Dimensionen einer Charakterisierung durch Pradikate

Klassifikationverfahren

Ob etwas als rot gelten kann oder nicht, hat im Allgemeinen nichts damit zu tun, ob es auch als genehmigungsfahig oder dickflussig gelten kann. Wechselseitige Unabhangigkeit von Eigenschaften und damit zugleich der entsprechenden Pradikate ist aber nicht immer gegeben. Pradikate sind in aller Regel keine Einzelganger. Typisch ist vielmehr, dass ganze Spektren von Pradikaten verfugbar sind, deren Verifikationsregeln sich uberschneiden, einschlie?en oder ausschlie?en konnen: Was ganz rot ist, kann auch dunkelrot sein, ist in jedem Fall farbig und gewi? nicht grun.

Die offensichtlichen Zusammenhange zwischen den Wahrheitsbedingungen von Pradikaten erlauben es, regelrechte Dimensionen der Charakterisierung durch Pradikate zu bestimmen und so die fast unuberschaubare Menge verfugbarer Pradikate etwas zu ordnen. Eine Charakterisierung als 'rot' etwa erfolgt im Hinblick auf die Farbe. Sie weist dem so charakterisierten Gegenstand hinsichtlich der Dimension der Farbigkeit den Wert 'rot' zu.

Die Pradikate einer Sprache zu ordnen ist aus vielen Grunden nutzlich, vor allem, weil sie fremdsprachigen Lernern den Zugriff auf ganze Beschreibungsrepertoires erleichtert. Doch nicht immer liegt ein Ordnungsprinzip so auf der Hand, dass man es fur naturgegeben halten konnte. Die Aspekte der Charakterisierung, die sich auf diese Weise bestimmen lassen, sind theoretische Konstruktionen von mehr oder weniger gro?er Allgemeinheit, deren Wert allein ihr praktischer Nutzen bestimmt: Sehr allgemeine Dimensionen - wie etwa Konkretheit - und sehr spezielle Dimensionen - wie etwa Schnabelformigkeit - sind da von eher geringem Interesse.

Die Charakterisierungsdimensionen, die hier angesetzt werden, halten sich auf einer mittleren Ebene. Die Generalisierungen, die dabei vorgenommen werden, sollten fur praktische Zwecke brauchbar sein, doch dienen sie in erster Linie der Demonstration des Ordnungsverfahrens.

Auch wenn verschiedenste Einteilungen denkbar sind, so sind doch nicht beliebige Ordnungen moglich. Der Versuch aufzuklaren, in welchen Dimensionen Charakterisierungen moglich sind, muss uber eine Analyse der Sprache fuhren und kann nicht etwa bei - vermeintlich - sprachunabhangigen Eigenschaftssystemen oder gar bei den zu charakterisierenden Sachen selbst ansetzen.

Dimensionen der Charakterisierung zu finden, fuhrt uber eine Auswertung der logischen Beziehungen, die zwischen den Pradikaten einer Sprache bestehen: Fur jedes Pradikat gelten ganz spezifische Bedingungen, unter denen es als wahr oder unwahr zu gelten hat. Die logische Sprachanalyse setzt diese Bedingungen zueinander ins Verhaltnis und stellt dann fur jedes Paar von Pradikaten fest, wie ihre Wahrheitsbedingungen sind.

I. Die Wahrheitsbedingungen sind identisch, was typischerweise bei Pradikaten der Fall ist, die mit passivfahigen Verben zu bilden sind.

Weltweit, informiert uns das neumodische Miniaturformat "Pro7-Spotpremiere", werden sekundlich 3.300 Tassen Nescafe getrunken, "von Menschen unterschiedlichster Herkunft, Kultur und Meinung".
(die tageszeitung 6.4.1998, 14)
Menschen unterschiedlichster Herkunft, Kultur und Meinung trinken sekundlich 3.300 Tassen Nescafe.

II. Die Wahrheitsbedingungen sind so beschaffen, dass, wenn das eine zutrifft, das andere zutreffen muss, aber nicht umgekehrt.

Fledermause sind Saugetiere, die sich von anderen Tieren durch ein einzigartiges Merkmal unterscheiden: Ihre "Arme" und "Hande" sind durch Haute zu einem Flugel umgebildet.
(Berliner Zeitung 26.8.1998, VI)
Fledermause sind Wirbeltiere, die sich von anderen Tieren durch ein einzigartiges Merkmal unterscheiden.

III. Die Wahrheitsbedingungen schlie?en ein gleichzeitiges Zutreffen aus.

Die 10-Francs-Munzen sind kleiner als die 5 -Francs-Munzen, zum Telefonieren braucht man eine Kreditkarte, und auf der Cartoon-Ausstellung finden sich zwar seine Hepp-Cat- und Sally-Cat-Zeichnungen, aber die Gags versteht ja sowieso keiner.
(die tageszeitung 14.9.1989, 13)
Die 10-Francs-Munzen sind gro?er als die 5-Francs-Munzen.

IV. Die Wahrheitsbedingungen sind voneinander unabhangig.

Pinguine sind in ihrer Gestalt perfekt auf Energiesparen ausgerichtet.
Pinguine sind Vogel.
Pinguine sind Tiere der Sudpolregion.

Das Prinzip der Analyse ist einfach und musste automatisch zur Entdeckung aller moglichen Dimensionen der Charakterisierung fuhren, wenn sich die Analyse fur alle Pradikate unserer Sprache durchfuhren lie?e: Durch Verrechnung der Ergebnisse der paarweisen Verhaltnisse lassen sich Teilmengen von Charakteristiken bestimmen, die dann jeweils als eine Dimension der Charakterisierung gelten konnten. Ein solches Vorgehen muss jedoch scheitern, da die Zahl zu verrechnender Pradikate praktisch unbegrenzt ware und nicht immer klar ist, unter welchen Bedingungen ein Pradikat als zutreffend gelten soll. Oft sind Sprachteilhaber daruber verschiedener Auffassung, und manchmal kommt man schon selbst nicht zu einem eindeutigen Urteil.

Ordnungsprinzipien

Grundsatzlich sind zwei Ordnungsprinzipien moglich.

  1. Man kann Pradikate zusammenfassen, denen gemeinsam ist, dass sie ein bestimmtes allgemeineres Pradikat implizieren.
  2. Man kann Pradikate zusammenfassen, die sich gegenseitig exkludieren oder implizieren.

Wird Prinzip (b) zur Klassenbildung genutzt, ergeben sich - von unterschiedlichen Intuitionen einmal abgesehen - homogene Klassen. Pradikate, die solchen Klassen angehoren, werden in aller Regel nicht koordiniert, weil dies entweder zu Kontradiktion oder zu - zumindest stilistisch unglucklichen - Verbindungen von Beschreibungsebenen fuhren musste:

Das Tau ist dick und dunn.
Der alte Senator war reich und arm.
Die Bluse war rot und farbig.

Konfrontiert mit solchen Charakterisierungen steigen gutwillige Sprachteilhaber meist auf Interpretationen um, die den augenscheinlichen Widerspruch aufheben: dick und dunn an verschiedenen Stellen, arm und reich in verschiedenem Sinn. Eine Charakterisierung wie "ist rot und farbig" versto?t gegen das allgemeine Kommunikationsprinzip der Informativitat, denn ihr zweites Element ist redundant.

Die Charakterisierungsdimensionen, die im Folgenden bestimmt werden, wurden uber Prinzip (a) definiert und umfassen auch Pradikate, die Prinzip (b) nicht genugen. Auf den ersten Blick erscheint dies als Mangel, weil die Klassen nicht homogen sind. Homogenitat der Klassen nach (b) hat jedoch ihren Preis: Die Klassen schlie?en nicht alles ein, was unter denselben Oberbegriff fallt. So kann man angstlich sein und aufgeregt sein zur Charakterisierung der emotionalen Verfassung einer Person gebrauchen, obwohl beide nach (b) nicht einer Klasse zuzurechnen waren.

Prinzip (a) ist flexibler. Es erlaubt umfassendere Klassen. Wird auch auf die Bestimmung homogener Subklassen Wert gelegt, konnen solche nach Prinzip (b) ausgefiltert werden. Uber Prinzip (b) kann die Binnenstruktur der Klassen nach (a) herausgearbeitet werden. Da dies aber zu weiterer substanzieller Ausweitung der Darstellung fuhren musste, wird hier auf die Berucksichtigung des Prinzips (b) verzichtet.

Die Bestimmung von Charakterisierungsdimensionen geht - unabhangig vom Grad ihrer Feinheit - von dem Pradikatskonzept aus, das in GRAMMIS als minimales Pradikat bestimmt wird. Solche Pradikate zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur einen Gegenstand - in einem weiten Sinn, der auch Klassen von Individuen und dergleichen umfasst - haben konnen, dessen Spezifikation an einer Argumentstelle vorzunehmen ist, sondern auch eine gro?ere Zahl von Gegenstanden zueinander in Beziehung setzen konnen. Hier wird diese Eigenschaft minimaler Pradikate zur Subklassifikation genutzt:

Der Umstand, dass die Bestimmung der Charakterisierungsdimensionen mit Blick auf die Stelligkeit minimaler Pradikate erfolgt, erlaubt, die Dimensionen auch als semantische Spezifikationen der Argumentstellen zu deuten: Pradikate etwa, die einen Gegenstand hinsichtlich eines Bewirkens charakterisieren, konnen als Pradikate verstanden werden, die eine Argumentstelle fur die Spezifikation eines Taters oder dergleichen haben.

Die Nahe dieser Uberlegung zu den semantischen Tiefenkasus der Kasusgrammatik (vgl. etwa Fillmore 1968) ist unverkennbar, auch wenn das theoretische Konzept im Ubrigen verschieden ist. Auch die Problematik ist ahnlich: Von einer Argumentstelle fur die Spezifikation eines Taters zu reden, setzt ahnliche Abstraktionen voraus wie die Annahme eines AGENS-Kasus. Ein Vorteil des hier vorgestellten Konzepts ist aber darin zu sehen, dass die Bezeichnungen der Charakterisierungsdimensionen weit weniger Gewicht haben als Tiefenkasus. Sie sind nicht mehr als handliche - idealerweise mnemotechnisch geeignete - Etiketten fur Klassifikationen, die jederzeit unter Rekurs auf eine logische Analyse der betroffenen Pradikate zu begrunden sind. Mit anderen Worten: Die Verteidigungslinie dieses Ansatzes liegt nicht bei den Bezeichnungen, sondern bei der zugrunde gelegten logischen Analyse.

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Autor(en)
Bruno Strecker
Bearbeiter
Elke Donalies
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