Flexion der Hilfsverben

Die zur Subklasse der Hilfsverben (frz. auxiliaires) gehörenden Verben sein, haben und werden bilden keine gemeinsame Flexionsklasse. Aufgrund ihrer irregulären, von Suppletivformen geprägten Flexion werden sie traditionell getrennt von den anderen verbalen Flexionsklassen beschrieben. Sie können im Deutschen als Hilfs-, Kopula- und Vollverben verwendet werden. Als Hilfsverben bilden sie zusammen mit einer infiniten Form eines Vollverbs (Infinitiv, Partizip II) die zusammengesetzten Tempus- und Genus-verbi-Formen des jeweiligen Vollverbs.

Stammformen der Hilfsverben

Im Flexionsparadigma von sein gibt es besonders viele Suppletivformen:

sein
Präsens(stamm)formenPräteritalstammformenPartizipialstammform
Indikativbin/bist/ist//sind/seidprimärwar-wes-
Konjunktivsei-sekundärwär-

Sprachgeschichtlich lassen sich jeweils die Formen, die mit b- (bin/bist) und die Formen, die mit s- bzw. is- (ist, sind, seid, sei-) gebildet werden, zwei verschiedenen Stammformen zuordnen. Die Präterital- und Partizipialstammformen war-/wär- bzw. wes- stammen von einem anderen Verb mit ähnlicher Bedeutung (das heute u.a. in verwesen, währen oder als Substantivierung das Wesen weiterlebt). Im heutigen Deutsch können die drei Singular- (bin/bist/ist) und die beiden Plural-Personalformen im Präsens Indikativ (sind/seid) jeweils als Suppletivformen betrachtet werden, da sie nicht regelmäßig bildbar sind. Daneben gibt es noch die drei weiteren durch Suppletion gebildeten Stammformen, die Konjunktiv-Präsens- (sei-), Präterital- (primär/sekundär: war-/wär-) und Partizipialstammform (wes-).

Vergleichbare Suppletivformen finden sich im Französischen bei dem entsprechenden Kopulaverb être, sowie beim Verb aller (dt. gehen) und in eingeschränkter Form beim Verb/Hilfsverb avoir (haben). Bei jedem Verb liegen die Dinge ein wenig anders.

Die Kopula être weist drei Stammvarianten auf:

s- (Vokal)-(r)-
êt-/ét- [phonetische Varianten]
fu-

Diese treten innerhalb des Indikativ Präsens sogar gemischt auf, was ja analog beim deutschen Verb sein auch festzustellen ist: ich bin, du bist, er ist, wir sind, ihr seid, sie sind:

Alle drei Stammvarianten sind bereits beim lateinischen Vorläufer dieses Verbs, bei der Kopula esse, vertreten:

s- (Vokal)
er-/es-
fu-

und müssen etymologisch von dort aus identifiziert werden.

haben weist ein Stammformenparadigma auf, das dem starker/gemischter Verben gleicht. Die Präsensstammform (hab-) besitzt eine Variante für die Nicht-Sprecher-Formen (2./3. Ps.) im Singular (ha-), die aber – anders als bei starken Verben – nicht durch einen Vokalwechsel, sondern suppletiv gebildet wird. Die Präteritalstammformen haben - ähnlich wie bei gemischten Verben - ein Dentalsuffix und eine primäre (hatte-) und sekundäre Variante (hätte-). Die Partizipialstammform ist regelmäßig (schwach) und leitet sich aus der Präsensstammform ab (gehabt). Die Suppletivformen von haben gehen auf einen phonologischen Wandel zurück (Kontraktion durch Wegfall von intervokalischem -b-), von dem nur bestimmte Formen im Flexionsparadigma betroffen waren.

haben
PräsensstammformenPräteritalstammformenPartizipialstammform
hab-primärhatte-hab-
2./3.Ps.Sg.ha-sekundärhätte-

Das Stammformensystem bei werden ist mit dem der starken Verben mit e/i-Wechsel vergleichbar, die Nicht-Sprecher-Formen (2./3. Ps.) im Präsens Singular werden jedoch suppletiv gebildet (wirst, wird). Der Imperativ wird aus der primären Präsensstammform und nicht wie bei anderen Verben mit e/i-Wechsel aus der sekundären Präsensstammform gebildet (Imperativ: werde, nicht wird). Weitere Besonderheiten von werden betreffen nicht die Stammformen, sondern die Affigierung:

  • Das -e am Ende der Nicht-Adressaten-Formen ist eine Art Stammerweiterung, die sich historisch belegen lässt ("paragogisches -e": wurde) (siehe dazu: Weinhold: Kleine mittelhochdeutsche Grammatik, 1939, 8. § 151, S. 96-97). Die Flexion folgt dem normalen Schema mit Nullmorphem als Personalmarker der Nicht-Adressaten.
  • Das Partizip II wird bei werden als Hilfsverb nur mit dem Suffix -en gebildet (worden) und nicht wie bei starken Vollverben mit dem Zirkumfix ge-...-(e)n. Das Partizip II von werden als Voll- und Kopulaverb lautet geworden.
werden
PräsensstammformenPräteritalstammformenPartizipialstammform
werd-primärwurd-word-
2./3.Ps.Sg.wirst/wirdsekundärwürd-

Die Stammformen von werden weisen einen Ablaut wie bei starken Verben auf (werden - wurde - geworden). Die Nicht-Adressaten-Formen haben ein Suffix -e, so als sei das eine Analogiebildung zu schwachen Verben. Es handelt sich dabei um ein Relikt aus frühneuhochdeutscher Zeit, in der bei mehreren Verben solche Endungen angehängt wurden (paragogisches "e"). Bis auf die Präteritalform wurde wurden entsprechende Formen in der weiteren Sprachentwicklung jedoch wieder aufgegeben. Die ablautende Form wurde ist auch Resultat eines zur Zeit des Mittelhochdeutschen begonnenen Ausgleichs zwischen unterschiedlichen Präteritalstammformen für das Singular- (ward-) und das Plural-Teilparadigma (wurd-). Im Falle von werden hat der Ausgleich zugunsten der Pluralstammform wurd- stattgefunden, die auf die Singularformen übertragen wurde. Die konkurrierende Singularstammform ward- findet sich noch in der Literatur, z. B. bei Goethe oder Thomas Mann:

Ich ward zu meiner Zeit bei einem guten, alten, schwachen Geistlichen, der aber seit vielen Jahren der Beichtvater des Hauses gewesen, in den Religionsunterricht gegeben. [Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit [I-III], (Geschr. 1809-1813)]

[...] die Morgenfrische verschwand von ihrem Gesicht, sie ward ein wenig bleich, sie dankte für Honig und erklärte bald mit leiser Stimme, daß sie fertig sei. [T. Mann: Buddenbrooks, [Roman], (1. Buchausg. 1901)]

Bildung der Flexionsformen

Die Flexionsparadigmen von sein, haben und werden als Hilfsverben weisen Unterschiede zum Gebrauch als Voll- bzw. Kopulaverben auf. Bei haben/sein werden im Gebrauch als Hilfsverben standardsprachlich nur einfache finite Flexionsformen, nicht aber analytisch gebildete Formen verwendet. Bei werden muss weiter differenziert werden: Das Hilfsverb werden dient sowohl zur Bildung der analytisch gebildeten Tempusformen des Futurs/Futurperfekts und der konjunktivischen würde-Form, als auch zur Bildung des werden-Passivs. Zur Unterscheidung der beiden Hilfsverbverwendungen wird erstere als werden I bezeichnet, letztere (zur Bildung des Passivs) als werden II .

werden I: Er wird/werde/würde rufen.

werden II: Er wird gerufen.

Bei werden I kommen nur die finiten Präsensformen im Indikativ/Konjunktiv und die Konjunktiv-Präteritum-Form (würde) vor. Werden II verwendet hingegen das gesamte Flexionsparadigma und analytisch gebildete Formen (z. B. Er wurde gerufen.; Er ist gerufen worden.).

Das Partizip II von werden II lautet worden. In Voll- bzw. Kopulaverbverwendung wird das Partizip II hingegen wie bei starken Verben mit ge-...-en gebildet, z. B.:

Er ist Vater geworden.

aber: Er ist gerufen worden. (Vermeidung der doppelten Präfigierung durch ge-)

In Hilfsverbverwendung werden die Verben nicht in den Imperativ gesetzt, wohl aber als Voll- bzw. Kopulaverben:

Sei pünktlich! Habe Mut! Werde endlich ein Mann!

aber: *Sei um fünf Uhr gekommen! *Habe das Buch auf den Tisch gelegt! *Werde nach Frankfurt kommen! ?Werde von niemandem belogen!

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