Flexion der Modalverben

Sechs Modalverben (dürfen, können, mögen, müssen, sollen, wollen) und das Vollverb wissen bilden eine gemeinsame Flexionsklasse. Diese weist im Singular Präsens den gleichen Synkretismus auf, den alle anderen Flexionsklassen nur in den übrigen Teilparadigmen besitzen: Die Personalkategorien 1. und 3. Person sind bei den Modalverben und bei wissen im Präsens Singular formal nicht ausdifferenziert. Die Formen der 1. und 3. Person fallen bei diesen Verben in allen Teilparadigmen zusammen, es werden grundsätzlich nur Adressat (2. Ps.) und Nicht-Adressat (1./3. Ps.) flexionsmorphologisch unterschieden, z. B.: du kannst - ich/sie kann ; du weißt - ich/er weiß. Die Vertreter dieser kleinen Flexionsklasse flektieren nach dem Muster der sog. Präteritopräsentia, deren Synkretismus im Präsens auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass es sich dabei ursprünglich um Präteritalformen handelte.

Die Modalverben (mit Ausnahme von wollen) und das Verb wissen werden als Präteritopräsentia bezeichnet. Ihre heutigen Präsensformen sind aus indoeuropäischen Perfektformen starker Verben entstanden. Formal gleichen sie den Präteritalformen starker Verben, besitzen aber eine präsentische Bedeutung. Zum Ausdruck der Vergangenheit mussten daher neue Formen nach dem produktiven Muster der schwachen Verben mit dem Präteritalsuffix -te- gebildet werden (z. B. durfte-). Das Verb wollen ist kein Präteritopräsens, hat sich aber aufgrund seines modalen Charakters dem als Flexionsklassenmerkmal für Modalverben erkennbaren Flexionsmuster der Präteritopräsentia angepasst.

Was das Verb wissen (vgl. altsächsisch witan) betrifft, so geht es auf ein indoeuropäisches Verb mit der Bedeutung von sehen zurück. In anderen indoeuropäischen Sprachen ist der alte Verbstamm in dieser Bedeutung 'sehen' noch heute erkennbar, z. B. frz. voir, it. vedere (< lat. videre), poln. widzieć. Das ähnlich lautende polnische Verb wiedzieć (dt. wissen) geht auf den gleichen Verbstamm zurück. Das deutsche Verb wissen und das norw. vite haben sich als Präteritopräsentia in frühen Sprachstufen von der Bedeutung 'ich sah/habe gesehen' zur heutigen Bedeutung entwickelt.

Innerhalb des Ensembles "Modalverben + kennen + wissen" sind zwei Gruppen zu unterscheiden, deren Elemente jeweils eine Art psychischen Faktor gemeinsam haben. Dieser gemeinsame Faktor ist der eigentliche Schlüssel der Modalität.
Der gemeinsame Faktor der einen Gruppe ist der Wille. Wollen, mögen, dürfen, sollen, müssen verweisen entweder auf den Willen des Subjekts (wollen, mögen) oder auf den Willen eines Dritten bzw. auf eine Fremdbestimmung (dürfen, sollen, müssen), von dessen/deren Wirken jeweils die Realisierung der Verbalhandlung abhängt: Ich verreise nicht einfach, sondern will, soll, muss, darf verreisen. Das Französische überzeugt auch den letzten Zweifler: Soll ich das Fenster öffnen ergibt dort Voulez-vous que j'ouvre la fenêtre und fokussiert damit klar den Willen eines Dritten.
Der gemeinsame Faktor der anderen Gruppe ist die Fähigkeit, das Lernen, Aneignen, Meistern, Besitzen: Man kennt, kann, weiß etwas. Vor allem kennen und können wirken lautlich und semantisch wie Geschwister. Dabei erscheint kennen als Voraussetzung zu können und natürlich auch zu wissen, das dem pragmatischen können eine geistige Dominanz gegenüberstellt: Man kann bzw. weiß etwas, wenn man es gut genug kennt, also lange genug gelernt hat. Die Zweitbedeutung von können, die auf den Faktor Möglichkeit gründet und das Erlaubt-Sein einschließt, lässt sich insofern auf "Fähigkeit" zurückführen, als sie diese voraussetzt: Nur das durch Fähigkeit Gesicherte ist auch möglich (Machbarkeit).
In mehreren modernen Sprachen ist diese Fluktuation zwischen kennen, können und wisseneinerseits und zwischen Fähigkeit und Möglichkeit/Erlaubnis andererseits deutlich zu beobachten: Im englischen to know vermischen sich kennen (I know him very well) und wissen (I don't know), bis hin zum Können (know-how). Der Konkurrent can deckt Fähigkeit und Möglichkeit ab. Das Französische pouvoir kann ebenfalls beides bedeuten: je peux vous comprendre (ich kann Sie verstehen: Fähigkeit) ; je peux prendre le vélo de mon frère (ich kann das Fahrrad meines Bruders nehmen: Möglichkeit/Erlaubnis). Geht es aber um ein durch Lernen erworbenes, gesichertes Können, so wird savoir bevorzugt, das eigentlich wissen bedeutet: je sais nager (ich kann schwimmen). Was Bewohner gewisser Randgebiete des französischen Sprachraums (z. B. Belgien) nicht daran hindert, die Verwirrung noch zu vergrößern; dort wird auch die Möglichkeit meistens durch savoir ausgedrückt: je ne sais pas vous aider (ich kann Ihnen nicht helfen), je ne sais pas venir demain (ich kann morgen nicht kommen). Für pouvoir bleibt dann nur die Funktion Erlaubnis: Oui, tu peux m'accompagner (Ja, du kannst/darfst mich begleiten).

Aufgrund der formalen und semantischen Ähnlichkeit von kennen und können entsteht der Verdacht, dass diese beiden Verben auch etymologisch in Verbindung stehen. Können bildet als Präteritopräsens das Präsens kann. Hinter dieser Form (Vokalwechsel, fehlende flexionsmorphologische Unterscheidung der 1. und 3. Person) muss man aber einen frühgermanischen präteritalen Ursprung vermuten, der als starkes Präteritum zu einer Vorform von kennen gehören könnte. Nachdem sich dieses kann mit seiner neuen Präsensbedeutung von dem kennen-Vorfahr abgespalten hatte, brauchte dieser ein neues Präteritum, welches nur ein schwaches sein konnte, daher: kann-te. Schließlich erfolgte noch die nachweislich verspätete Bildung des Infinitivs können, der sich auch durch den Umlaut als Sekundärform ausweist. Durch sprachliche Zellteilung war ein neues Verb geboren, das nun ein vollständiges Formenparadigma entwickeln konnte. Semantisch bestätigt sich so auch diachron, dass ein Kennen als Voraussetzung (sprachlich erfasst als Vergangenheitsform) für ein Können aufgefasst werden kann.
Hinweise in etymologischen Wörterbüchern gehen in diese Richtung. Kluge identifiziert unter verschiedenen frühgermanischen Formen das altfriesische kanna, kenna als "Kausativum zum Präteritopräsens kann". Es wurden gemeinsame indogermanische Wurzeln zu beiden Verben gefunden, die auch das dritte Verb, wissen, mit einbeziehen. Wörter wie das griechische gnosis, das Erkenntnis, Wissen bedeutet, weisen das typische Konsonantengerüst g-n/k-n/j-n auf, das man noch in know und can findet. Altindische Varianten bedeuten verkünden, (er)kennen, wissen. Dies geht bis hinüber zu den slawischen Sprachen, die als Satem-Sprachen das k-n zu s-n umformen: znati oder znatij heißt wissen. Und vom lateinischen cognoscere = kennen führt schließlich der Weg zu den kennen-Verben der romanischen Sprachen: conoscere, connaître.

Stammformen der Modalverben und wissen

Die Modalverben (außer sollen) und wissen besitzen getrennte Präsensstammformen für Singular und Plural.
Die Präteritalstammformen haben primäre/sekundäre Varianten (außer sollen/wollen) und sind durch das Suffix -te- gekennzeichnet. Primäre und sekundäre Präteritalstammform unterscheiden sich durch einen Umlaut (u→ü, o→ö).
Die Infinitiv- und die Präsens-Plural-Stammformen sind identisch.
sollenwollendürfenkönnenmüssenmögenwissen
Präsens-
stammform
Sg.
Pl.
soll-will-
woll-
darf-
dürf-
kann-
könn-
muss-
müss-
mag-
mög-
weiß-
wiss-
Präterital-
stammform
prim.
sek.
sollte-wollte-durfte-
dürfte-
konnte-
könnte-
musste-
müsste-
mochte-
möchte-
wusste-
wüsste-

Bildung der Flexionsformen

Im Gegensatz zu den starken und schwachen Verben, die im Singular Indikativ Präsens über Personal-/Numerussuffixe für die Nicht-Adressatenformen verfügen (-e, -[e]t), entspricht das Paradigma der Modalverben auch im Singular Präsens demjenigen aller anderen Tempus-Modus-Kombinationen (endungslose Nicht-Adressatenformen). Die Personal-/Numerussuffixe im Präsens entsprechen also hier bei gleichzeitigem Vokalwechsel den Suffixen starker Verben im Präteritum (daher die Bezeichnung: Präteritopräsentia). Die Bildung der Präteritalformen mit dem Suffix -te- (ggf. mit Vokalwechsel) ähnelt der Bildung gemischter Verben. Der Konjunktiv ist (außer bei sollen und wollen) durch einen Umlaut gekennzeichnet.


Die syntaktischen Eigenschaften von Modalverben – sie treten im Verbalkomplex nicht allein auf und regieren den Infinitiv eines Vollverbs – haben auch Einfluss auf den Gebrauch der Flexionsformen. Modalverben werden aufgrund ihrer Semantik in der Regel nicht im Imperativ gebraucht. Das Partizip II wird in den zusammengesetzten Tempusformen der Modalverben durch den Infinitiv ersetzt (sog. Ersatzinfinitiv), z. B.:

Er hat kommen können/sollen/müssen.

Modalverben können in bestimmten Fällen allerdings auch ohne Infinitiv, d. h. als Vollverben mit Akkusativkomplement verwendet werden, z. B.:

Sie kann einen Trick.; Ich will Schokolade!

Wenn Modalverben wie Vollverben verwendet werden, wird auch das Partizip II verwendet. Zur Bildung des Partizip II wird wie bei gemischten Verben ge-...-t an die (primäre) Präteritalstammform affigiert. Die Partizipien lauten gedurft, gekonnt, gemocht, gemusst, gesollt, gewollt, gewusst, z. B.:

Eigentlich hätte Droste für seine Schmiergeldaffäre ein Jahr ins Gefängnis gemusst – so viel hatte der Staatsanwalt gefordert. [Hamburger Morgenpost, 31.03.2007]

Für das Vollverb wissen gelten die erwähnten syntaktischen Besonderheiten der Modalverben nicht.

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