haben oder sein?
it. essere o avere?
Im Deutschen werden zwei Perfekt-Hilfsverben für die Bildung von Präsensperfekt und Präteritumperfekt unterschieden: haben und sein.
Die Wahl des Perfekt-Hilfsverbs hängt von syntaktischen als auch von semantischen
Kriterien ab.
Perfektbildung mit dem Hilfsverb haben
Er hat mich recht
freundlich gegrüßt.
Sie haben ein Haus gebaut.
Er hat seinen Hut in den
Ring geworfen.
Sie haben
die Urkunde zurückdatiert.
Der Steinmarder
hatte die Zündkabel zerbissen!
Sie hatten die Latten vom Zaun
abgebrochen.
Dies gilt auch für Verben, bei denen das Kakk fakultativ ist:
Sie hatten bis spät in die Nacht (Süßigkeiten) gegessen.
Ich
habe früher (Zigarren) geraucht.
Das Kind hat geschlafen.
Da hatte ich nur gelacht.
Der Anzug hatte mir wie angegossen
gepasst.
Wir haben an unsere Verwandten
gedacht.
Ach, was kann man in dieser Eingeschnürtheit des Geistes von sich
wissen, was nie hat können erprobt werden?
[Arnim: Dies Buch
gehört dem König. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 3428]
Wir halten jetzt bei der Zeit der Leichenreden – die
Hasardeure, die das Spiel verloren haben, setzen dem deutschen Volk ausführlich auseinander, warum
es hat verlieren müssen, und wie es hätte gewinnen
können.
[Kurt Tucholsky: Leichenreden. Digitale Bibliothek Band
15: Werke, Briefe, Materialien, S. 1403]
Sie hat, durch die Liebe ermuntert, im kurzen seine Meinungen und
seine Sitten angenommen und so viel Verstand bekommen, daß er sich keine Gewalt mehr
hat antun dürfen, ihr gewogen zu sein.
[Gellert:
Leben der schwedischen Gräfin von G***. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 19096]
Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen,
behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein!
[Joseph Victor von Scheffel (1853): Der Trompeter von Säckingen.]
Geboren wurde Mastroianni 1924 in einem kleinen Nest zwischen Rom
und Neapel, aber zeit seines Lebens hat er sich als Römer
gefühlt.
[Frankfurter Rundschau, 20.06.1998, S. 4]
Sein erstes Motorrad hat er sich in Fürstenwalde gekauft: eine DKW zum Anschieben, für 50
Mark.
[Berliner Zeitung, 04.09.1998, S. 24]
Ausnahmen können reziprok verwendete Verben mit einem Kdat sein. Sie bilden ihre Perfektformen mit sein, wenn auch ihre nicht reziprok verwendeten Formen mit sein gebildet werden.
Sie sind sich während der
Ausstellung begegnet. / Sie sind
dem Künstler während der Ausstellung begegnet.
Am
Ende des Films sind sich der Held und der Bösewicht
entgegengegangen. / Am Ende des Films sind der Held und
der Bösewicht dem Sonnenuntergang entgegengegangen.
Perfektbildung mit dem Hilfsverb sein
Er ist durch die ganze Stadt
gerannt.
Sie sind mit der S-Bahn zur
Schwabstraße gefahren.
Der Apfel war nicht weit vom Stamm zur Erde
gefallen.
Bougainville ist um die ganze Welt
gereist.
Werden die Bewegungsverben mit einem Kakk realisiert, können die Perfektformen auch mit dem Hilfsverb haben gebildet werden.
Ich weiß genau, dass Manfred Germar 1956 in Melbourne
die 100-Meter gelaufen hat.
Er hat das Rennen nicht
zuende gefahren.
Das Wasser ist gefroren.
Der Kessel ist explodiert.
Der Junge ist vielleicht
gewachsen!
Die Blüten sind bereits
aufgegangen.
Die ehemals wohlhabende Familie
ist inzwischen verarmt.
Sie ist
endlich eingeschlafen.
Umweltministerin Angela Merkel legte gestern den Rückwärtsgang ein:
"Von Anfang an ist klar gewesen, daß der Verkehr keinen wesentlichen
Beitrag zur CO2-Reduktion leisten wird".
[Berliner Zeitung, 08.10.1997, S. 4]
Trotz dieser enttäuschenden Zahlen bekräftigen die Gutachter die
Hoffnung auf eine Fortdauer des Wirtschaftsaufschwungs sogar über 1987 hinaus. "Anstelle des
Exports ist der private Verbrauch, neben den Investitionen, zur Stütze der Konjunktur
geworden".
[die tageszeitung, 25.11.1986, S. 2]
Geblieben ist aus dieser Zeit nichts als ein köstlicher
Erfahrungsschatz Tucholskys.
[Fritz J. Raddatz: Vorwort, S. 21. Digitale
Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 362]
Perfektbildung mit dem Hilfsverb haben oder sein
Platins Fazit: „Es war ein super Mannschaftserfolg. Wir
haben prima gestanden und zum richtigen Zeitpunkt nachgelegt.“
[Braunschweiger Zeitung,
17.12.2008]
"Wir sind hinten wieder gut gestanden, von
den Atzenbruggern war danach nicht mehr viel zu sehen."
[Niederösterreichische Nachrichten, 19.11.2008]
Analytische Formen des italienischen Verbs sind in morphologischer Hinsicht diejenigen, die, anders als die synthetischen, aus der Verbindung einer Hilfsverbform mit dem Partizip II des Vollverbs resultieren: sono partito (ich bin weggefahren); sono contento di averti visto(ich freue mich, dich gesehen zu haben). Die analytischen Verbformen des Italienischen entsprechen auf semantischer Ebene den zusammengesetzen Tempusformen (passato prossimo, trapassato remoto, trapassato prossimo, futuro anteriore) und die synthetischen Verformen den semantisch einfachen Tempusformen (presente, passato remoto, imperfetto, futuro semplice). In Bezug auf das Futur unterscheiden sich hier die beiden Sprachen: Als semantisch einfache Tempusform wird es im Deutschen analytisch gebildet (Futur I), im Italienischen jedoch synthetisch (futuro semplice): partirò (ich werde wegfahren). S. auch Der Formenbestand des deutschen Tempussystems.
Zur Bildung der zusammengesetzten Verbformen verfügt das Italienische, wie das Deutsche, über zwei Hilfsverben, essere und avere (<lat. esse und habere). Deren Zuordnung zu den jeweiligen Vollverbklassen ist zwar weitgehend, nicht aber lückenlos und einheitlich normiert, wie sich anhand der synchronen (und diachronen) grammatikographischen Literatur belegen lässt. Demgemäß lassen sich auch in der Standardvarietät der Gegenwartssprache Schwankungen feststellen (sono inciampato und ho inciampato, ich bin gestolpert), wie es im Übrigen auch im Deutschen der Fall ist (ich bin/habe gejoggt). Solche Vorkommnisse sowie die häufigen Abweichungen von der geltenden Norm in Dialekten und im Substandard signalisieren die immer noch nicht vollzogene Stabilisierung eines Bereiches, der sich seit der altitalienischen Phase als kritisch erwiesen hat. Diese Problematik geht auf die diachrone Entwicklung eines analytischen Vergangenheitstempus zurück, das anders als etwa im Englischen, aber auch in romanischen Abkömmlingen des Lateinischen wie Spanisch, Portugiesisch und vielen süditalienischen Dialekten, auf die Wahl zweier Hilfsverben angewiesen ist, deren Distribution von frühester Zeit an unscharf bestimmt ist. Dieser Mangel an verbindlichen Selektionskriterien, der diachron einen fruchtbaren Boden für Überlappung und Variation dargestellt hat, lässt sich auf den komplexen Zusammenhang zurückführen, in dem die Wahl des ausiliare eingebettet ist. Der liegen nämlich semantische und syntaktische Regularitäten zugrunde, die mit der Verbvalenz in Beziehung stehen, so dass der Einsatz von essere oder avere sowohl in Hinblick auf die Bedeutung des Vollverbs (Vincent 1988) erfolgt als auch auf seine Beziehungen zu anderen Elementen des Satzes.
Im Gegenwartsitalienischen lassen sich in diesem Bereich interessante sprachwechselbedingte Änderungen beobachten, die einen bedeutenden Zuwachs der avere- gegenüber den essere- Konstruktionen bewirken. Diese Entwicklung bestätigt übrigens die historische Relevanz von avere als Hilfsverb, dessen Leistungen das Italienische die Entstehung der Futur I- und Konditionalformen verdankt (lat. sentire habeo > spätlat. sentire *ao > it. sentirò; lat. sentire habui > spätlat. sentire *ei > it. sentirei ).
In diesem Zusammenhang belegen synchrone standardsprachliche Befunde, inzwischen von der Grammatikographie (Serianni 1988: 394) legitimiert, dass Witterungsverben, denen die traditionelle Norm das Hilfsverb essere zuordnete, die analytischen Formen (auch) mit avere bilden: stanotte è/ ha piovuto senza interruzione (heute Nacht hat es ununterbrochen geregnet). Denselben Wandel beobachtet man bei analytischen Formen mit Modalverben, die nach der herkömmlichen Grammatik das Hilfsverb des jeweiligen Vollverbs übernehmen sollten, heute jedoch zur undifferenzierten Selektion von avere tendieren. In sprachvergleichender Hinsicht ist dieser Trend insofern relevant, als er eine Milderung des Kontrastes zwischen italienischen und deutschen Rektionsverhältnissen des Modalverbkomplexes mit sich bringt. Denn hier sieht das Deutsche, unabhängig vom Vollverb, immer nur haben vor: sono/ ho dovuto andare (ich habe gehen müssen); non è/ ha voluto restare (er hat nicht bleiben wollen).
Mit den Einschränkungen, die mit dem bisher Erläuterten einhergehen, will die folgende Klassifizierung einen Überblick über die in den wichtigsten Grammatiken des Italienischen angegebene Norm für die Wahl des ausiliare bieten, die sich nach wie vor hauptsächlich an der Transitivität bzw. Nicht-Transitivität des Vollverbs orientiert. Daraus resultiert die eindeutige Dominanz von avere gegenüber essere, da transitive Verben nur avere-Konstruktionen bilden, während intransitive sowohl essere als auch avere fordern können.
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Verben mit direktem Objekt:
Verben, die ein direktes Objekt haben
oder haben können (transitivi), fordern in der aktiven Diathese (wie im Deutschen)
das Hilfsverb avere:
dare > gli ho dato uno schiaffo (ich
habe ihm eine Ohrfeige gegeben);
scrivere > oggi
ho scritto una lettera/ ho scritto a lungo (heute
habe ich einen Brief geschrieben/ heute habe ich lange
geschrieben)
Avere fordern bei transitivem Gebrauch auch diejenigen Verben, die sowohl transitiv als auch intransitiv verwendet werden können:
cominciare, finire > ho cominciato il compito, ma non l'ho finito (ich habe die Aufgabe begonnen, aber nicht beendet)
Allerdings bei intransitivem Gebrauch:
il film è cominciato alle 17.00 e non è ancora finito (der Film hat (!) um 17.00 Uhr begonnen und ist noch nicht zu Ende).
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Verben ohne direktes Objekt:
Bei Verben, die kein direktes Objekt
haben (intransitivi), lassen sich zwei Gruppen unterscheiden, die jeweils das
ausiliare essere und avere verlangen:
parlare > ha parlato; uscire > è uscito (er hat gesprochen; er ist ausgegangen)
Trotz der zahlreichen Klassifizierungsversuche, z. B.
Einwertige intransitive Verben verlangen essere wenn sie
Bewegungsverben sind, avere wenn nicht: sono venuto vs. ho dormito |
verfügt man bisher über kein zuverlässiges Differenzierungskriterium in Bezug auf die Rektion. So kommt bei italienischen Bewegungsverben, deren analytische Formen im Deutschen mit sein gebildet werden, nicht selten avere statt des erwarteten essere vor:
ho camminato, ho sbandato, ho viaggiato (ich bin gegangen, ins Schleudern geraten, gereist).
Bei einigen dieser Bewegungsverben treten beide Hilfsverben auf, allerdings bringt die Verwendung des einen oder des anderen ausiliare (ähnlich wie dt. er hat lange geschwommen vs. er ist bis zum Ufer geschwommen) eine semantische Differenzierung mit sich:
(a) ha corso tre ore (er ist drei
Stunden gelaufen) aber
(b) è corso a casa
(er ist nach Hause gelaufen)
Der Vorgang wird in (a) in seinem Verlauf, in (b) mit Hinblick auf das Ziel in Betracht gezogen.
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Modalverben:
Modalverben übernehmen laut Regel das Hilfsverb des
Vollverbs, jedoch tritt avere immer häufiger auch da auf, wo
essere zu erwarten wäre (vgl. oben). Modalverben in Vollverbverwendung fordern
immer avere:
non ho potuto, l'ha voluto lui (ich habe nicht gekonnt, er hat es gewollt)
Avere ist auch dann vorgeschrieben, wenn dem Modalverb der Infinitiv von essere folgt:
non ho potuto essere presente (ich habe nicht da sein können).
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Reflexiva:
Reflexiva fordern (im Gegensatz zum Deutschen!) in allen
Distributionsklassen essere:
mi sono pettinata, si sono amati, si è lavato le mani (ich habe mich gekämmt, sie haben sich geliebt, er hat sich die Hände gewaschen).
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Unpersönliche Verben:
Unpersönlichen Verben (verbi
impersonali) oder unpersönlich verwendeten Verben, das heißt solchen, die in der finiten
Form nur in der dritten Person vorkommen (Serianni
1988: 426), ist das Hilfsverb essere zugeordnet: è accaduto, è
successo (es ist erfolgt, passiert), wobei für Witterungsverben das oben
Gesagte gilt. Anders als bei der deutschen Entsprechung man, tritt
essere auch bei Konstruktionen mit dem Subjekt-Pronomen
si auf, das in Verbindung mit der dritten Person eines Verbs das
impersonale zum Ausdruck bringt: ieri sera si è riso molto
(gestern Abend hat man viel gelacht).