Begründung unserer Wortarten-Klassifikation

In der Geschichte der Sprachwissenschaft hat es seit der Antike immer wieder Versuche einer Strukturierung der Wortschatzes einer Sprache nach Wortarten gegeben. Anzahl und Art der ermittelten Klassen differieren dabei erheblich, etwa von den zwei Hauptklassen bei der semantischen Klassifikation in der bei Plato und Aristoteles begründeten griechisch-römischen Tradition (referierend vs. prädizierend; Onoma und Rhema; entspricht grosso modo der Unterscheidung zwischen Nomen und Verb) bis zu den 51 syntaktisch begründeten Klassen fürs Deutsche bei Bergenholtz / Schaeder.

"Wir werden sagen können: in der Sprache (...) haben wir verschiedene Wortarten. Denn die Funktion des Wortes 'Platte' und des Wortes 'Würfel' sind einander ähnlicher als die von 'Platte' und von 'd'. Wie wir aber die Worte nach Arten zusammenfassen, wird vom Zweck der Einteilung abhängen, - und von unserer Neigung. Denke an die verschiedenen Gesichtspunkte, nach denen man Werkzeuge in Werkzeugarten einteilen kann. oder Schachfiguren in Figurenarten." (Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen)

Prinzipiell kann man den Wortschatz einer Sprache nach ganz verschiedenen Kriterien in Gruppen einteilen, etwa nach der Anzahl der Buchstaben, Silben oder Morpheme, in Wörter mit gleichem Wortstamm (sogenannten Wortfamilien) oder nach semantischen Feldern wie "Werkzeuge", "Fortbewegungsarten", "Sinneseindrücke" usw. Diese mögen in bestimmten Verwendungszusammenhängen durchaus Sinn haben, für die Grammatik sind aber nur grammatisch begründete Kategorien relevant, d.h. solche, auf die die - phonologischen, morphologischen und syntaktischen - Regeln der Grammatik Bezug nehmen. So kann man Klassen von Wörtern ermitteln, die z.B.

  • zusammen mit einem Artikel wie der, ein, dieser eine im Satz verschiebbare Einheit bilden: die Kuh, die Milch, ein Leben , aber nicht: die gehen, der rot, der aber, der auf, ein weil usw.
  • zusammen mit einer Nominalphrase, deren Kasus sie bestimmen, eine verschiebbare Einheit bilden: durch den Wald, an den Vater, über den Zaun, aber zum Beispiel nicht: durch rot, auf aber, an weil, weil den Wald, grün den Zaun, Wald den Zaun usw.
  • über eine Tempusparadigma verfügen: gehe, ging, bin gegangen, sehe, sah, werde sehen usw.

Die Merkmale, nach denen wir hier in unseren Beispielen Gruppen gebildet haben, sind morphologische und syntaktische. Beide spielen in den allermeisten traditionellen Klassifikationen eine wesentliche Rolle; sie schlagen sich auch in Bezeichnungen wie Ad-verb oder Prä-position nieder.

Etwas komplizierter steht es mit semantischen Einteilungskriterien. Zwar werden seit je her Wortarten auch nach ihren semantischen Eigenschaften gekennzeichnet oder sogar benannt (Das Substantiv hat seiner Wortwurzel nach etwas mit Substanz, das Nomen mit Namen zu tun), es ist aber fraglich, inwieweit semantische Merkmale für alle Wortarten a) distinktiv, b) grammatisch relevant und c) auf eine einheitliche Bedeutungstheorie zurückzuführen sind. In einer Traditionslinie etwa werden über ontologisch-semantische, auf die außersprachliche Wirklichkeit bezogene Kategorien wie "Gegenstand", "Eigenschaft", "Prozess", "Relation" die drei Wortarten Nomen (Substantiv), Adjektiv, Verb und eine Restkategorie, die z.B. Präpositionen und Junktoren enthält, differenziert. Aber bezeichnen Nomina wie Härte oder Schönheit im Unterschied zu hart und schön Gegenstände oder Eigenschaften, bezeichnet Explosion einen Gegenstand oder einen Prozess, bezeichnet das Verb in das beruht auf einem Irrtum, A ist mit B verbunden Prozess oder Relation, und was bezeichnen Ausdrücke wie doch, auch, ja, hm, gern, vielleicht, müssen, dürfen, ich, hier, jetzt ? Über relational-semantische Etikettierungen wie kausal, konzessiv, temporal lassen sich wiederum Mengen bilden, deren Elemente man schon auf intuitiver Basis nicht einundderselben Wortart zuweisen würde; zum Beispiel bezeichnen weil, sodass, denn, wegen, infolge, deshalb, nämlich, begründet sein in, Ursache sein für sämtlich eine Ursache-Folge Relation zwischen zwei Sachverhalten.

Im Rahmen einer kommunikativ-funktionalen Grammatik werden auch Wortarten funktional-semantisch bzw. funktional-pragmatisch werden, das heißt nach ihren kommunikativen Aufgaben und Zwecken im (Sprach-)Handlungszusammenhang. Zu beschreiben ist ihre jeweilige Leistung für elementare sprachliche Funktionen wie das Entwerfen von Gegenständen und Sachverhalten, deren Thematisierung oder thematische Fortführung, und zu beschreiben ist ihr jeweiliger Anteil am Aufbau von elementaren sprachlichen Funktionseinheiten wie, Proposition, Prädikat, Argument, Modifikation, Gradierung, sowie ihr Beitrag zur Organisation situationsgebundener Diskurse, beispielsweise beim Sprecherwechsel oder der Redekommentierung.

In welchem Verhältnis stehen aber nun die morphologischen, syntaktischen und funktional-semantischen Charakterisierungen zueinander? Prinzipiell sind natürlich homogene Klassifikationen denkbar, die sich nur eines Merkmals bedienen; das ist in der Literatur auch schon vorgeschlagen worden. Nach dem morphologischen Kriterium der Veränderbarkeit zerfallen Wörter in zwei Großklassen, wobei innerhalb der veränderlichen noch weiter nach den Flexionskategorien untergliedert werden kann. Wenn man dies nun für die fünf traditionell etablierten Kategorien versucht, sind z.B. Artikel und Nomen keine disjunkten Klassen, Pronomina zu heterogen für eine rein morphologisch begründete Klassenbildung.

Überdies fallen bei einer homogenen Klassifizierung Einheiten wie Milch, man, allerlei, bruchrechnen in eine Klasse mit doch, nun, ja, nicht, dass und zu , die wiederum zu groß ist, um irgendwie operabel zu sein. Die morphologische Charakterisierung muss also mindestens um eine syntaktische ergänzt werden. Diese bezieht sich auf

  • die Position von Wörtern in Ausbaueinheiten (ob eine Einheit überhaupt zu einer Phrase ausbaubar ist, mit welchen Einheiten sie sich zu einer komplexeren Einheit verbindet)
  • die Position in der linearen Satzstruktur (z.B. ob eine Einheit selbständig im Vorfeld stehen kann)
  • die syntagmatischen Beziehungen zu anderen Einheiten im Satz (z.B. ob eine Einheit eine andere Konstituente im Satz hinsichtlich einer Kategorie wie Numerus , Person oder Kasus regiert, oder darin mit ihr kongruiert, ob sie Valenz-Leerstellen für andere Konstituenten eröffnet)

Syntaktisch-distributionelle Eigenschaften werden vor allem bei der Klassenbildung der unflektierbaren Wortarten relevant. Ohne Charakterisierungen wie "bildet mit Artikel zusammen eine Nominalphrase", "hat ein inhärentes Genus", "regiert ein Nomen im Nominativ", "bildet eine Verbalphrase" könnten aber auch Einheiten wie Milch oder bruchrechnen nicht den Klassen Nomen respektive Verb zugeordnet werden.

Und schließlich kommen - vor allem bei der Feindifferenzierung in Subklassen - auch funktional-semantische Kriterien zum Tragen: so kann etwa über das semantische Merkmal "kann selbständig als Argument fungieren" man der Intuition entsprechend den Pronomina zugeordnet werden, obwohl es - anders als das Gros der Pronomina - nicht flektiert. Oder die Artikel der, ein, dieser, jener können nach der Art des Verweises, den ein Sprecher mit ihnen in einer sprachlichen Handlung tätigt, in die Subklassen definiter Artikel, indefiniter Artikel, Demonstrativ-Artikel eingeteilt werden.

Für unsere Wortarten-Einteilung machen wir uns alle die genannten Kriterien zu Nutze und treffen eine Bestimmung jeweils auf der Basis eines Merkmal-Bündels aus funktional-semantischen, morphologischen und syntaktischen Eigenschaften. Diese Merkmale sind nun allerdings nicht als gleichberechtigte zu verstehen, sondern im Sinne einer Merkmalshierarchie: für die Einteilung gehen morphologische vor syntaktisch-distributionellen vor semantischen Kriterien, die teilweise überhaupt nur für die Differenzierung in feinere Subklassen eine Rolle spielen.

Auf diese Weise ermittelten wir die neun distinktiven Klassen Nomen, Pronomen, Artikel, Adjektiv, Verb, Präposition, Adverb, Partikel und Junktor, die ihrerseits wieder in feiner gerasterte Unterklassen zerfallen. Die neun Großklassen sind terminologisch und dem Gegenstand nach weitgehend mit traditionellen Wortarten identisch, dagegen findet sich bei den Subklassen manches Neue.

Bei der von uns zugrundegelegten Merkmalshierarchie mit morphologischem und syntaktischem Primat lassen sich manche traditionellen Klassen wie "Interrogativpronomen", "Relativpronomen", "Konjunktion" nicht sauber als Wortarten klassifizieren. Solche Klassen enthalten - bei einer funktionalen Einheitlichkeit - formal recht unterschiedliche Elemente, die im Rahmen unserer Wortarteinteilung auch verschiedenen Wortarten angehören. Um diese unter funktionalem Gesichtspunkt (und z.B. auch für Sprachvergleich oder Typologie) wichtigen Klassen dennoch adäquat beschreiben zu können, fassen wir sie als zu den Wortarten querliegende Klassenbildungen gesondert von diesen zusammen: es sind die Klassen der Konnektoren, Interrogativ-Elemente, Relativ-Elemente und der interaktiven Einheiten.

Weiterführende Literatur zur Wortartenklassifikation

Eisenberg 1998, Bergenholtz / Schaeder 1977, Cherubim 1976, Helbig 1977, Kaltz 1983, Schaeder / Knobloch 1992, Ivo/Schlieben-Lange 1990, Vogel 1996, Ossner 1989, Busse 1997.

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