Flexionsklassen der Verben

Zur Charakterisierung der Flexionseigenschaften von Verben werden im Deutschen traditionell die von Jacob Grimm im 19. Jahrhundert geprägten Bezeichnungen "stark" und "schwach" verwendet. Man unterscheidet zwei Hauptklassen von Vollverben: schwache und starke Verben, letztere sind sprachgeschichtlich gesehen die ältere Klasse. Grundlage dieser Einteilung ist die unterschiedliche Bildung der finiten Verbformen des Präteritums und der infiniten Verbform des Partizip II:

Bildung des Präteritums

  • Starke Verben bilden ihre Präteritalformen "aus eigener Kraft" durch Veränderung des Ablauts (Vokalwechsel), z. B. sehe — sah.
  • Schwache Verben bilden die Präteritalformen mit Hilfe eines formalen Zusatzelements (Suffix) durch Affigierung, z. B.: lache — lachte.

Bildung des Partizip II

  • Starke Verben affigieren ge-...-en an die Partizipialstammform, z. B. er hat gesungen.
  • Schwache Verben affigieren ge- an die Partizipialstammform (bzw. ge-...-(e)t an die Präsensstammform), z. B. er hat gelacht.
  • Verben mit festem Präfix affigieren nur das Suffix -(e)t bzw. -en, z. B. ich habe erzählt/verloren. Bei Verben mit abtrennbarem Präverb wird ge- wird zwischen Präverb und Verbstamm eingefügt, z. B. er wurde ausgelacht.

Eine kleine Gruppe von Verben trägt Züge sowohl schwacher als auch starker Flexion, ihre Vertreter werden deshalb gemischte bzw. unregelmäßig schwache Verben genannt.

Unter flexionsmorphologischen Gesichtspunkten bilden neben den Vollverben auch die Modalverben eine (mit Einschränkungen) homogene Flexionsklasse. Die Grundlage der Einteilung von Modalverben in eine gemeinsame Flexionsklasse ist durch die besondere, von den starken/schwachen Verben abweichende Distribution der Personal-/Numerussuffixe im Präsens gegeben (endungslose 1./3. Ps.).

Die Hilfsverben haben, sein und werden weisen uneinheitliche Flexionsmuster auf. Sie bilden keine eigene Flexionsklasse sondern werden traditionell den Hauptklassen zugeordnet oder gesondert betrachtet. Suppletivformen, die vereinzelt auch bei starken/gemischten Verben vorkommen, sind in den Flexionsparadigmen der Hilfsverben, insbesondere bei sein, sehr häufig.

Eine besondere Rolle bei der Klassifizierung der Verben spielen auch ihre Stammformen, die flexionsklassenabhängig unterschiedlich ausgeprägt sind (siehe unten).

Produktivität

Schwache Verben stellen im Deutschen die produktive Flexionsklasse für Verben dar. Neue Verb-Lexeme wie z. B. simsen, emailen, googeln, toppen, zappen nutzen das schwache Flexionsmuster:

Er fand ein Bier im Kühlschrank, setzte sich damit auf den Bettrand und zappte durch die Fernsehprogramme. (Mannheimer Morgen, 01.04.2004)
Alle tippen fleißig SMS. Doch was wird heute eigentlich alles per Handy gesimst? (Hamburger Morgenpost, 03.02.2007)
Ich weiß noch, wie ich nach dir gegoogelt hab, weil’s Google ja noch gab. (Fettes Brot, "Boyfriend" (2015), zitiert nach: songkorpus.de)

Das starke bzw. gemischte Flexionsmuster ist heutzutage hingegen nicht mehr produktiv, in dem Sinne, dass die Anzahl der entsprechend flektierenden Verben abzunehmen scheint und neue in den Sprachgebrauch einfließende Verben schwach flektieren.

Flexionsklassenwechsel vollziehen sich im heutigen Deutsch zu Gunsten der schwachen Verben, wobei eine schwache und eine starke/gemischte, teilweise nur einzelne Stammformen betreffende Konjugation parallel Bestand haben können, z. B. fragen – fragte(frug) – gefragt.

Verbale Stammparadigmen

Die Stammformen eines Verbs können im Deutschen flexionsklassenabhängig entweder genau zwei (schwache Verben) oder bis zu fünf (starke Verben) verschiedene formale Ausprägungen besitzen. Letztere unterscheiden sich hauptsächlich durch einen Vokalwechsel, der den Vokal der Stammform des einfachen (einteiligen) Verbs betrifft, z. B.:

schwach: lach-, lachte- (oder: lacht-)
stark: sprech-, sprich-, sproch-, sprach-, spräch-

Zum Vokalwechsel kann in einzelnen Fällen begleitend ein Konsonantenwechsel treten, der wie bei sprech-[ç]/sproch-[x] (Allophone) vorhersagbar ist. Die Konsonantenwechsel im Flexionsparadigma einiger starker (z. B. zieh-/zog-) und gemischter Verben (z. B. bring-/brach-) sind das Ergebnis historischer Lautwandelprozesse (vgl. Vernersches Gesetz), von denen nur bestimmte Stammformen im Paradigma betroffen waren. Von Suppletion bzw. Suppletivformen ist die Rede, wenn in Flexionsparadigmen Wortformen vorkommen, die mit verschiedenen, nicht (durch Vokalwechsel) abgeleiteten Stammformen gebildet werden. Suppletivformen können wie bei den oben erwähnten Konsonantenwechsel als Ergebnis historischer Lautwandelprozesse vergleichsweise geringe morpho-phonologische Unterschiede aufweisen oder wie bei sein/war völlig unterschiedlich sein (vgl. unregelmäßige Komparationsformen der Adjektive).

Den Stammformen kommt in Verbindung mit den Flexionssuffixen die Funktion zu, die Flexionskategorien finiter Verformen zu kennzeichnen bzw. infinite Verbformen (Infinitiv/Partizip II) zu bilden. Die Stammformen bilden ein verbspezifisches Stammparadigma, dessen Aufbau flexionsklassenabhängig ist, d. h. bei schwachen, gemischten und starken Verben haben die Stammformen unterschiedliche Ausprägungen:

  • Die Stammformen schwacher Verben lassen sich aus der Präsensstammform herleiten. Die Stammparadigmen starker Verben sind vielfältig, lassen sich aber unter gewissen Gesichtspunkten (Ablautreihen, phonologische Bedingungen) ordnen.
  • Die Modi Indikativ, Konjunktiv und Imperativ lassen sich aus den Tempusstammformen herleiten.
  • Der Infinitivstamm ist bei schwachen, gemischten und starken Verben immer mit der (primären) Präsensstammform identisch.

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