Starke Verben
Die starken Verben bilden eine Flexionsklasse von ca. 170 (einfachen) Verben, die im heutigen Deutsch nicht produktiv ist. Obwohl die Anzahl schwacher Verben um ein Vielfaches größer ist, stellen starke Verben eine zentrale Flexionsklasse dar, da sich ihre Zahl durch Bildungen mit Präfixen oder Präverben maßgeblich erhöht und sie eine sehr hohe Gebrauchshäufigkeit aufweisen. Unter den 20 häufigsten Verben gesprochener Sprache befinden sich (nach Ruoff 1981) – neben sieben Hilfs- und Modalverben – zehn starke Verben, aber nur drei schwache. Umgekehrt gibt es auch einige starke Verben bzw. einzelne Verbformen, die sehr selten verwendet werden und als veraltet/veraltend gelten können.
Im Ungarischen gibt es keine Konjugationsklassen. Statt dessen gibt es im Ungarischen alternierende Wortstämme. Letztere werden am Ende der Einheit schwache Verben zusammengefasst, erstere am Ende der vorliegenden Einheit, damit es sichtbar wird, dass der Verbstamm auch im Ungarischen veränderlich ist, jedoch nach anderen Prinzipien als bei den deutschen starken Verben (vgl.: Alternierende Verstämme im Ungarischen).
Variation zwischen schwachen und starken Formen
Einige starke Verben sind im Laufe der Zeit teilweise oder ganz in die schwache, produktive Flexionsklasse gewechselt. Das starke Flexionsparadigma wurde bei diesem Übergang entweder defizitär oder ganz aufgegeben. Bestimmte Verben können sowohl vollständig stark als auch vollständig schwach konjugiert werden, was meistens mit Bedeutungsunterschieden und einem abweichenden Valenzrahmen verbunden ist. In diesen Fällen muss von zwei unterschiedlichen Lexemen ausgegangen werden, z. B.:
hängen: Er hängte ein Bild [Kakk] an die Wand (transitiv). / Das Bild [Ksub] hing an der Wand (intransitiv).
Aufgrund partieller Flexionsklassenwechsel besitzen einige Verben im heutigen Deutsch sowohl starke als auch schwache Stammformen. Je nach Verb sind dabei nur einzelne starke bzw. schwache Stammformen oder ein vollständig ausgebildetes schwaches Flexionsparadigma parallel vorhanden, z. B.:
vollständig stark/schwach: saugen – sog/saugte –
gesogen/gesaugt
nur noch starke Präteritalform: stecken – steckte/stak –
gesteckt
schwache Präteritalform, starkes Partizip II: salzen – salzte –
gesalzen
Die folgenden Tabellen enthalten Verben mit stark (vereinzelt: gemischt) und schwach gebildeten Tempusstammformen. Die linke Tabelle gibt konkurrierende stark/schwach gebildete Formen an, bei denen standardsprachlich keine Bedeutungsunterschiede, allenfalls stilistische Unterschiede zu erwarten sind. In der rechten Tabelle sind Verben aufgelistet, bei denen für die stark (im Falle von senden/wenden: gemischt) und schwach flektierenden Formen von zwei unterschiedlichen Lexemen ausgegangen werden muss. Die schwach gebildeten Formen, die sich von der entsprechenden starken Form in der Bedeutung und/oder im Valenzrahmen unterscheiden, sind blau markiert. Grundlage der Unterscheidung sind entsprechende Listen in Wörterbüchern von Duden und Wahrig.
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Eine ausführliche Betrachtung von Variation zwischen bestimmten schwachen und starken Formen unter Berücksichtigung eventueller Bedeutungsunterschiede ist anhand ausgewählter Beispiele in folgenden Artikeln aus "Grammatik in Fragen und Antworten" nachzulesen:
Backte oder buk, haute oder hieb? —
Schwache oder starke Flexion
Gewinkt oder
gewunken? — Schwache oder starke Flexion
Er hängte seinen Mantel an den Haken, und dort hing er den ganzen Tag —
Schwache und starke Flexion und Bedeutungsunterschiede
Primäre und sekundäre Stammformen
Präsens- und Präteritalstammformen können jeweils primäre und sekundäre Varianten besitzen, die sich durch einen e/i-Wechsel oder Umlaut unterscheiden, z. B.:
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Da der Vokalwechsel (unabhängig von Umlautfähigkeit) nicht immer eintritt, vgl. haue/haust vs. laufe/läufst, muss die sekundäre Präsensstammform starker Verben bekannt sein, um die entsprechenden Formen bilden zu können. Starke Verben können darüber hinaus eine spezifische Partizipialstammform aufweisen (sproch-), andernfalls ist sie entweder mit der (jeweils primären) Präsens- oder Präteritalstammform identisch. Nicht alle (starken) Verben haben fünf Stammformen (wie sprechen), viele Verben besitzen keine sekundäre Stammformen (z. B. reiten) und keine spezifische Partizipialstammform (z. B. geben).
Übersicht über die Synkretismen der Tempusstammformen anhand ausgewählter Beispiele von starken, gemischten und schwachen Verben (nach Wiese):
Ablautreihen
Die Tempusstammformen starker Verben werden mit Hilfe des Ablauts, einer Form des Vokalwechsels, gebildet und können als sog. Ablautreihe dargestellt werden. Ablautreihen geben traditionell die Formen (bzw. die Vokale der Stammformen) von Infinitiv, Präteritum (1./3. Ps. Sg.) und Partizip II in genannter Reihenfolge an, z. B. spechen – sprach – gesprochen (/ɛ/-/a:/-/ɔ/). Die Hälfte aller starken Verben lassen sich den sechs häufigsten Ablautreihen zuordnen, viele Ablautreihen (ca. 25) sind nur ein- oder zweimal belegt. Der Verzicht auf exakte Angaben ist dadurch begründet, dass einzelne Verben bzw. ihre starke Konjugation im heutigen Deutsch als veraltet gelten können (z. B. dingen, kiesen) oder nach dem Muster von zwei verschiedenen Reihen ablauten (z. B. heben – hob/hub). Einige wenige Verben weisen einen zusätzlichen unregelmäßigen Konsonantenwechsel in bestimmten Stammformen auf, z. B. ziehen – zog – gezogen.
Die folgenden Tabellen zeigen nach Häufigkeit geordnete Ablautreihen und dazugehörige Verben. Die größte Gruppe sind starke Verben, die eine gemeinsame Präterital- und Partizipialstammform besitzen. Darauf folgen solche mit distinkten Präsens-, Präterital- und Partizipialstammformen. Bei der kleinsten Gruppe sind die Präsens- und Partizipialstammformen identisch. Verben, die sekundäre Präsens- und Präteritalstammformen besitzen sind grün gekennzeichnet, solche mit nur sekundären Präsensstammformen orange und solche mit nur sekundären Präteritalstammformen blau. Verben ohne sekundäre Stammformen sind schwarz markiert. Der Asterisk * kennzeichnet Verben, die auch schwach konjugierte Formen besitzen, die sich von der entsprechenden starken Form in der Bedeutung und im Valenzrahmen unterscheiden (siehe auch Liste von Verben mit starken und schwachen Formen).
Starke Verben mit identischer Präterital- und Partizipialstammform:
Ablautreihen | Prät./Part. | Verben |
ie/e/i → o → o | /ɔ/ | fließen, genießen, gießen,
kriechen, riechen, schießen, schließen, sieden, sprießen, triefen,
verdrießen; fechten, dreschen, flechten, melken, quellen*, schmelzen*, schwellen*; glimmen, klimmen; Außerdem: erlöschen, erschallen, saufen. |
ie/e/ü/ä → o → o | /o:/ | biegen, bieten, erkiesen,
fliegen, fliehen, frieren, schieben, stieben, verlieren, wiegen*,
ziehen; bewegen*, heben, pflegen*, scheren*, weben*; küren, lügen, trügen; gären*, schwären, wägen; Außerdem: schwören, saugen, schnauben. |
ei → i → i | /ɪ/ | befleißen, beißen, bleichen*, gleichen, gleiten, greifen, kneifen, leiden, pfeifen, reiten, reißen, scheißen, schleichen, schleifen*, schleißen, schmeißen, schneiden, schreiten, spleißen, streichen, streiten, weichen*. |
ei → ie→ ie | /i:/ | bleiben, gedeihen, leihen, meiden, preisen, reiben, scheiden, scheinen, schreiben, schreien, schweigen, speien, speisen, steigen, treiben, weisen, zeihen. |
Außerdem: | ||
i → u → u | /ʊ / | schinden |
e → a → a | /a / | stehen |
Starke Verben mit spezifischer Präteritalstammform:
Ablautreihe | Prät. | Part. | Verben |
i → a → u | /a/ | /ʊ / | binden, dingen, dringen, empfinden, finden, gelingen, klingen, misslingen, ringen, schlingen, schwinden, schwingen, singen, sinken, springen, stinken, trinken, winden, wringen, zwingen. |
e/i → a → o | /a/ | /ɔ/ | bergen,
bersten, gelten, helfen, schelten, sterben, verderben, werben,
werfen; beginnen, gewinnen, rinnen, schwimmen, sinnen, spinnen. |
e → a → o | /a:/ | /ɔ/ /o:/ | brechen /ɛ/,
erschrecken*, sprechen, stechen, treffen. Außerdem:
nehmen /e:/, kommen /ɔ/. befehlen /e:/, empfehlen, stehlen; Außerdem: gebären /ɛ:/. |
Außerdem: | |||
i/ie → a → e | /a:/ | /ɛ/ /e:/ | sitzen
/ɪ/ bitten /ɪ/, liegen /i:/ |
e/ä → i → a | /ɪ/ | /a/ | gehen, hängen* |
Starke Verben mit identischer Präsens- und Partizipialstammform:
Ablautreihe | Prät. | Verben |
e → a → e | /a:/ | geben /e:/, genesen, geschehen, lesen, sehen, treten; essen /ɛ/, fressen, messen, vergessen. |
a → ie → a | /i:/ | blasen /a:/,
braten, raten,
schlafen; fallen /a/,halten, lassen. Außerdem: hauen*, laufen /au/, heißen, rufen, stoßen. |
a → u → a | /u:/ | fahren
/a:/,graben, laden,
schlagen, tragen; backen* /a/, schaffen, wachsen, waschen. |
Außerdem: | ||
a → i → a | /ɪ/ | fangen, empfangen. |
Bildung der Flexionsformen
Bei starken Verben müssen die drei zur Bildung der Tempora dienenden Stammformen (Tempusstammformen) bekannt sein, um dessen Flexionsformen bilden zu können: Präsens- (evtl. mit sekundärer Variante), Präterital- und Partizipialstammform. Aus den Tempusstammformen lassen sich die Stammformen zur Bildung der übrigen Verbformen (Konjunktiv, Imperativ, Infinitiv) ableiten.
Die finiten tempus- und modusbestimmten Formen starker Verben unterscheiden sich von denen der schwachen Verben durch den Ablaut in den Stammformen, das Vorhandensein mehrerer Stammformen (inklusive primäre/sekundäre Varianten), sowie durch die spezifische Endungslosigkeit bei den Personal-/Numerussuffixen im Präteritum Indikativ. In der folgenden Übersicht steht sprechen dabei stellvertretend für starke Verben mit voll ausgebildetem Stammparadigma, d. h. mit sekundären Präsens- und Präteritalformen. Rufen vertritt Verben ohne sekundäre Stammformen. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass es auch Verben gibt, die jeweils nur eine sekundäre Variante besitzen (im Präs. oder Prät.).
Der Imperativ weißt bei starken Verben eine Besonderheit auf. Bei Verben mit nur einer oder mit durch Umlaut gebildeter Präsensstammform (z. B. rufen, fahren) wird immer die eine bzw. primäre Präsensstammform als Imperativstammform verwendet, an die ein zumeist fakultatives -(e) (Sg.) oder -(e)t (Pl.) als Numerussuffix angehängt wird. Bei Verben mit einer sekundären Präsensstammform, die durch einen e/i-Wechsel entstanden ist (z. B. sprechen), bildet diese sekundäre Variante die Grundlage für den Imperativ, die Singularform bleibt dann endungslos:
Das Partizip II starker Verben wird durch Affigierung von ge-...-en an die Partizipialstammform gebildet, z. B. gefunden. Verben mit festem (Wortbildungs-)Präfix affigieren nur -en, z. B.: Sie hat es erfunden. Bei Verben mit abtrennbarem Präverb wird ge- zwischen Präverb und Verbstamm eingefügt, z. B.: Er hat sich damit abgefunden. Die durch einen Ablaut gekennzeichneten Partizipialstammformen starker Verben sind – anders als bei schwachen Verben – nicht immer mit der Präteritalstammform identisch. Der Infinitiv leitet sich aus der (primären) Präsensstammform ab, an die -en suffigiert wird, z. B. sprechen.
Im Deutschen weisen also die starken Verben im Konjugationsparadigma eine Stammvokaländerung auf. Im Ungarischen gibt es keine Konjugationsklassen der Verben. Es gibt jedoch ein vergleichbares Phänomen, die Mehrförmigkeit der Verbalstämme. Etwa 15% der ungarischen Verbalstämme sind mehrförmig, das heißt, sie verfügen im Laufe des Konjugationsparadigmas über mehrere Stammvarianten. Im Unterschied zum Deutschen weisen diese Varianten sehr wenig Regelmäßigkeit auf. Mehrheitlich sind sie auf phonologische Regeln zurückzuführen, damit die konjugierten Verbformen eine für die ungarischen Sprecher leicht aussprechbare Silbenstruktur haben. Einige Stammvarianten sind Überreste aus der Sprachgeschichte und können schwierig erklärt bzw. systematisiert werden.
Der wesentlichste Unterschied zwischen den deutschen starken Verben sowie den ungarischen Stammalternationen besteht darin, dass der Stammvokalwechsel der deutschen Verben in der Konjugation eine Funktion hat, d. h. als innere Flexion aufzufassen ist. Die ungarischen Stammvarianten aber sind reine Normerscheinungen, sie verfügen über keine Funktion, die Konjugationskategorien werden stets mit den Grund- und Endsuffixen ausgedrückt. Manchmal sind die einzelnen Stammtypen in der gleichen Konjugationsform frei wählbar (gyarapodik oder gyarapszik (er/sie vermehrt sich), öfters sind aber die einzelnen Stammformen an die konjugierten Formen gebunden (megyek (ich gehe) vs. menj! (Geh!)).
Die wichtigsten Typen der ungarischen mehrförmigen Verbalstämme sind die Folgenden (nach Keszler/Lengyel 2008: 36):
Verbalstammtyp | Beispiel |
Varianten auf st – s und szt – sz | fest (er/sie malt) ↔ fessen (er/sie soll malen), éleszt (er/sie belebt) ↔ élesszen (er/sie soll beleben) |
Varianten auf t – s | vitat (er/sie bestreitet) ↔ vitasson (er/sie soll bestreiten) |
Varianten mit Vokalausfall | igényel (er/sie beansprucht) ↔ igénylem (ich beanspruche) |
Varianten mit v, s/sz und d | alszik (er/sie schläft) ↔ aludj (schlaf!) ↔ alvó (schlafend[e/er]) |
Varianten auf sz - d | gyarapodik (er/sie vermehrt sich)↔ gyarapszol (du vermehrst dich) |
Varianten auf sz – z | emlékszik (er/sie erinnert sich) ↔ emlékezz (erinnere dich!) |
Variante auf n | megy (er/sie geht) ↔ menni (gehen) |