Wozu Wortstellung?
Wer Latein gelernt hat, wird sich an den schultypischen Satz agricola gallinas numerat erinnern, der mit Der Bauer zählt die Hühner zu übersetzten ist. Dabei wird darüber hinweggesehen, dass es im Original heißt Der Bauer die Hühner zählt. Man weiß ja, dass die Wortstellung im Lateinischen wegen des großen Formenreichtums relativ frei ist: Man kann im Lateinischen auch sagen agricola numerat gallinas oder numerat gallinas agricola oder numerat agricola gallinas oder gallinas agricola numerat oder gallinas numerat agricola. Die Übertragung all dieser Sätze ins Deutsche zeitigt dagegen unterschiedlich akzeptable Ergebnisse.
Der Bauer zählt die Hühner.
Zählt die Hühner der Bauer.
Zählt der Bauer die Hühner.
Die Hühner der Bauer zählt.
Die Hühner zählt der Bauer.
Ohne Probleme akzeptabel ist Der Bauer zählt die Hühner als Aussagesatz und Zählt der Bauer die Hühner? als Fragesatz. Im Deutschen ist also offenbar die Wortstellung für die Bildung von Satztypen mitverantwortlich. Bei Die Hühner zählt der Bauer muss man sich einen bestimmten Kontext und eine spezifische Akzentuierung denken, etwa einen Vorsatz wie Die Bäuerin zählt die Gänse, dem dann kontrastiv der nachfolgende Satz gegenübergestellt wird: Die Hühner zählt der Bauer. Mit einer vergleichbaren Kontextualisierung kann man Zählt der Bauer die Hühner? hinkriegen. Allerdings sind die Sätze Der Bauer die Hühner zählt und Die Hühner der Bauer zählt als Hauptsätze problematisch, denn sie verstoßen gegen die Bauprinzipien deutscher Hauptsätze. Möglich sind diese Abfolgen aber als Nebensätze mit einem entsprechenden Einleitewort, etwa weil der Bauer die Hühner zählt.
Die Stellung des Verbalkomplexes ist im Deutschen also nicht generell festgelegt wie im Japanischen auf die Endstellung. Sie ist aber für den jeweiligen Satztyp bindend festgelegt. Variabler ist die Wortstellung bei den nicht-verbalen Teilen des Satzes.
Nehmen wir an, man hätte die Aufgabe, aus den folgenden vermischten Wörtern einen sinnvollen Satz zu bilden.
entwickelt | am | Jahren | für | GRAMMIS | vor |
Mannheimer | Deutsche | wurde | Sprache | Institut | einigen |
Für diese zwölf Wörter gibt es 479001600 Möglichkeiten der Wortstellung, aber nur ganz wenige davon ergeben einen syntaktisch korrekten, sinnvollen Satz. In jedem Fall muss man sich zunächst für einen Satztyp und damit für die Stellung des finiten Verbteils entscheiden.
Satztyp: Aussagesatz
Finites Verb | Infiniter Verbteil | |||
Vor einigen Jahren | wurde | am Institut für Deutsche Sprache GRAMMIS | entwickelt |
Satztyp: Entscheidungsfragesatz
Finites Verb | Infiniter Verbteil | ||
Wurde | vor einigen Jahren am Institut für Deutsche Sprache GRAMMIS | entwickelt? |
Die Abfolge Entwickelt wurde GRAMMIS vor einigen Jahren am Institut für Deutsche Sprache ist zwar ebenso auf Anhieb verständlich, signalisiert aber, dass es einen Vortext geben muss, in dem schon über GRAMMIS gesprochen wurde. Entweder wurde allgemein etwas über GRAMMIS gesagt und diese Abfolge ergänzt in einem thematischen Anschluss Informationen über die Entwickler. Oder im Vortext wird zum Beispiel etwas darüber gesagt, dass GRAMMIS von einer Organisation, etwa einem Deutschlehrerverband, so und so bewertet wurde. Dann signalisiert die Voranstellung des infiniten Verbteils eine kontrastierende Hervorhebung. Die ungewöhnliche Besetzung des Satzabschnitts vor dem finiten Verb (wurde) passt den Satz in den größeren Kontext ein, macht ihn textfähig.
Man kann durch Wortstellungsvariation besonders zwischen den Verbalklammerteilen, dem Mittelfeld, auch Gewichtungen der einzelnen Informationen vornehmen und damit bestimmte kommunikative Zwecke verfolgen.
Wichtigste Information | |
Vor einigen Jahren wurde am Institut für Deutsche Sprache GRAMMIS entwickelt. | Projekt |
Vor einigen Jahren wurde GRAMMIS am Institut für Deutsche Sprache
entwickelt. | Institution |
Am Institut für Deutsche Sprache wurde GRAMMIS vor einigen Jahren entwickelt. | Zeitraum |
Der stellungsbezogene Gewichtungseffekt wird durch die zweigliedrige kommunikative Grundstruktur deutscher Sätze bewirkt, die die weniger wichtigen - meist bekannten - Informationen dem Hintergrund und die wichtigeren - meist neuen - Informationen dem Vordergrund zuordnet.
Die syntaktisch begründeten strukturellen Abfolgeregeln und die kommunikative Gewichtung, die Informationsstruktur sind die beiden Domänen der Wortstellung, die hier schwerpunktmäßig behandelt werden.
Man erkennt bei den letzten Stellungsvarianten, dass nicht alle Wörter umgestellt werden. Einige Wörter sind offensichtlich so eng miteinander verbunden, dass sie nur zusammen umgestellt werden können. Diese Wortgruppen sind Satzglieder, die hier primäre Komponenten genannt werden. Die zwölf Wörter oben gliedern sich so in vier Komponenten.
1 | 2 | 3 | 4 |
am Institut für Deutsche Sprache | vor einigen Jahren | GRAMMIS | wurde entwickelt |
Die Abfolge der Komponenten auf der Satzebene ist relativ variabel. Aber es gibt auch auf der Satzebene Grenzen. Die folgenden Abfolgen gehören nicht zu den syntaktisch möglichen Strukturen deutscher Sätze. Hier werden die Stellungsregeln für die Satztypen verletzt; die Art der Vorfeldbesetzung ist nicht zulässig.
* GRAMMIS vor einigen Jahren wurde am Institut für Deutsche Sprache entwickelt.
Aber nicht nur andere Gewichtungen können durch Worstellungsvariation entstehen, sondern auch andere Satzbedeutungen. Im einen Beispiel hat der Kandidat schon mehrfach und auch dieses Mal erfolglos versucht, Kanzler zu werden. Im anderen Beispiel hat der Kanzler die Wiederwahl nicht geschafft.
Er ist nicht wieder zum Kanzler gewählt worden.
Fazit
Es zeigen sich vier Funktionen der Wortstellung, die jeweils im Einzelnen beschrieben werden für das linke Außenfeld, das Vorfeld, das Mittelfeld und das Nachfeld.
- Die Wortstellung ist an der Bildung von Satztypen beteiligt.
- Sie ist an der Entstehung und Veränderung von Satzbedeutungen beteiligt.
- Sie ermöglicht kommunikative Gewichtungen innerhalb eines Satzes.
- Sie kann einen Satz in den umgebenden Kontext einpassen.