Hilfsverben im Verbalkomplex
Die Hilfsverben im Paradigma der Vollverben
Als Hilfsverben werden die Verben haben, sein und werden bezeichnet, wenn sie mit einer oder mehreren infiniten Verbformen kombiniert werden, z. B.:
(2) Che Guevara hat sicherlich den Armen helfen wollen. [Salzburger Nachrichten, 26.01.1998]
(3) Die Arbeitslosigkeit in Nordrhein-Westfalen ist in den letzten Monaten leicht angestiegen.
(4) Die Spargel-Saison ist eröffnet.
(5) Im Bereich Kinderbetreuung werden jährlich zwischen elf und 14 Arbeitsplätze geschaffen.
(6) Wir werden diese Inszenierung ganz rasch vergessen haben. [Die Zeit (Online-Ausgabe), 25.04.2001]
(7) Anfang 2005 wurde ein Friedensabkommen für Südsudan unterschrieben.
Die Verbindung der Hilfsverben mit einem Vollverb oder Modalverb wird Verbalperiphrase genannt. Die Verbalperiphrase ist eine komplexe Verbform, sie heißt auch "umschriebene", "periphrastische" oder "analytische" Verbform. In den zusammengesetzten Tempuskategorien (Präsensperfekt, Präteritumperfekt, Futur, Futurperfekt; frz. jeweils parfait, plus-que-parfait, futur (1), futur (2 / futur antérieur)) und im Passiv kommen nur Verbalperiphrasen vor.
Rektion und Funktion der Hilfsverben
Die Hilfsverben werden nach ihrer Rektion und Funktion im verbalen Paradigma in vier Gruppen geordnet:
- haben und sein (beide in Tempus- und Moduskonstruktionen)
- werden in der Verwendung von werden I (= werden in Tempus- und Moduskonstruktionen)
- werden in der Verwendung von werden II (= werden in Passivkonstruktionen)
- sein in der Verwendung von sein II (= sein in Passivkonstruktionen)
haben und sein dienen in erster Linie zur Bildung der periphrastischen Formen des Präsensperfekts und Präteritumperfekts im Indikativ und in den entsprechenden Konjunktiven:
- Beide Hilfsverben regieren dabei das Partizip II eines Vollverbs:
- Er hat/hatte gearbeitet.
Er habe/hätte gearbeitet. - Er ist/war gekommen.
Er sei/wäre gekommen.
- Er hat/hatte gearbeitet.
- haben regiert auch das Partizip eines Modalverbs (a) oder den
Ersatzinfinitiv eines Modalverbs im Präsensperfekt bzw. im Präteritumperfekt (b): Infinitiv eines
Modalverbs
- Er hat gewollt.
- Er hat kommen wollen.
Er hatte mitkommen wollen.
- Nur sein wird zur Bildung der beiden Perfektparadigmen im
werden-Passiv gebraucht. Es regiert dann die Partizipialsonderform
worden von werden II, auf diese Weise wird eine zweifache
Präfigierung von ge- (beim Vollverb und beim Hilfsverb) vermieden (vgl.
b):
- Er ist/war gerufen worden.
Er sei/wäre gerufen worden. - *Er ist gerufen geworden.
- Er ist/war gerufen worden.
Das Partizip II vom Vollverb werden (frz. devenir) ist geworden; das Partizip II von werden in Passivkonstruktionen ist worden:
Ein/Sein/Mein Traum ist Wirklichkeit geworden. [= Un/Son/Mon rêve est devenu réalité]
Anne Frank war drei Monate vor der Ankunft in Auschwitz 15 Jahre alt geworden. [= Anne Frank venait d’avoir 15 ans trois mois avant son arrivée à Auschwitz.]
werden I dient zur Bildung der periphrastischen Tempusformen des Futurs und des Futurperfekts sowie der konjunktivischen würde-Form. In dieser Verwendung regiert werden
- den Infinitiv eines Vollverbs:
Das Mädchen wird/werde/würde rufen. - den Infinitiv eines Modalverbs:
Das Mädchen wird arbeiten müssen. - den Infinitiv des Hilfsverbs haben oder sein
(bzw. den Infinitiv Perfekt):
Das Mädchen wird gerufen haben.
Das Mädchen wird gekommen sein. - den Infinitiv werden II:
Das Mädchen wird gerufen werden.
Zum Gebrauch des Futurs im Deutschen
werden II dient zur Bildung des werden-Passivs im Indikativ und in den entsprechenden Konjunktiven. In dieser Verwendung regiert werden
- das Partizip II eines Vollverbs:
Das Mädchen wird/wurde gerufen.
Das Mädchen werde/würde gerufen.
das Partizip II eines Modalverbs in Vollverbverwendung:
Das wird immer gewollt.
Um zu bestimmen, was sein soll, muss man wissen, was gewollt wird. (Internetbeleg)
Das werden-Passiv wird hier als zentrales Passiv betrachtet. Am Rande des verbalen Paradigmas befindet sich das sein-Passiv. Dabei handelt es sich um Kombinationen aus dem Hilfsverb sein und dem Partizip II:
Das Haus war schon lange gebaut.
Das Haus wird bis dahin gebaut sein.
Das Haus ist damals schon gebaut gewesen.
Das sogenannte "sein-Passiv", also die Struktur sein+Part. II, entspricht einer resultativen Perspektive und fokussiert die Abgeschlossenheit des Prozesses, im Gegensatz zum werden-Passiv, das den Prozess in seinem Ablauf zeigt. Daher wird das Agens auch, wenn überhaupt, in der Regel nur beim werden-Passiv mit genannt (denn hier ist die Ausführung des Prozesses wichtig), kaum jedoch beim "sein-Passiv" (denn hier geht es nur darum, dass der Prozess vollendet ist). Die Resultativität des "sein-Passivs" leuchtet ein, wenn man bedenkt, dass es sich als Reduktion eines perfektischen werden-Passivs (also eines Passivs im Abgeschlossenheitsaspekt) erklären lässt. Dabei bleibt das Patiens Subjekt.
Das Haus ist schnell gebaut worden.
>> Das Haus ist nun seit einem Monat gebaut (= ist fertig).
Der Hof war (vom Hausmeister) gefegt
worden.
>> Der Hof war gefegt (= war sauber).
Dennoch ist die Grenze zu einer reinen Kopula+Prädikativum-Struktur fließend, denn nicht jede Zustandsbeschreibung dieser Art lässt sich auf ein werden-Passiv zurückführen, z. B. dann nicht, wenn kein Agens ausgemacht werden kann oder das Partizip zum Adjektiv erstarrt ist und/oder das Ausgangsverb in der Sprache nicht (mehr) existiert:
Die Straße bis zur Waldgaststätte war nicht
asphaltiert.
Der Himmel war bewölkt.
Börsenspekulant ist hoch verschuldet.
Die beiden Schauspieler sind gar nicht miteinander
verwandt.
Es ist daher ratsam, mit der Bezeichnung "Passiv" vorsichtig umzugehen; nicht jede Fügung sein + Part. II ist ein sein-Passiv.
Die folgende Tabelle bietet einen Überblick über die Rektion der einzelnen
Hilfsverben und die Funktion bzw. das Tempus der jeweils entstehenden Verbalkomplexe:
Hilfsverb | regierte infinite Verbform | Funktion des Verbalkomplexes |
sein | Partizip II eines Vollverbs | Präsensperfekt
und Präteritumperfekt, sein-Passiv |
sein | worden | Präsensperfekt und Präteritumperfekt im werden-Passiv |
haben | Partizip II eines Vollverbs/Modalverbs, Infinitiv eines Modalverbs | Präsens- und Präteritumperfekt |
werden I | Infinitiv eines Vollverbs/Modalverbs, Infinitiv des Hilfsverbs haben/sein (Infinitiv Perfekt), Infinitiv werden II | Futur, Futurperfekt, konjunktivische würde-Form |
werden II | Partizip II eines Vollverbs/Modalverbs | werden-Passiv |
Vollverbverwendung der Hilfsverben haben, sein und werden
Die Verben haben, sein und werden können auch als Vollverben verwendet werden.
haben
Im VALBU - Valenzwörterbuch deutscher Verben werden alleine 17 unterschiedliche Bedeutungen für die Vollverbverwendung von haben angenommen. Hierzu einige Beispiele:
Die Bedeutung "mit etw. ausgestattet sein" hat haben z. B. in Satz (1):
(1) Da haben Sie aber Glück gehabt, dass in diesem Moment nicht auch noch Gegenverkehr kam!
"von etwas befallen sein" in Satz (2) und (3):
(2) Max […] und Maren […] wird klar, dass der Igel Flöhe gehabt haben muss. [ZDF mediathek, 27.02.2007]
(3) Wer nicht als Kind die Masern hatte, läuft Gefahr, sie in schlimmerer Form als Erwachsener zu bekommen.
"besitzen" in Satz (4) und (5):
(4) Den Affen kennzeichnen Intelligenz und hohe Ansprüche. Er hat ein gutes Gedächtnis und viel Phantasie. (Internetbeleg)
(5) Heute haben auch in den neuen Ländern schon viele Familien mehrere Autos.
sein
Unter sein verzeichnet das VALBU Vollverbverwendungen, wie z. B. "von irgendwoher stammen" in Satz (6):
(6) Sie ist aus Småland. [die tageszeitung, 09.12.2005]
"etwas vertreten" in Satz (7) und (8):
(7) Der Logiker und Mathematiker Boole war der Auffassung, daß die Gesetze des Denkens die Gesetze der Logik sind. (Internetbeleg)
(8) Alle sind der Meinung, dass die Schuld für die Kindergartenmisere bei den Politikern liegt.
"stattfinden" in Satz (9) und (10):
(9) Wann ist die nächste Sitzung?
(10) Das Konzert ist erst am Sonntag.
werden
Auch für werden sind Vollverbbedeutungen verzeichnet:
Im Sinne von "entstehen" in Satz (11):
(11) Egal, was wird - es wird mich so oder so weiterbringen. [Hamburger Morgenpost, 06.05.2005]
Oder in der Bedeutung von "wieder in Ordung kommen, gesund werden" in Satz (12):
(12) "Das wird wieder, Kaptein. Bloß keine Panik. Das ist alles nicht ansteckend." [Hartwig, Hansi: Suse an Bord. S. 277]
sein und werden als Kopulaverben
Als Kopulaverben dienen sein und werden der Zuschreibung einer Identifikation, einer Eigenschaft (13) und bei Personen oft auch einer Berufsbezeichnung (14):
(13) Das Projekt war eine schöne Erfahrung. [Frankfurter Allgemeine, 05.09.2001]
(14) Erst später macht sie die Begabtenprüfung für die Pädagogische Hochschule und wird Lehrerin. [die tageszeitung, 23.01.2006]