Flexion der Modalverben
Sechs Modalverben (dürfen, können, mögen, müssen, sollen, wollen) und das Vollverb wissen bilden eine gemeinsame Flexionsklasse. Diese weist im Singular Präsens den gleichen Synkretismus auf, den alle anderen Flexionsklassen nur in den übrigen Teilparadigmen besitzen: Die Personalkategorien 1. und 3. Person sind bei den Modalverben und bei wissen im Präsens Singular formal nicht ausdifferenziert. Die Formen der 1. und 3. Person fallen bei diesen Verben in allen Teilparadigmen zusammen, es werden grundsätzlich nur Adressat (2. Ps.) und Nicht-Adressat (1./3. Ps.) flexionsmorphologisch unterschieden, z. B.: du kannst - ich/sie kann ; du weißt - ich/er weiß. Die Vertreter dieser kleinen Flexionsklasse flektieren nach dem Muster der sog. Präteritopräsentia, deren Synkretismus im Präsens auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass es sich dabei ursprünglich um Präteritalformen handelte.
Die Modalverben (mit Ausnahme von wollen) und das Verb wissen werden als Präteritopräsentia bezeichnet. Ihre heutigen Präsensformen sind aus indoeuropäischen Perfektformen starker Verben entstanden. Formal gleichen sie den Präteritalformen starker Verben, besitzen aber eine präsentische Bedeutung. Zum Ausdruck der Vergangenheit mussten daher neue Formen nach dem produktiven Muster der schwachen Verben mit dem Präteritalsuffix -te- gebildet werden (z. B. durfte-). Das Verb wollen ist kein Präteritopräsens, hat sich aber aufgrund seines modalen Charakters dem als Flexionsklassenmerkmal für Modalverben erkennbaren Flexionsmuster der Präteritopräsentia angepasst.
Innerhalb des Ensembles "Modalverben +
kennen + wissen" sind zwei Gruppen zu
unterscheiden, deren Elemente jeweils eine Art psychischen Faktor gemeinsam
haben. Dieser gemeinsame Faktor ist der eigentliche Schlüssel der
Modalität.
Der gemeinsame Faktor der einen Gruppe ist der
Wille. Wollen, mögen, dürfen, sollen,
müssen verweisen entweder auf den Willen des Subjekts
(wollen, mögen) oder auf den Willen eines Dritten bzw.
auf eine Fremdbestimmung (dürfen, sollen, müssen),
von dessen/deren Wirken jeweils die Realisierung der Verbalhandlung
abhängt: Ich verreise nicht einfach, sondern
will, soll, muss, darf verreisen. Das Französische
überzeugt auch den letzten Zweifler: Soll ich das Fenster
öffnen ergibt dort Voulez-vous que j'ouvre
la fenêtre und fokussiert damit klar den Willen eines
Dritten.
Der gemeinsame Faktor der anderen Gruppe ist die
Fähigkeit, das Lernen, Aneignen, Meistern, Besitzen: Man
kennt, kann, weiß etwas. Vor allem
kennen und können wirken lautlich und
semantisch wie Geschwister. Dabei erscheint kennen als
Voraussetzung zu können und natürlich auch zu
wissen, das dem pragmatischen können
eine geistige Dominanz gegenüberstellt: Man kann bzw.
weiß etwas, wenn man es gut genug kennt,
also lange genug gelernt hat. Die Zweitbedeutung von
können, die auf den Faktor Möglichkeit
gründet und das Erlaubt-Sein einschließt, lässt sich insofern
auf "Fähigkeit" zurückführen, als sie diese voraussetzt: Nur das
durch Fähigkeit Gesicherte ist auch möglich
(Machbarkeit).
In mehreren modernen Sprachen ist diese Fluktuation
zwischen kennen, können und
wisseneinerseits und zwischen Fähigkeit und
Möglichkeit/Erlaubnis andererseits deutlich zu beobachten: Im englischen
to know vermischen sich kennen (I know him very
well) und wissen (I don't know), bis hin zum
Können (know-how). Der Konkurrent can
deckt Fähigkeit und Möglichkeit ab. Das Französische
pouvoir kann ebenfalls beides bedeuten: je peux vous
comprendre (ich kann Sie verstehen: Fähigkeit) ; je peux
prendre le vélo de mon frère (ich kann das Fahrrad meines Bruders
nehmen: Möglichkeit/Erlaubnis). Geht es aber um ein durch Lernen
erworbenes, gesichertes Können, so wird savoir bevorzugt,
das eigentlich wissen bedeutet: je sais nager (ich
kann schwimmen). Was Bewohner gewisser Randgebiete des
französischen Sprachraums (z. B. Belgien) nicht daran hindert, die
Verwirrung noch zu vergrößern; dort wird auch die Möglichkeit
meistens durch savoir ausgedrückt: je ne sais pas
vous aider (ich kann Ihnen nicht helfen), je ne sais pas venir demain (ich kann
morgen nicht kommen). Für pouvoir bleibt dann
nur die Funktion Erlaubnis: Oui, tu peux m'accompagner (Ja, du
kannst/darfst mich begleiten).
Aufgrund der formalen und semantischen
Ähnlichkeit von kennen und können
entsteht der Verdacht, dass diese beiden Verben auch etymologisch in Verbindung
stehen. Können bildet als Präteritopräsens das
Präsens kann. Hinter dieser Form (Vokalwechsel, fehlende
flexionsmorphologische Unterscheidung der 1. und 3. Person) muss man aber einen
frühgermanischen präteritalen Ursprung vermuten, der als starkes
Präteritum zu einer Vorform von kennen gehören
könnte. Nachdem sich dieses kann mit seiner neuen
Präsensbedeutung von dem kennen-Vorfahr abgespalten
hatte, brauchte dieser ein neues Präteritum, welches nur ein schwaches
sein konnte, daher: kann-te. Schließlich erfolgte noch
die nachweislich verspätete Bildung des Infinitivs
können, der sich auch durch den Umlaut als
Sekundärform ausweist. Durch sprachliche Zellteilung war ein neues Verb
geboren, das nun ein vollständiges Formenparadigma entwickeln konnte.
Semantisch bestätigt sich so auch diachron, dass ein
Kennen als Voraussetzung (sprachlich erfasst als
Vergangenheitsform) für ein Können aufgefasst werden
kann.
Hinweise in etymologischen Wörterbüchern gehen in
diese Richtung. Kluge identifiziert unter verschiedenen frühgermanischen
Formen das altfriesische kanna, kenna als "Kausativum zum
Präteritopräsens kann". Es wurden gemeinsame
indogermanische Wurzeln zu beiden Verben gefunden, die auch das dritte Verb,
wissen, mit einbeziehen. Wörter wie das griechische
gnosis, das Erkenntnis, Wissen bedeutet,
weisen das typische Konsonantengerüst g-n/k-n/j-n auf,
das man noch in know und can findet.
Altindische Varianten bedeuten verkünden, (er)kennen,
wissen. Dies geht bis hinüber zu den slawischen Sprachen, die als
Satem-Sprachen das k-n zu s-n umformen:
znati oder znatij heißt
wissen. Und vom lateinischen cognoscere =
kennen führt schließlich der Weg zu den
kennen-Verben der romanischen Sprachen: conoscere,
connaître.
Stammformen der Modalverben und wissen
Die Präteritalstammformen haben primäre/sekundäre Varianten (außer sollen/wollen) und sind durch das Suffix -te- gekennzeichnet. Primäre und sekundäre Präteritalstammform unterscheiden sich durch einen Umlaut (u→ü, o→ö).
Die Infinitiv- und die Präsens-Plural-Stammformen sind identisch.
sollen | wollen | dürfen | können | müssen | mögen | wissen | ||
Präsens- stammform | Sg. Pl. | soll- | will- woll- | darf- dürf- | kann- könn- | muss- müss- | mag- mög- | weiß- wiss- |
Präterital- stammform | prim. sek. | sollte- | wollte- | durfte- dürfte- | konnte- könnte- | musste- müsste- | mochte- möchte- | wusste- wüsste- |
Bildung der Flexionsformen
Im Gegensatz zu den starken und schwachen Verben, die im Singular Indikativ Präsens über Personal-/Numerussuffixe für die Nicht-Adressatenformen verfügen (-e, -[e]t), entspricht das Paradigma der Modalverben auch im Singular Präsens demjenigen aller anderen Tempus-Modus-Kombinationen (endungslose Nicht-Adressatenformen). Die Personal-/Numerussuffixe im Präsens entsprechen also hier bei gleichzeitigem Vokalwechsel den Suffixen starker Verben im Präteritum (daher die Bezeichnung: Präteritopräsentia). Die Bildung der Präteritalformen mit dem Suffix -te- (ggf. mit Vokalwechsel) ähnelt der Bildung gemischter Verben. Der Konjunktiv ist (außer bei sollen und wollen) durch einen Umlaut gekennzeichnet.
Die syntaktischen Eigenschaften von Modalverben – sie treten im Verbalkomplex nicht allein auf und regieren den Infinitiv eines Vollverbs – haben auch Einfluss auf den Gebrauch der Flexionsformen. Modalverben werden aufgrund ihrer Semantik in der Regel nicht im Imperativ gebraucht. Das Partizip II wird in den zusammengesetzten Tempusformen der Modalverben durch den Infinitiv ersetzt (sog. Ersatzinfinitiv), z. B.:
Er hat kommen können/sollen/müssen.
Modalverben können in bestimmten Fällen allerdings auch ohne Infinitiv, d. h. als Vollverben mit Akkusativkomplement verwendet werden, z. B.:
Sie kann einen Trick.; Ich will Schokolade!
Wenn Modalverben wie Vollverben verwendet werden, wird auch das Partizip II verwendet. Zur Bildung des Partizip II wird wie bei gemischten Verben ge-...-t an die (primäre) Präteritalstammform affigiert. Die Partizipien lauten gedurft, gekonnt, gemocht, gemusst, gesollt, gewollt, gewusst, z. B.:
Eigentlich hätte Droste für seine Schmiergeldaffäre ein Jahr ins Gefängnis gemusst – so viel hatte der Staatsanwalt gefordert. [Hamburger Morgenpost, 31.03.2007]
Für das Vollverb wissen gelten die erwähnten syntaktischen Besonderheiten der Modalverben nicht.