Starke Verben
(frz. verbes forts)
Die starken Verben bilden eine Flexionsklasse von ca. 170 (einfachen) Verben, die im heutigen Deutsch nicht produktiv ist. Obwohl die Anzahl schwacher Verben um ein Vielfaches größer ist, stellen starke Verben eine zentrale Flexionsklasse dar, da sich ihre Zahl durch Bildungen mit Präfixen oder Präverben maßgeblich erhöht und sie eine sehr hohe Gebrauchshäufigkeit aufweisen. Unter den 20 häufigsten Verben gesprochener Sprache befinden sich (nach Ruoff 1981) – neben sieben Hilfs- und Modalverben – zehn starke Verben, aber nur drei schwache. Umgekehrt gibt es auch einige starke Verben bzw. einzelne Verbformen, die sehr selten verwendet werden und als veraltet/veraltend gelten können.
Variation zwischen schwachen und starken Formen
Einige starke Verben sind im Laufe der Zeit teilweise oder ganz in die schwache, produktive Flexionsklasse gewechselt. Das starke Flexionsparadigma wurde bei diesem Übergang entweder defizitär oder ganz aufgegeben (z. B. pflegen-pflog; fragen-frug). Im heutigen Deutsch besitzen daher einige Verben sowohl starke als auch schwache Stammformen. Je nach Verb sind dabei nur einzelne starke bzw. schwache Stammformen oder ein vollständig ausgebildetes schwaches Flexionsparadigma parallel vorhanden, z. B.:
vollständig stark/schwach: saugen - sog/saugte -
gesogen/gesaugt
zwei Präteritalformen: stecken - steckte/stak -
gesteckt
schwache Präteritalform, starkes Partizip II: salzen - salzte -
gesalzen
Bei bestimmten Verben, die sowohl vollständig stark als auch vollständig schwach konjugiert werden können, ist die Variation zw. schwachen und starken Formen meistens mit Bedeutungsunterschieden und einem abweichenden Valenzrahmen verbunden. In diesen Fällen muss von zwei unterschiedlichen Lexemen ausgegangen werden, z. B.:
hängen: Er hängte ein Bild [Kakk] an die Wand (transitiv). / Das Bild [Ksub] hing an der Wand (intransitiv).
Die folgenden Tabellen enthalten Verben mit stark (vereinzelt: gemischt) und schwach gebildeten Tempusstammformen. Die linke Tabelle gibt konkurrierende stark/schwach gebildete Formen an, bei denen standardsprachlich keine Bedeutungsunterschiede, allenfalls stilistische Unterschiede zu erwarten sind. In der rechten Tabelle sind Verben aufgelistet, bei denen für die stark (im Falle von senden/wenden: gemischt) und schwach flektierenden Formen von zwei unterschiedlichen Lexemen ausgegangen werden muss. Die schwach gebildeten Formen, die sich von der entsprechenden starken Form in der Bedeutung und/oder im Valenzrahmen unterscheiden, sind blau markiert. Grundlage der Unterscheidung sind entsprechende Listen in Wörterbüchern von Duden und Wahrig.
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Eine ausführliche Betrachtung von Variation zwischen bestimmten schwachen und starken Formen unter Berücksichtigung eventueller Bedeutungsunterschiede ist anhand ausgewählter Beispiele in folgenden Artikeln aus "Grammatik in Fragen und Antworten" nachzulesen:
Backte oder buk, haute oder hieb? —
Schwache oder starke Flexion
Gewinkt oder
gewunken? — Schwache oder starke Flexion
Er hängte seinen Mantel an den Haken, und dort hing er den ganzen Tag —
Schwache und starke Flexion und Bedeutungsunterschiede
Primäre und sekundäre Stammformen
Präsens- und Präteritalstammformen können jeweils primäre und sekundäre Varianten besitzen, die sich durch einen e/i-Wechsel oder Umlaut unterscheiden, z. B.:
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Da der Vokalwechsel (unabhängig von Umlautfähigkeit) nicht immer eintritt, vgl.
haue/haust vs. laufe/läufst, muss die
sekundäre Präsensstammform starker Verben bekannt sein, damit die entsprechenden Formen gebildet
werden können.
Starke Verben können darüber hinaus eine spezifische Partizipialstammform
aufweisen (sproch-), andernfalls ist diese entweder mit der (jeweils primären)
Präsens- oder Präteritalstammform identisch. Nicht alle (starken) Verben haben fünf Stammformen
(wie sprechen), viele Verben besitzen keine sekundären Stammformen (z. B.
reiten) und keine spezifische Partizipialstammform (z. B.
geben).
Übersicht über die Synkretismen der Tempusstammformen anhand ausgewählter Beispiele von starken, gemischten und schwachen Verben (nach Wiese):
Ablautreihen
Die Tempusstammformen starker Verben werden mit Hilfe des Ablauts (frz. apophonie), einer Form des Vokalwechsels, gebildet und können als sog. Ablautreihe (série apophonique) dargestellt werden. Ablautreihen geben traditionell die Formen (bzw. die Vokale der Stammformen) von Infinitiv, Präteritum (1./3. Ps. Sg.) und Partizip II in genannter Reihenfolge an, z. B. sprechen – sprach – gesprochen (/ɛ/-/a:/-/ɔ/). Die Hälfte aller starken Verben lassen sich den sechs häufigsten Ablautreihen zuordnen, viele Ablautreihen (ca. 25) sind nur ein- oder zweimal belegt. Der Verzicht auf exakte Angaben ist dadurch begründet, dass einzelne Verben bzw. ihre starke Konjugation im heutigen Deutsch als veraltet gelten können (z. B. dingen, kiesen) oder nach dem Muster von zwei verschiedenen Reihen ablauten (z. B. heben – hob/hub). Einige wenige Verben weisen einen zusätzlichen unregelmäßigen Konsonantenwechsel in bestimmten Stammformen auf, z. B. ziehen – zog – gezogen.
Die beiden Begriffe "stark" und "unregelmäßig" sind unbedingt zu
unterscheiden. Die meisten deutschen "starken Verben" weisen viele Regelmäßigkeiten auf, die auf
Ablautreihen zurückzuführen sind. Als unregelmäßig können nur diejenigen Verben betrachtet werden,
die ‚aus der Reihe tanzen" d. h. abweichende Formen aufweisen. Ein solches Verb ist z. B.
gehen. Auch sein gilt aufgrund seiner verschiedenen Stämme als
unregelmäßig. Verben wie fahren, schreiben, sehen sind regelmäßig.
Vgl.
auch den kontrastiven Absatz "Stark oder
unregelmäßig?" weiter unten.
Die folgenden Tabellen zeigen nach Häufigkeit geordnete Ablautreihen und dazugehörige Verben. Die größte Gruppe sind starke Verben, die eine gemeinsame Präterital- und Partizipialstammform besitzen. Darauf folgen solche mit distinkten Präsens-, Präterital- und Partizipialstammformen. Bei der kleinsten Gruppe sind die Präsens- und Partizipialstammformen identisch. Verben, die sekundäre Präsens- und Präteritalstammformen besitzen, sind grün gekennzeichnet, solche mit nur sekundären Präsensstammformen orange und solche mit nur sekundären Präteritalstammformen blau. Verben ohne sekundäre Stammformen sind schwarz markiert. Der Asterisk * kennzeichnet Verben, die auch schwache Formen besitzen, die sich von der entsprechenden starken Form in der Bedeutung und im Valenzrahmen unterscheiden (siehe auch Liste von Verben mit starken und schwachen Formen).
Starke Verben mit identischer Präterital- und Partizipialstammform:
Ablautreihen | Prät./Part. | Verben |
ie/e/i → o → o | /ɔ/ | fließen, genießen, gießen,
kriechen, riechen, schießen, schließen, sieden, sprießen, triefen,
verdrießen; fechten, dreschen, flechten, melken, quellen*, schmelzen*, schwellen*; glimmen, klimmen; Außerdem: erlöschen, erschallen, saufen. |
ie/e/ü/ä → o → o | /o:/ | biegen, bieten, erkiesen,
fliegen, fliehen, frieren, schieben, stieben, verlieren, wiegen*,
ziehen; bewegen*, heben, pflegen*, scheren*, weben*; küren, lügen, trügen; gären*, schwären, wägen; Außerdem: schwören, saugen, schnauben. |
ei → i → i | /ɪ/ | befleißen, beißen, bleichen*, gleichen, gleiten, greifen, kneifen, leiden, pfeifen, reiten, reißen, scheißen, schleichen, schleifen*, schleißen, schmeißen, schneiden, schreiten, spleißen, streichen, streiten, weichen*. |
ei → ie→ ie | /i:/ | bleiben, gedeihen, leihen, meiden, preisen, reiben, scheiden, scheinen, schreiben, schreien, schweigen, speien, speisen, steigen, treiben, weisen, zeihen. |
Außerdem: | ||
i → u → u | /ʊ / | schinden |
e → a → a | /a / | stehen |
Starke Verben mit spezifischer Präteritalstammform:
Ablautreihe | Prät. | Part. | Verben |
i → a → u | /a/ | /ʊ / | binden, dingen, dringen, empfinden, finden, gelingen, klingen, misslingen, ringen, schlingen, schwinden, schwingen, singen, sinken, springen, stinken, trinken, winden, wringen, zwingen. |
e/i → a → o | /a/ | /ɔ/ | bergen,
bersten, gelten, helfen, schelten, sterben, verderben, werben,
werfen; beginnen, gewinnen, rinnen, schwimmen, sinnen, spinnen. |
e → a → o | /a:/ | /ɔ/ /o:/ | brechen /ɛ/,
erschrecken*, sprechen, stechen, treffen. Außerdem:
nehmen /e:/, kommen /ɔ/. befehlen /e:/, empfehlen, stehlen; Außerdem: gebären /ɛ:/. |
Außerdem: | |||
i/ie → a → e | /a:/ | /ɛ/ /e:/ | sitzen
/ɪ/ bitten /ɪ/, liegen /i:/ |
e/ä → i → a | /ɪ/ | /a/ | gehen, hängen* |
Starke Verben mit identischer Präsens- und Partizipialstammform:
Ablautreihe | Prät. | Verben |
e → a → e | /a:/ | geben /e:/, genesen, geschehen, lesen, sehen, treten; essen /ɛ/, fressen, messen, vergessen. |
a → ie → a | /i:/ | blasen /a:/,
braten, raten,
schlafen; fallen /a/,halten, lassen. Außerdem: hauen*, laufen /au/, heißen, rufen, stoßen. |
a → u → a | /u:/ | fahren
/a:/,graben, laden,
schlagen, tragen; backen* /a/, schaffen, wachsen, waschen. |
Außerdem: | ||
a → i → a | /ɪ/ | fangen, empfangen. |
Vgl. auch den Absatz "Klassifizierung der starken Verben" in der Einheit "Funktionen des Verbalkomplexes".
Bildung der Flexionsformen
Bei starken Verben muss man die drei zur Bildung der Tempora dienenden Stammformen (Tempusstammformen) kennen, um deren Flexionsformen bilden zu können: Präsens- (evtl. mit sekundärer Variante), Präterital- und Partizipialstammform. Aus den Tempusstammformen lassen sich die Stammformen zur Bildung der übrigen Verbformen (Konjunktiv, Imperativ, Infinitiv) ableiten.
Die finiten tempus- und modusbestimmten Formen starker Verben unterscheiden sich von denen der schwachen Verben durch den Ablaut in den Stammformen sowie durch das Vorhandensein mehrerer Stammformen (inklusive primäre/sekundäre Varianten). In der folgenden Übersicht steht sprechen dabei stellvertretend für starke Verben mit voll ausgebildetem Stammparadigma, d. h. mit sekundären Präsens- und Präteritalformen. Rufen vertritt Verben ohne sekundäre Stammformen. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass es auch Verben gibt, die jeweils nur eine sekundäre Variante besitzen (im Präs. oder Prät.).
Der Imperativ weist bei starken Verben eine Besonderheit auf. Bei Verben mit nur einer oder mit durch Umlaut gebildeter Präsensstammform (z. B. rufen, fahren) wird immer die eine bzw. primäre Präsensstammform als Imperativstammform verwendet, an die ein zumeist fakultatives -(e) (Sg.) oder -(e)t (Pl.) als Numerussuffix angehängt wird. Bei Verben mit einer sekundären Präsensstammform, die durch einen e/i-Wechsel entstanden ist (z. B. sprechen), bildet diese sekundäre Variante die Grundlage für den Imperativ Singular, die Form bleibt dann endungslos:
Das Partizip II starker Verben wird durch Affigierung von
ge-...-en an die Partizipialstammform gebildet, z. B.
gefunden. Verben, bei denen der Hauptakzent nicht auf
der ersten Silbe liegt, z. B. Verben mit unbetontem und festem Präfix (erzählen) oder Verben wie
gastieren, offenbaren, prophezeien etc., affigieren nur das Suffix
-(e)t bzw. -en, z. B.: ich habe erzählt/verloren/prophezeit.
Bei Verben mit betontem und also
festem Präverb wird ge- zwischen Präverb
und Verbstamm eingefügt, z. B.: er wurde ausgelacht / er hat sich damit abgefunden.
Die durch einen
Ablaut gekennzeichneten Partizipialstammformen starker Verben sind – anders als bei schwachen
Verben – nicht immer mit der Präteritalstammform identisch. Der Infinitiv leitet sich
aus der (primären) Präsensstammform ab, an die -en suffigiert wird, z. B.
sprechen.
Veränderung eines Worts oder einer Wortgruppe durch flexivische Mittel dient der Anpassung an Erfordernisse der Logik und der Syntax, die ihrerseits Ausdruck einer mehr oder weniger systematischen Konstruktionsordnung ist. In einem polyparametrischen, aber sich linear manifestierenden System, wie die Sprache es ist, sind die Flexionsmittel im Detail zwar zahlreich, aber dennoch auf wenige Grundtypen beschränkt, die allerdings kombiniert auftreten können:
- Präfigierung, Suffigierung, Infigierung oder Zirkumfigierung eines Morphems (Nullmorphem immer inbegriffen), einschließlich Fusionierung und Polyfunktionalität von Morphemen;
- Modifizierung eines Lauts oder einer Lautgruppe;
- Einsatz der Intensität (Akzentuierung) und/oder Dauer (Silbenlänge) und/oder Tonhöhe (Intonation), also der Prosodie, als distinktive(s) Mittel.
Auch unter den gemeinhin als nicht-flektierend geltenden Sprachen kann man sich keine vorstellen, die neben dem einzigen verbleibenden Mittel der Funktionsmarkierung, nämlich der Distribution, nicht wenigstens einen der vorgenannten Flexionstypen benutzt.
Andererseits ist nicht jede Veränderung eines Parameters Indiz für eine Funktion. So
bilden im Deutschen die starken Verben ihre Präterital- und Partizipialstammformen durch Ablaut;
dieser ist für das Präteritum die einzige, also eine notwendige Markierung. Aber schon bei der
Partizipialstammform kann man die Notwendigkeit anzweifeln, da das Zirkumfix ge---en
bereits eine hinreichend distinktive Markierung ist. Vollends redundant ist der
Phonemwechsel (der sich ja auch auf Konsonanten auswirken kann) in der 2. und 3. Person Präsens
(ich gebe, aber: du gibst, er gibt) und bei den "gemischten" Verben
(bringen > ich brachte), da ja hier parallel zu ihm suffigierte Marker die
Distinktivität sichern.
Aber in diesen Fällen hat der Phonemwechsel natürlich
sprachhistorische Ursachen. Und genau dies ist der Grund, ihn in unseren beiden Vergleichssprachen
von einer höheren Warte aus zu betrachten. Das Deutsche hat seinen Verbvorrat in zwei klare
Bereiche eingeordnet, von denen einer aufgrund des Auftretens von Vokalwechsel als "stark"
etikettiert wurde. Lediglich eine kleine Mischkategorie sowie einige Modal- und Hilfsverben werden
als "unregelmäßig" bezeichnet. Im Französischen dagegen gibt es gemäß Endungsmorphem des Infinitivs
vier große Verbklassen (auf -er, -ir, -re und -oir), bei denen
jede noch so kleine Besonderheit der flexionsbedingten Lautfolge genügt, um das entsprechende Verb
als "unregelmäßig" einzustufen. In der 1. Klasse ist dies relativ selten, betrifft
berechtigterweise das Verb aller (gehen), bei dem drei Stämme auftreten
(all-, ir- und v(a)-), aber auch Verben des Typs envoyer
(schicken), die nur im Futur eine kleine Abweichung zeigen
(j'enverrai). Häufig und geradezu charakteristisch ist der
Phonemwechsel in den drei anderen Konjugationen, wo er besonders im passé simple
und im participe passé die Lautgestalt des Wortkörpers völlig verändern kann:
courir (laufen) - nous courûmes - j'ai couru
perdre (verlieren) - nous perdîmes - j'ai
perdu
boire (trinken) - nous bûmes - j'ai
bu
mettre (legen) - nous mîmes - j'ai
mis
mouvoir (bewegen) - [présent :] je meus [m2:]
- nous mûmes - j'ai mu
Man kann einwenden, dass hier nicht immer der Stammvokal, sondern oft der Themavokal betroffen ist und dass die Veränderungen Ergebnis von Kontraktionen sind. Tatsache ist jedoch, dass die Tempus-/Modus-Flexion und hier besonders die Markierung des passé weitgehend über lautliche Veränderung läuft; eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Deutschen, die auf gemeinsame sprachliche Vorfahren schließen lässt. Die Vielfalt der Klassen, Unterklassen und Einzelfälle gestattet sicher keine einfache Systematisierung in Bereiche wie stark und schwach. Aber auch im Deutschen ist innerhalb dieser zwei Grundbereiche eine große lautliche Vielfalt in Form verschiedener Ablautreihen anzutreffen. Und noch eine Gemeinsamkeit fällt auf: Die etwas museal anmutenden lautlich abgesetzten Formen werden in der Alltagssprache umgangen und sind nicht mehr produktiv.