Hilfsverben im Verbalkomplex
Die Hilfsverben haben, sein und werden beteiligen sich an der Bildung zusammengesetzter Tempus- und Genus-Verbi-Formen im Paradigma der Vollverben.
Die Hilfsverben im Paradigma der Vollverben
Als Hilfsverben werden die Verben haben, sein und werden bezeichnet, wenn sie mit einer oder mehreren infiniten Verbformen kombiniert werden, z. B.:
(die tageszeitung, 04.10.2004)
(2) Che Guevara hat sicherlich den Armen helfen wollen.
(Salzburger Nachrichten, 26.01.1998)
(3) Die Zahl der Kubatouristen ist 2003 deutlich gestiegen.
(die tageszeitung, 05.01.2004)
(4) Die Saison ist eröffnet.
(Berliner Zeitung, 05.04.2004)
(5) Zwischen elf und 14 solcher Arbeitsplätze werden jährlich geschaffen.
(Kleine Zeitung, 09.01.2000)
(6) Wir werden diese Inszenierung ganz rasch vergessen haben.
(Die Zeit (Online-Ausgabe), 25.04.2001)
(7) Vor vier Wochen wurde ein Friedensabkommen für Südsudan unterschrieben. (die tageszeitung, 08.02.2005)
Die Verbindung der Hilfsverben mit einem Vollverb oder Modalverb wird Verbalperiphrase genannt. Die Verbalperiphrase ist eine komplexe Verbform, sie heißt auch "umschriebene", "periphrastische" oder "analytische" Verbform. In den zusammengesetzten Tempuskategorien (Präsensperfekt, Präteritumperfekt, Futur, Futurperfekt) und im Passiv kommen nur Verbalperiphrasen zur Geltung.
Rektion und Funktion der Hilfsverben
Die Hilfsverben werden nach ihrer Rektion und Funktion im verbalen Paradigma in drei Gruppen geordnet:
- haben und sein
- werden in der Verwendung von werden I (= werden in Tempus- und Moduskonstruktionen)
- werden in der Verwendung von werden II (= werden in Passivkonstruktionen)
haben und sein dienen in erster Linie zur Bildung der periphrastischen Formen des Präsensperfekts und Präteritumperfekts im Indikativ und in den entsprechenden Konjunktiven:
- Beide Hilfsverben regieren dabei das Partizip II eines
Vollverbs:
- Er hat/hatte gearbeitet.
Er habe/hätte gearbeitet. - Er ist/war gekommen.
Er sei/wäre gekommen.
- Er hat/hatte gearbeitet.
- haben regiert auch das Partizip eines Modalverbs (a) oder
den Infinitiv eines Modalverbs (b):
- Er hat gewollt.
- Er hat kommen wollen.
- Nur sein wird zur Bildung der beiden Perfektparadigmen im
werden-Passiv gebraucht. Es regiert dann die Partizipialsonderform
worden von werden II, auf diese Weise wird eine
zweifache Präfigierung von ge- (beim Vollverb und beim Hilfsverb)
vermieden (vgl. b):
- Er ist/war gerufen worden.
Er sei/wäre gerufen worden. - * Er ist gerufen geworden.
- Er ist/war gerufen worden.
werden I dient zur Bildung der periphrastischen Tempusformen des Futurs und des Futurperfekts sowie der konjunktivischen würde-Form. In dieser Verwendung regiert werden
- den Infinitiv eines Vollverbs:
Das Mädchen wird/werde/würde rufen. - den Infinitiv eines Modalverbs:
Das Mädchen wird arbeiten müssen. - den Infinitiv des Hilfsverbs haben oder
sein (bzw. den Infinitiv
Perfekt):
Das Mädchen wird gerufen haben.
Das Mädchen wird gekommen sein. - den Infinitiv werden II:
Das Mädchen wird gerufen werden.
werden II dient zur Bildung des werden-Passivs im Indikativ und in den entsprechenden Konjunktiven. In dieser Verwendung regiert werden
- das Partizip II eines Vollverbs:
Das Mädchen wird/wurde gerufen.
Das Mädchen werde/würde gerufen. - das Partizip II eines Modalverbs (in Vollverbverwendung):
Das wird immer gewollt.
Das werden-Passiv wird hier als zentrales Passiv betrachtet. Am Rande des verbalen Paradigmas befindet sich das sein-Passiv. Dabei handelt es sich um Kombinationen aus dem Hilfsverb sein und dem Partizip II:
Die folgende Tabelle bietet einen Überblick über die Rektion der einzelnen Hilfsverben und die Funktion der jeweils entstehenden Verbalkomplexe:
Hilfsverb | regierte infinite Verbform | Funktion des Verbalkomplexes |
sein | Partizip II eines Vollverbs | Präsensperfekt und
Präteritumperfekt, sein-Passiv |
sein | worden | Präsensperfekt und Präteritumperfekt im werden-Passiv |
haben | Partizip II eines Vollverbs/Modalverbs, Infinitiv eines Modalverbs | Präsens- und Präteritumperfekt |
werden I | Infinitiv eines Vollverbs/Modalverbs, Infinitiv des Hilfsverbs haben/sein (Infinitiv Perfekt), Infinitiv werden II | Futur,
Futurperfekt, konjunktivische würde-Form |
werden II | Partizip II eines Vollverbs/Modalverbs | werden-Passiv |
Vollverbverwendung der Hilfsverben haben, sein und werden
Die Verben haben, sein und werden können auch als Vollverben verwendet werden.
haben
Im VALBU - Valenzwörterbuch deutscher Verben werden alleine 17 unterschiedliche Bedeutungen für die Vollverbverwendung von haben angenommen.
Die Bedeutung "mit etw. ausgestattet sein" hat haben z. B. in Satz (1):
"von etwas befallen sein" in Satz (2):
(ZDF mediathek, 27.02.2007)
sein
Unter sein verzeichnet das VALBU Vollverbverwendungen, wie z. B. "von irgendwoher stammen" in Satz (3):
"etwas vertreten" in Satz (4):
werden
Auch für werden sind Vollverbbedeutungen verzeichnet:
Im Sinne von "entstehen" in Satz (5):
(Hamburger Morgenpost, 06.05.2005)
Oder in der Bedeutung von "gesund werden" in Satz (6):
(Hartwig, Hansi: Suse an Bord. S. 277)
sein und werden als Kopulaverben
Als Kopulaverben dienen sein und werden der Zuschreibung einer Identifikation (7), einer Eigenschaft (8) und bei Personen oft auch einer Berufsbezeichnung (9):
(John F. Kennedy, 26. Juni 1963 vor dem Rathaus Schöneberg)
(8) Das Projekt war eine schöne Erfahrung.
(Frankfurter Allgemeine, 05.09.2001)
(9) Erst später macht sie die Begabtenprüfung für die Pädagogische Hochschule und wird Lehrerin.
(die tageszeitung, 23.01.2006)
(10) Schraml lehnt an seinem Auto, frühstückt Kippe und Kaffee. "Ich bin fertig", sagt er. (U15/AUG.04543 Süddeutsche Zeitung, 29.08.2015, S. 3; Fahrt zur Hölle)