Modalverben im Verbalkomplex
Modalverben (müssen, sollen, dürfen, mögen/möcht-, wollen, können) verbinden sich im Verbalkomplex mit reinen Infinitiven wie in Beispiel (1) und (2) bzw. mit Gruppen aus Infinitiv und Partizip(ien) wie in Beispiel (3) und (4). Ähnlich wie Hilfsverben ändern sie nicht den Valenzrahmen des Vollverbs (vgl. Valenzverhältnisse im Verbalkomplex).
(2) Er muss sie um Entschuldigung bitten können.
(3) Er muss sie um Entschuldigung gebeten haben.
(4) Sie muss um Entschuldigung gebeten worden sein.
Modalverben können deontisch (extrasubjektiv) oder epistemisch (intrasubjektiv) verwendet werden.
Deontischer (extrasubjektiver) Gebrauch
- Beim deontischen Gebrauch wird mithilfe von Modalverben der von der Proposition denotierte Sachverhalt nicht als faktisch, sondern als möglich bzw. erlaubt, notwendig oder erwünscht betrachtet (vgl. auch Modalverb in der Wortartenklassifikation).
Bereich des Möglichen bzw. Erlaubten:
(5)
Ich kann erst in einer Stunde
kommen.
(6) Man darf in
öffentlichen Gebäuden nicht mehr rauchen.
Bereich des Notwendigen:
(7) Er
musste letzte Woche nach Hause fahren, weil seine Frau
plötzlich ins Krankenhaus gebracht wurde.
(8)
"Sechs Tage sollst Du dein Land besäen und seine
Früchte einsammeln. Aber am siebten Tage sollst Du es ruhen
lassen." [Mannheimer Morgen, 11.03.2003]
Bereich des Erwünschten:
(9) Er
wollte sie gerade nach dem Weg fragen, aber sie drehte sich
plötzlich um.
(10) Ich mag ihn
nicht kränken, aber ich muss ihm die Wahrheit sagen.
Die konjunktivische Form möcht- wird heutzutage nicht mehr als solche empfunden, sondern vielmehr als höfliche Variante von wollen. Mögen und möcht- werden zum Teil bedeutungsverschieden gebraucht; allerdings zeigt bereits die gemeinsame Präteritalform mochte, dass sie zum selben Formenparadigma gehören.
Deontischer (extrasubjektiver) Gebrauch kontrastiv
Epistemischer (intrasubjektiver) Gebrauch
- Beim epistemischen Gebrauch beziehen sich die Modalverben auf die Sprechereinstellung. Nur bestimmte Formen der Modalverben lassen epistemischen Gebrauch zu. Dabei unterscheidet man traditionell zwischen den Modalverben, die einen bestimmten Grad der Wahrscheinlichkeit bestimmen, und den Modalverben, die zur Redewiedergabe dienen; vgl. jeweils (i) bzw. (ii).
(i) Die Formen der Verben mögen, können, dürfen und müssen drücken verschiedene Grade der Wahrscheinlichkeit aus. Nachstehend wird versucht, diese Verbformen vom niedrigsten zum höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit, den sie denotieren, zu ordnen. Dabei werden ihnen zum besseren Verständnis etwa semantisch gleichwertige Adverbiale gegenübergestellt.
Beispiel: Es wurde bei einem Maler ein Bild bestellt. Der Maler
mag das Bild jetzt fertig
haben [= eventuell]
kann das Bild jetzt
fertig haben [= vielleicht]
könnte
das Bild jetzt fertig haben [=
möglicherweise]
müsste das Bild jetzt
fertig haben [= sehr
wahrscheinlich]
dürfte das Bild jetzt fertig
haben [= mit ziemlicher Sicherheit]
muss
das Bild jetzt fertig haben [= fast sicher, nach menschlichem
Ermessen]
Die Modalverben sind durch solche Adverbiale jeweils ersetzbar, wobei der Satz umformuliert werden muss:
Er müsste das Bild jetzt fertig
haben. = Er hat das Bild sehr wahrscheinlich fertig.
usw.
Manchmal werden die epistemisch gebrauchten Modalverben von zusätzlichen Adverbien bzw. Partikeln gestützt. Diese können verstärkend oder leicht sinnverändernd wirken:
Der Maler
mag das Bild jetzt eventuell /
vielleicht fertig haben
kann das
Bild jetzt vielleicht / durchaus fertig
haben
müsste das Bild
(ja) jetzt eigentlich fertig
haben
dürfte das Bild jetzt
ja wohl / wirklich fertig
haben
muss das Bild jetzt (aber)
wirklich / absolut fertig haben
Anmerkungen:
- Auch die Form möcht-
drückt einen Grad der Wahrscheinlichkeit aus, allerdings in Verbindung mit
einer optativen Nuance:
Der Maler
möchte das
Bild jetzt fertig haben [= wünschenswerterweise,
hoffentlich]
möchte das Bild jetzt
wahrhaftig / endlich fertig haben.
- Epistemischer Gebrauch des Verbs werden
Das Verb werden gesellt sich in dieser Funktion zur Gruppe der Modalverben, ohne allerdings selbst eines zu sein. Es kann, je nachdem, mit welchen Zusätzen es erscheint, höhere oder niedrige Wahrscheinlichkeitsgrade bezeichnen:
Der Maler
wird (wohl) das Bild jetzt fertig
haben [= wahrscheinlich]
wird das Bild
jetzt (ja wohl) fertig haben [dürfte ... / mit
ziemlicher Sicherheit]
Die indikativischen Formen der Modalverben mögen, können und müssen können bei epistemischem Gebrauch sowohl im Präsens als auch im Präteritum verwendet werden, nicht jedoch in allen anderen Tempora. Es ergeben sich folgende Oppositionen:
er mag /
mochte
er kann /
konnte
er muss / musste das Bild
(jetzt) fertig haben.
Die präteritalen Formen finden sich vorwiegend in spezifischen Konstellationen einer präteritalen Erzählsituation: im Erzählerkommentar, bei innerem Monolog oder erlebter Rede.
Epistemischer (intrasubjektiver) Gebrauch kontrastiv
(ii) Mit den Modalverben sollen und wollen handelt es sich beim epistemischen Gebrauch um eine vom Sprecher gewöhnlich distanziert wiedergegebene Rede einer anderen Person.
soll / sollte gibt an, dass
die Aussage aus anderer Quelle stammt:
Der Maler soll das Bild
wieder vernichtet haben. - (On dit que ...; ..., heißt es / Es heißt,
dass ...)
Die präteritale Form kommt relativ selten und hauptsächlich schriftsprachlich vor:
"aber seine erste Antwort war ein neues langes Märchen, nach welchem die Katharina Seidel von fremden Leuten in seinem Hause sollte getötet worden sein." (Internetbeleg)
will / wollte gibt an, dass
die Aussage als wissentliche Behauptung oder Vorwand des Subjekts berichtet
wird, der Sprecher sich jedoch nicht dafür
verbürgt:
Der Maler will die Bestellung für das Bild
nicht erhalten haben. - (Il prétend ...; Er behauptet).
Grammatisch ist der Unterschied zwischen deontischem und
epistemischem Gebrauch auf verschiedene Weise markiert:
(a) Die
epistemisch gebrauchten Modalverben existieren nur in bestimmten festen
Zeitformen (siehe oben, insbesondere keine zusammengesetzten Zeiten).
deontisch: Die Sekretärin
muss/musste sprachgewandt sein. / Die Sekretärin
hat sprachgewandt sein müssen. (= Il
faut que la secrétaire soit à l'aise dans plusieurs langues. / Il
fallait/fallut que la secrétaire fût à l'aise dans plusieurs
langues.)
epistemisch: Die Sekretärin
muss/musste sprachgewandt gewesen sein. (=
La secrétaire est/était très certainement à l'aise dans
plusieurs langues.)
(b) Die epistemisch gebrauchten Modalverben können auch solche Verben regieren, die von deontischem Gebrauch deshalb ausgeschlossen sind, weil es sonst eine Kollision der Willens- bzw. Identitätszuweisung gäbe. In dem Satz
Franz muss Klara kennen.
kann es sich nur um ein epistemisches muss handeln, da niemand einer anderen Person vorschreiben kann, jemanden zu kennen. "Kennen" ist ein authentischer, nicht beeinflussbarer Wissens- oder Willenssachverhalt. Dagegen bleibt in
Er könnte das Bild jetzt vollendet haben.
außerhalb des Kontextes ein Zweifel, ob der Sprecher ein Bedauern (deontisch: wenn er sich mehr beeilt hätte) oder eine Vermutung (epistemisch: möglich, dass er es fertig hat) ausdrücken will. Die Aussage wird daher häufig durch einen Zusatz desambiguiert:
deontisch: Schade, er könnte das Bild
jetzt vollendet haben.
epistemisch: Er könnte
das Bild jetzt wirklich (durchaus) vollendet haben.
– Sie regieren den reinen Infinitiv (d. h. den Infinitiv ohne zu)
– Sie werden nicht im Imperativ gebraucht.
– Sie haben keinen eigenen Valenzrahmen; sie übertragen lediglich den Valenzrahmen des Verbs, das sie regieren, auf den Verbalkomplex.
Deontisch verwendete Modalverben können sich wie Vollverben verhalten und drücken dann semantisch mehr als nur die Modalität aus.
Zum Vollverbgebrauch der Modalverben
Bei epistemischer Modalität ist die Verwendung
eines reinen Infinitivs obligatorisch, während er in der deontischen
Verwendungsweise nicht unbedingt erscheint.
Ohne Infinitiv werden die
deontisch verwendeten Modalverben beispielsweise gebraucht, wenn es sich um ein
Verb der Bewegung handelt und die Direktionalität bereits durch eine
Präpositionalphrase oder eine Verbpartikel ausgedrückt ist:
(1) Da musste ein Fachmann her
[kommen].
(2) Er sagte, wir sollten da besser nicht
hin [gehen].
(3) Ich darf nicht allein
ins Kino [gehen].
(4) Ich möchte
nicht zu Tante Agathe [gehen].
(5) Er
will weg [fahren, gehen].
(6) Ihr
könnt jetzt nach Hause [fahren, gehen].
Modalverben regieren einen Infinitivkomplex bestehend aus der Infinitivform eines Verbs und eventuell von diesem regierten Komplementen:
(1a) Sonntags dürfen
Lastwagen in Deutschland nicht [die Autobahn
benutzen].
(2a) Wir möchten
gern [gegenüber dem Park wohnen].
Supplemente sind je nach textueller Situation (genauer: je nach Thema/Rhema-Verteilung) entweder dem Rahmensatz (wie in 1b und 2b) oder ganz oder teilweise dem eingebetteten Infinitivkomplex (wie in 1c) zuzuordnen; allerdings ist die Entscheidung im Einzelfall nicht immer leicht:
(1b) {Sonntags dürfen
Lastwagen in Deutschland} nicht [die Autobahn
benutzen].
(1c) Lastwagen
dürfen {in Deutschland} {sonntags} nicht {[die Autobahn
benutzen]}.
(2b) Wir
{möchten gern} [gegenüber dem Park
wohnen].
Andere Verbklassen mit modaler Bedeutung
Hilfsverben
Die Hilfsverben haben und sein können in modaler Bedeutung verwendet werden.
Beispiele:
In diesem Land haben vor allem junge
Frauen um ihre Rechte zu kämpfen.
Die
Basisversion ist kostenlos herunterzuladen.
- Sie regieren beide den zu-Infinitiv.
- Sie werden nicht im Imperativ gebraucht.
- Sie haben keinen eigenen Valenzrahmen.
- Sie werden dazu verwendet, Propositionen in bestimmten Kontexten, z. B. situativen Umständen, Normen oder Wissensvoraussetzungen, als möglich bzw. notwendig einzuordnen.
haben zu
1. Das Verb haben im Verbalkomplex mit haben zu hat keinen eigenen Valenzrahmen und überträgt lediglich denjenigen des regierten Verbs auf den Verbalkomplex:
Wer zu spät zum Training kam, hatte eine Strafe zu zahlen.
Semantisch drückt der Verbalkomplex mit haben zu eine extrasubjektive Notwendigkeit mit hohem Verbindlichkeits- bzw. Verpflichtungsgrad aus:
Er hatte eine Strafe zu zahlen. >> Er musste eine Strafe zahlen.
Im Gegensatz zu müssen kann haben zu nicht verwendet werden, wenn aufgrund der Semantik des regierten Verbs eine intrasubjektive Notwendigkeit ausgedrückt wird:
Durch die Negation wird entweder die Notwendigkeit aufgehoben:
oder die Handlung wird als nicht zugelassen dargestellt:
2. haben zu findet sich in Verbindung mit bestimmten Verben in lexikalisierten Wendungen:
Das hat nichts zu sagen. [= das spielt keine Rolle]
Sie haben hier nichts zu suchen. [= Sie sind hier nicht erwünscht]
Folgt ein Akkusativ, erhält die modale Relation je nach Kontext und Situation entweder eine Notwendigkeits-Interpretation:
oder eine Möglichkeits-Interpretation:
Eine wichtige Rolle spielt dabei die Definitheit der akkusativischen NP:
sowie auch die Semantik des Vollverbs:
wobei manchmal erst der weitere Kontext entscheidet:
Bei Fragesätzen kann die Verwendung von haben zu volitiv interpretiert werden:
[Vgl. Haben Sie noch eine Frage? = Möchten Sie noch eine Frage stellen?]
sein zu
Der Verbalkomplex mit sein zu steht zu dem Vollverbinfinitiv in Konversion. In der Regel entspricht die Möglichkeit einer sein-zu-Konverse derjenigen der deontischen (extrasubjektiven) Modalität bzw. derjenigen der Passivierbarkeit des entsprechenden Verbs. Die Komplemente des Verbalkomplexes mit sein zu werden im Vergleich zu den Komplementen des Vollverbs in umgekehrter Reihenfolge eingebunden; das Akkusativkomplement des Vollverbs wird zum Subjekt des Verbalkomplexes mit sein zu (vgl.: Patiens), das Subjekt des Satzes mit Vollverb wird zum fakultativen Präpositivkomplement (vgl. Agens), das meist entfällt.
..., dass diese Arbeit bis morgen leicht zu erledigen ist.
Die durch sein zu ausgedrückte modale Relation kann je nach Ko- oder Kontext als eine Verpflichtung (= müssen) oder als eine Möglichkeit (= können) interpretiert werden:
Diese Arbeit ist bis morgen zu erledigen. [=
muss bis morgen erledigt werden]
Diese
Arbeit ist leicht zu erledigen. [= kann problemlos erledigt
werden]
Vollverben
Auch einige Vollverben können modal gebraucht werden. Die Verben brauchen und gehören, scheinen, drohen und pflegen haben dabei eine andere Bedeutung als im Vollverbgebrauch.
Vollverb | Vollverb in modaler Verwendung | |
brauchen | Wenn man in einer schwierigen Lebensphase steckt, braucht man vor allem Freunde, die zuhören können. | Wenn man immer schlecht gelaunt und mürrisch ist, braucht man sich nicht zu wundern, dass man keine Freunde hat. |
gehören | In Entwicklungsländern gehört ein Großteil des Kapitals einer verschwindenden Minderheit von Besitzenden. | Immer mehr Bürger gelangen zu der Überzeugung, dass das Rauchen in der Öffentlichkeit abgeschafft gehört. |
scheinen | Nach einem Sommergewitter scheint die Sonne meist schnell wieder zwischen den Wolken hervor. | Infolge der Erderwärmung scheinen die krassen Unterschiede zwischen den Jahreszeiten allmählich zu verschwinden. |
drohen | Wenn in der Metallindustrie Arbeitsplätze gestrichen werden, drohen die Gewerkschaften gewöhnlich mit Streikaktionen. | Ein Streik droht auszubrechen, da in der Metallindustrie Arbeitsplätze gestrichen werden sollen. |
pflegen | Früher galt es als selbstverständlich, dass Frauen nicht berufstätig waren und ihre alten Eltern pflegten, wenn diese krank und gebrechlich wurden. | Früher pflegte man seinen Angehörigen und Freunden aus der Ferne Briefe zu schreiben, doch das ist im Zeitalter der Handys und des Internet vorbei. |
- Sie haben eine andere Bedeutung als ihre Vollverbvarianten.
- Sie regieren alle - außer gehören - den zu-Infinitiv.
- gehören regiert das Partizip II.
- Sie werden nicht im Imperativ gebraucht.
- Sie haben keinen eigenen Valenzrahmen. Sie übertragen lediglich den Valenzrahmen des Verbs, das sie regieren, auf den Verbalkomplex (bei gehören wird der Valenzrahmen in veränderter Form [Konversion] übertragen.)