Was Prädikate zu Prädikaten macht

Charakterisierung von Gegenständen, wie sie mit Prädikaten vorzunehmen ist, kann als eine Art Spiel betrachtet werden, bei dem beliebige Gegenstände unter dem Gesichtspunkt zu sortieren sind, ob sie ein bestimmtes Charakteristikum aufweisen oder nicht.

Ein einfaches Beispiel

Jemandem werden der Reihe nach verschiedenfarbige Äpfel vorgelegt.

Er hat jeweils zu rufen:

Rot!

wenn der Apfel diese Farbe aufweist, oder

Nicht rot!

wenn er diese Farbe nicht aufweist.

Gebrauchsregeln und wie man sie lernt

Was rot in diesem einfachen Spiel zum Ausdruck eines Charakteristikums macht, ist der Umstand, dass sein Gebrauch nicht zufällig oder im Belieben des Spielers ist, sondern bestimmten Ansprüchen oder Bedingungen zu genügen hat. Der Gebrauch von rot durch den Spieler basiert vielmehr auf einer für alle Mitspieler geltenden Gebrauchsregel, die bestimmt, dass korrekterweise als rot nur klassifiziert werden darf, was so ist, wie das Muster roter Dinge, anhand derer eine Verwendungsweise für rot eingeführt wurde.

Gebrauchsregeln für sprachliche Ausdrücke sind nicht naturgegeben. Bevor ein Ausdruck wie rot zum Zweck der Charakterisierung gebraucht werden kann, muss eine entsprechende Regel eingeführt worden sein. Das könnte etwa im Zug eines Lehrspiels, ganz in der Art des hier beschriebenen Spiels, erfolgt sein, mit dem jedoch nicht die Fähigkeit des Probanten abgeprüft würde, das Prädikat korrekt anzuwenden, sondern exemplifiziert würde, was jeweils als rot gelten kann und was nicht.

Die doppelte Nutzung des simplen Klassifikationsspiels entspricht einer alltäglichen Erfahrung: Was für den einen die Anwendung einer Regel ist, kann für einen anderen ein Beispiel im Zuge seines Lernprozesses sein. Bei natürlichem, ungesteuertem Spracherwerb sind die Gebrauchsregeln von Prädikaten en passant zu erlernen, denn das Sprachspiel ist längst im Gang, wenn man als Neuling hinzukommt: Sprachteilhaber, die bereits gelernt haben, wie ein Ausdruck zu gebrauchen ist, verwenden den Ausdruck entsprechend seiner Gebrauchsregel. Neu Hinzukommende erschließen sich die Regel aus ihrer Anwendung in der Kommunikation, ganz so, wie man durch Beobachtung eines Spiels nach und nach die Regeln erschließen kann, nach denen es gespielt wird.

Dass es Menschen gelingt, in dieser Weise Spielregeln allein durch Beobachtung der Spielpraxis zu erschließen, ist alles andere als selbstverständlich, kann aber als gegeben vorausgesetzt werden. Das gilt auch, wenn die Dinge weniger einfach liegen als das obige Beispiel nahe legen könnte, insbesondere auch dann, wenn sich ein Prädikat nicht in Form eines Anschauungsunterrichts einführen lässt und keine Bedingungen gegeben sind, die eindeutig als Lehr- und Lernsituationen zu verstehen sind.

Für einen Sprecher, der die Verwendungsweise eines Prädikats erst lernen muss, hat dessen Gebrauch zunächst den Charakter einer definitorischen Setzung. Er muss das Prädikat in der gegebenen Verwendung als zutreffend betrachten, denn täte er dies nicht, hätte er keine Chance, die Verifikationsregeln zu erlernen, die den Gebrauch des Prädikats bestimmen. Erst, wenn er darin einige Sicherheit erlangt hat, kann er beobachtete Verwendungungen auch als unzutreffend erkennen.

Die Qualifikation von Prädikaten zur Charakterisierung ist darin begründet, dass Sprecher einer gemeinsamen Sprache von den Verifikationsregeln dieser Prädikate hinreichend ähnliche Kenntnis haben, denn Prädikate charakterisieren unter Verweis auf die Regel der Verifikation.

Das bedeutet auch, dass die in einem Prädikat gefasste Charakteristik keine eigenständige Größe ist, sondern sich erst mit der Einführung des Prädikats konstituiert. Prädikate stehen mithin nicht für abstrakte Eigenschaften, die in den Prädikaten auf einen eher äußerlichen Nenner gebracht wären.

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Autor(en)
Bruno Strecker
Bearbeiter
Elke Donalies
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