Was kann prädiziert werden?

Methodische Vorüberlegungen

Zu fragen, was denn überhaupt prädiziert werden kann, ist von praktischem wie theoretischem Interesse.

  • Das praktische Interesse gilt der Frage nach den im Deutschen gegebenen Möglichkeiten der Prädikation.
  • Das theoretische Interesse gilt der Frage, ob diese Möglichkeiten grundsätzlich begrenzt sind.

In jedem Verständnis führt die Frage, was prädiziert werden kann, zu Problemen, die keine direkte und einfache Antwort erlauben. Die praktische Frage sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass auf Anhieb kein Verfahren zu erkennen ist, nach dem aufzulisten wäre, was prädiziert werden kann. Die theoretische Frage erweist sich, entgegen dem ersten Eindruck, schon hinsichtlich ihrer Voraussetzungen als problematisch.

Theoretische Frage

Sie ist problematisch, weil unklar ist, was als Grenze der Möglichkeiten der Prädikation gelten soll. Prädiziert werden kann alles, was sich in irgendeiner Hinsicht für eine Charakterisierung eignet. So weit ist die Sache klar und uninteressant. Interessant ist erst, ob sich hinsichtlich eines Gegenstands, für den man einen Charakterisierungsbedarf annehmen könnte, erfahrbare Grenzen finden.

Für die Existenz solcher Grenzen scheint manches zu sprechen. Wohl jeder Sprachteilhaber macht irgendwann die Erfahrung, etwas gar nicht oder zumindest nur unbefriedigend beschreiben zu können. Wenn ihm so 'die Worte fehlen', dann kann das natürlich daran liegen, dass seine Sprachkompetenz unzureichend ist. Es könnte aber auch sein, dass er dabei an einer Grenze der Sprache angekommen ist, also an einer öffentlichen Grenze.

Wenn Begrenztheit der Möglichkeiten der Prädikation heißen soll, dass man die Erfahrung der Sprachlosigkeit jenseits privater Grenzen machen kann, dann ist diese Begrenztheit sicher anzuerkennen. Es darf allerdings bezweifelt werden, dass damit eine bedeutende Einsicht in die Natur der Prädikation gewonnen wurde: Die so bestimmte Grenze kann zwar ganz allgemein postuliert werden, es bleibt aber unmöglich anzugeben, wo sie verläuft. Es gelingt nicht, auch nur eines anzugeben, das jenseits dieser Grenze läge.

Die Unfähigkeit, ein Jenseits der Grenze zu bestimmen, hat nicht nur kontingente Gründe. Sie ist grundsätzlicher Natur. Sie ist begründet in dem Umstand, dass die Angabe dessen, was jenseits der Grenze liegt, mit eben den Mitteln zu erfolgen hätte, die nach Voraussetzung der Grenze nicht mehr zur Verfügung stehen können. Solange wir noch sagen können, was angebbar sein sollte, sind wir immer noch diesseits der Grenze und haben es deshalb auch nicht wirklich mit Unsagbarem zu tun.

Da es also in diesem Sinn nichts gibt, was sich nicht prädizieren lässt, kann die theoretische Frage so beantwortet werden: Alles, wovon überhaupt erwogen werden kann, es zu prädizieren, kann auch prädiziert werden.

Praktische Frage

Die praktische Frage, was prädiziert werden kann, steht vor einem eher technischen Problem: Wie ist die unüberschaubare Menge möglicher - minimaler - Prädikate so in den Griff zu bekommen, dass man einen Überblick über die Möglichkeiten der Prädikation gewinnt? Um eine Lösung für dieses Problem zu finden, muss man sich zunächst davon Rechenschaft geben, welches die Gründe für die Existenz einer solchen Unzahl von Prädikaten sind. Die gewaltige Menge von Prädikaten ist nämlich keineswegs in der Natur der zu charakterisierenden Gegenstände und Beziehungen begründet, sondern darin, dass wir, aus Gründen, die mit der Gestaltung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens zu tun haben, so fein differenzierte Charakterisierungen brauchen. Um diesem Bedarf zu genügen, haben wir einerseits ein großes Repertoire an elementaren Charakterisierungsmöglichkeiten entwickelt, andererseits Strategien, dieses Repertoire durch Bildung komplexer Ausdrücke vielfältig zu nutzen.

Wenn von der Komplexität der Prädikate die Rede ist, wird es wichtig, von Anfang an zwei voneinander unabhängige Typen von Komplexität zu unterscheiden: die Komplexität des Prädikatsausdrucks und die Komplexität des Prädikats. Prädikatsausdrücke können als Ausdrücke komplex gebaut sein, ohne dass ihre Komplexität einen Schluß auf eine entsprechende Komplexität des Prädikats erlaubt. Die Komplexität der Prädikate selbst ist abhängig vom Vorgang ihrer Verifikation: Einfache Prädikate sind solche, deren Verifikationsregel gewissermaßen in einem Zug anzuwenden ist; komplexe Prädikate sind solche, deren Verifikation in Stufen zu erfolgen hat.

Ein einfaches Prädikat liegt etwa in Prädikatsausdrücken vor wie träumt, rot sein, zur Sprache kommen, Arbeiter sein. Komplex ist das Prädikat dagegen in diesen Fällen:

Die Feuerwehr musste ausrücken.
Ihre Sorgen verschwanden schnell.
Der Vorgesetzte ließ ihn feuern.
Sie schlugen ihn grün und blau.

Die Menge der möglichen Prädikatsausdrücke basiert auf einem sehr großen, aber endlichen Vokabular von Lexemen und Morphemen, die nach bestimmten, ebenfalls endlichen Prinzipien kombiniert werden können. Siehe Elementare Prädikate und Verbalkomplex.

Generell gilt:

Die komplex gebauten Prädikatsausdrücke sind so gehalten, dass sie das in den Lexemen der Sprache gespeicherte Charakterisierungspotential auf ein Vielfaches dessen steigern können, was eine charakterisierende Verwendung einzelner Lexeme leisten könnte.

So können etwa auf der Basis eines charakterisierungsfähigen Ausdrucks gleich mehrere konverse Prädikate formuliert und verschiedene temporale und prozedurale Aspekte zur Sprache gebracht werden. Um die Frage beantworten zu können, was prädiziert werden kann, muss zunächst dieses elementare Charakterisierungspotential erfasst werden.

Mit der Erfassung des elementaren Charakterisierungspotenzials wird nicht nur das Erzeugendensystem für die Bildung von Prädikatsausdrücken erarbeitet, man gibt zugleich Rechenschaft von dem, was man in einem von der Optik inspirierten Vergleich als das Auflösungsvermögen der Sprache bezeichnen könnte: Die Prädikate, über die eine Sprache verfügt, sind bestimmend dafür, wie differenziert durch sie oder in ihr die Welt zu erfassen ist. Das Rastermaß dieser Differenzierung wiederum wird durch die Einheiten des elementaren Charakterisierungspotenzials gebildet.

Ein Beispiel:
Sprecher des Deutschen verfügen über eine bestimmte Anzahl von elementaren Farbausdrücken wie rot, grün, oliv, lila, mauve, dazu über Mittel, Nuancen feiner zu bestimmen wie hellrot, smaragdgrün. Beides erlaubt zufriedenstellende Farbbeschreibungen, bleibt aber notwendig dem Maß verhaftet, das die Sprache mit ihrem elementaren Charakterisierungspotenzial setzt. Grundsätzlich anders geartete Differenzierungen sind so wenig möglich wie die Umrechnung von Kreis- in Quadratflächen.

Elementares Charakterisierungspotenzial

Es gibt sprachliche Ausdrücke, die sich für Charakterisierungsaufgaben eignen, und solche, die das nicht tun. Man hat dies schon lang erkannt und versucht, dieses Phänomen dadurch zu erfassen, dass man von bedeutungstragenden Wörtern versus bedeutungslosen oder 'leeren' Wörtern sprach oder auch von Wörtern mit selbständiger Bedeutung, den sogenannten Autosemantika, versus Wörtern mit unselbständiger Bedeutung bzw. mitbedeutenden Wörtern, den sogenannten Synsemantika.

Bestimmte Ausdrücke können dazu genutzt werden, Klassifikationen vorzunehmen. Genau diese Qualifikation müssen sprachliche Ausdrücke aufweisen, die dem elementaren Charakterisierungspotenzial zuzurechnen sind. Man kann deshalb die Wörter der Sprache daraufhin überprüfen, ob sie sich zur Klassifikation eignen oder nicht. Aus praktischen Gründen ist es allerdings kaum möglich, eine solche Überprüfung erschöpfend durchzuführen und hier die Ergebnisse aufzulisten: Es gibt ganz einfach zu viele Wörter. Man erkennt aber schnell, dass es nur Wörter bestimmter Wortklassen sind, die sich bei einer Überprüfung als geeignet erweisen: Substantive, Adjektive und Verben.

Zwei Fragen können sich stellen.

  1. Wieso sind es gerade diese Wortklassen, die das elementare Charakterisierungspotenzial ausmachen?
  2. Warum sind es drei verschiedene Klassen?

Frage (a) ist so zu beantworten: Es handelt sich genau um jene Wortklassen, deren Elemente insofern Bedeutung haben, als sie ein Klassifikationspotenzial darstellen. Dass es sich zugleich um die mächtigsten Wortklassen handelt, darf nicht überraschen: Schließlich liegt der Reichtum unserer Ausdrucksmöglichkeiten vor allem an der Befähigung zu differenzierten Charakterisierungen.

Frage (b) mag etwas überraschen. Tatsächlich lässt sich die Existenz dreier verschiedener Klassen von Charakterisierungsausdrücken in der heutigen Sprache kaum noch erklären. Es ist vorstellbar, dass eine Sprache hier keine Unterschiede kennt und nur eine Klasse solcher Ausdrücke aufweist. Immerhin verfügen wir auch im Deutschen über Prozeduren, aus fast schon beliebigen Elementen einer dieser Klassen Elemente einer anderen zu bilden.

Einige Beispiele:

Deine Hände sind aber schön.
Schönheit muss leiden.
Der Wein war offenbar geschönt.
Ich wollte schon immer mal mit einer Tante JU fliegen.
Der Flug war nicht ganz ungefährlich.
Peterchen saß in einer fliegenden Untertasse.
Holz am Bau macht das Wohnen gemütlich.
Die Bayern haben vielleicht geholzt.
Das Kraut war leider etwas holzig.

Historisch ist die Differenzierung in Substantive, Adjektive und Verben möglicherweise darin begründet, dass sie mehr statische bzw. dynamische Konzepte artikulierten. Siehe hierzu Talmy Givón, On Understanding Grammar, New York, San Francisco, London 1979. Für eine Klärung der aktualen Verhältnisse ist eine Spekulation über die historischen Ursachen allerdings wenig hilfreich.

Fazit

Das elementare Charakterisierungspotenzial, das sich im Deutschen in Elementen der Wortklassen der Substantive, Adjektive und Verben manifestiert, wird in Prädikaten nicht immer unmittelbar zur Geltung gebracht. Oft sind komplexe Funktionsgefüge erforderlich, um auf der Basis elementarer Charakterisierungsausdrücke einen Prädikatsausdruck zu formulieren. Festzuhalten ist auch, dass das Charakterisierungspotenzial nicht allein für die Aufgabe einer genuinen Prädikation zu nutzen ist. Es wird ebenso gebraucht, wenn etwa ein Gegenstand einer Prädikation auf dem Weg einer Charakterisierung zu spezifizieren ist. Siehe hierzu Argumente des Prädikats.

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Autor(en)
Bruno Strecker
Bearbeiter
Elke Donalies
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