Funktionen des Verbalkomplexes
Dem Verbalkomplex (frz.: complexe verbal) kommen zwei verschiedene Aufgaben zu:
- Er realisiert das Prädikat und ist damit wesentlicher Ausdrucksteil der Proposition.
- Er trägt dazu bei, die Proposition zeitlich (durch das Tempus), modal (durch Modalverben und den Modus) und in Handlungsbezüge (durch das Genus Verbi) einzuordnen.
Diese beiden Aufgaben werden durch verschiedene Teile des Verbalkomplexes wahrgenommen.
Verbalkomplex aus nur einer Verbform
Besteht der Verbalkomplex aus nur einer Verbform, so setzt er sich mindestens aus zwei Morphemen zusammen. Jede der zwei erwähnten Aufgaben wird von einem der beiden Morpheme übernommen. Dies ist etwa bei schwachen Verben im Präsens und Präteritum (Indikativ) der Fall (z. B. lachen in Die Kinder lachen/lachten). Hier wird Aufgabe 1 vom lexikalischen Morphem (lach-), Aufgabe 2 vom Flexionsmorphem (-en/-ten Tempus- und Personangabe) erfüllt. Die Morpheme bilden jeweils in sich abgeschlossene Einheiten, die einander nicht überlappen. In vielen anderen Fällen ist aber eine derartige lineare Trennung beider Aufgaben nicht möglich, weil das lexikalische Morphem von der Flexion überlagert wird. Man vergleiche etwa die starken Verben, bei denen flexionsbedingte Veränderungen des Wortstamms auftreten (z. B. schlafen in Der Junge schläft/schlief).
Die Zahl der starken Verben ist im Deutschen begrenzt. Entsprechend ihrem regelmäßigen Vokalwechsel (frz.: principe de l'alternance vocalique) lassen sie sich in einige Klassen einteilen, die jeweils den Vokal des Präsens, des Präteritums und des Partizips II zur Geltung bringen. Daraus ergibt sich die folgende Klassifizierung der starken Verben nach Stammvokal und Vokalwechsel (Präteritum und Partizip II). Die Reihenfolge der Stammvokale in der Tabelle (hier: e, a, i, o, u) entspricht der (absteigenden) Frequenz der deutschen starken Verben, die den jeweiligen Vokal aufweisen. Lange Vokale sind unterstrichen.
–> Zur Tabelle
Beim Verbalkomplex aus nur einer Verbform wird oft von einer 'einfachen Verbform' gesprochen (Verbformen mit einem abtrennbaren Präverb wie in Der Junge schläft ein. sind hier eingeschlossen).
Verbalkomplex aus mehreren Verbformen
Besteht der Verbalkomplex aus mehreren Verbformen, werden die beiden
oben genannten Aufgaben lexikalisch getrennt wahrgenommen.
Aufgabe 1
wird in einem Verbalkomplex, der aus mehreren Verbformen besteht, durch das
infinite Vollverb wahrgenommen, das als Ausdruck für das
Prädikat im engeren Sinne dient.
Das finite Hilfs- oder
Modalverb leistet keinen Beitrag zur propositionalen Bedeutung, dient
somit nicht der Erfüllung von Aufgabe 1. Hilfs- und Modalverben
übernehmen dafür Aufgabe 2, und zwar in allen ihren
Teilbereichen.
Sie sind beteiligt an:
- der Herstellung des
Zeitbezuges:
Hans ist gekommen.
Der Junge hat geschlafen. - der modalen Charakterisierung der
Proposition:
Hans mag kommen.
Der Junge muss schlafen. - der Passivbildung:
Das Buch wird von Hans bearbeitet.
Aufgabe1 wird in einem Verbalkomplex, der aus mehreren Verbformen
besteht, durch das infinite Vollverb wahrgenommen, das als
Ausdruck für das Prädikat im engeren Sinne dient.
Weitere
infinite Bestandteile des Verbalkomplexes sind - wenn überhaupt vorhanden
- wiederum an der Erfüllung der einzelnen Teilbereiche von Aufgabe 2
beteiligt, das heißt, sie leisten einen Beitrag zur zeitlichen (a) und
modalen (b) Einordnung der Proposition bzw. signalisieren eine
Passivkonstruktion (c):
Die auf die einzelnen Teilbereiche von Aufgabe 2 spezialisierten Verben können miteinander kombiniert werden:
Die folgende Tabelle fasst die bisherigen Überlegungen zu den Aufgaben des Verbalkomplexes und seiner Bestandteile zusammen:
Teile des | Verbalkomplexes | |
Aufgaben | im Verbalkomplex
aus nur einer Verbform | im Verbalkomplex
aus mehreren Verbformen |
Realisation des
Prädikats, Organisation der Proposition | lexikalisches
Morphem, z. B.: geh- | infinites Vollverb, z.
B.: geschrieben schreiben |
Einordnung in Zeit- und Handlungsbezüge, Informationsstrukturierung | Flexionsmorphem /Flexion, z. B.: -t | finites Verb, z.
B.: hat muss wird infinite Hilfs- und Modalverben, z. B.: müssen haben werden |
Funktionale Einordnung des Verbalkomplexes
Die an den Verbalkomplex angebundenen Komplemente sind quantitativ und qualitativ von der Valenz des Vollverbs abhängig. Der durch die Komplemente "gesättigte" Verbalkomplex bildet den Satz, der wiederum durch unterschiedliche Supplemente erweitert werden kann.
Für das 3-wertige Verb geben gilt z. B.:
Sowohl Hilfsverben als auch
Modalverben können
in Verbindung mit einer infinitiven Verbform eines Vollverbs den Verbalkomplex
bilden:
Finite Hilfsverben und Modalverben
können einen (vollständigen) Verbalkomplex herstellen:
Infinite Hilfsverben und Modalverben können zusammen mit einer anderen infiniten Verbform einen infiniten Verbalkomplex bilden, der wiederum Teil eines größeren Verbalkomplexes ist.
Unter den Eigenschaften, die Hilfsverben und Modalverben von den Vollverben unterscheiden, gibt es einige, die sowohl den Hilfsverben als auch den Modalverben zukommen. Zu diesen Gemeinsamkeiten gehört z. B. das Fehlen eines eigenen Valenzrahmens: Einen eigenen Valenzrahmen haben sie erst, wenn sie als Vollverben verwendet werden (vgl.Hilfsverben im Verbalkomplex und Modalverben im Verbalkomplex).