: det, slik, for det

De kaller henne en morder.
De kaller henne slik.
Jeg tok deg for en kelner.
Jeg tok deg for det.


Verbativkomplemente (Kvrb)

Verbativkomplemente sind ebenfalls schwierig durch Leitformen abzugrenzen. Mögliche Leitformen enthalten typischerweise allgemeine Verben wie tun oder geschehen: etw. zu tun, dass es so ist, dass es geschieht
Thematisch verwandte Bezeichnung: Verbativergänzung

Jetzt gilt es, die restlichen Grundstücke zu verkaufen. [Mannheimer Morgen, 29.12.2004]
Jetzt gilt es, etwas zu tun.


Mögliche Leitformen für Konstruktionen im Norwegischen, die den deutschen Verbativkomplementen entsprechen, sind: å gjøre noe/det

Nå gjelder det å selge de øvrige tomtene.
Nå gjelder det å gjøre det/noe.


Die einzelnen Komplementklassen können unterschiedliche Realisierungsformen besitzen.


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Autor(en)
Wiebke Ramm
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