Funktionen des Verbalkomplexes

Dem Verbalkomplex kommen zwei verschiedene Aufgaben zu:

  1. Er realisiert das Prädikat und ist damit wesentlicher Ausdrucksteil der Proposition.
  2. Er trägt dazu bei, die Proposition zeitlich (durch das Tempus), modal (durch Modalverben und den Modus) und in Handlungsbezüge (durch das Genus Verbi) einzuordnen.

Diese beiden Aufgaben werden durch verschiedene Teile des Verbalkomplexes wahrgenommen.


Verbalkomplex aus nur einer Verbform

Besteht der Verbalkomplex aus nur einer Verbform, so setzt er sich mindestens aus zwei Morphemen zusammen. Jede der zwei erwähnten Aufgaben wird von einem der beiden Morpheme übernommen. Dies ist etwa bei schwachen Verben im Präsens und Präteritum (Indikativ) der Fall (z. B. lachen in Der Junge lacht/lachte). Hier wird Aufgabe 1 vom lexikalischen Morphem (lach-), Aufgabe 2 vom Flexionsmorphem (-t/-te) erfüllt. Die Morpheme bilden jeweils in sich abgeschlossene Einheiten, die einander nicht überlappen. In vielen anderen Fällen ist aber eine derartige lineare Trennung beider Aufgaben nicht möglich, weil das lexikalische Morphem von der Flexion überlagert wird. Man vergleiche etwa die starken Verben, bei denen flexionsbedingte Veränderungen des Wortstamms auftreten (z. B. schlafen in Der Junge schläft/schlief).

Beim Verbalkomplex aus nur einer Verbform wird oft von einer 'einfachen Verbform' gesprochen (Verbformen mit einem abtrennbaren Präverb wie in Der Junge schläft ein. sind hier eingeschlossen).

Das italienische Verb verfügt über ein komplexes Formensystem, um die Kategorisierungen Modus, Tempus, Person, Numerus und Genus Verbi darzustellen: die Konjugation. Dieses Wort stammt aus dem lateinischen conjugatio (Verknüpfung) und bedeutet, dass sich eine Verbwurzel - das lexikalische Morphem - an bestimmte Affixe bindet, um die Kategorien der jeweiligen Kategorisierungen ausdrücken zu können. Auch im Italienischen wird Aufgabe 1 von der Wurzel erfüllt, während Aufgabe 2 von den Konjugationsmorphemen wahrgenommen wird. Bei einem Verb kann man erkennen:

  1. die Wurzel oder den Wortstamm (radice), das ist ein lexikalisches Morphem, das Träger der Bedeutung ist: am- in amare, cred- in credere, ag- in agire. Die Wurzel realisiert das Prädikat und ist somit wesentlicher Ausdrucksteil der Proposition.
  2. den Stammvokal, der die Konjugation kennzeichnet: die erste durch -a- (amare), die zweite durch -e- (credere), die dritte durch -i- (agire). Wurzel und Stammvokal bilden zusammen den Verbstamm (tema): ama- ist der Verbstamm von amare, crede- ist der von credere und agi- ist der Verbstamm von agire.
  3. einen letzten flexionsbedingten Teil, die Endung, die die Kategorisierungen Modus, Tempus, Person und Numerus ausdrückt: z. B. -re von amare → Endung vom Modus Infinitiv; -iamo in amiamo → Endung der ersten Person, Numerus Plural, Modus Indikativ, Tempus Präsens, Genus Verbi Aktiv. -avo, -evo, -ivo sind die Endungen des Modus Indikativ, Tempus Imperfekt, erste Person Singular, Genus Verbi Aktiv: amavo, credevo, agivo. Bei einigen Verbformen kann man einen Teil erkennen, der das Tempus kennzeichnet und einen anderen Teil, der die Person ausdrückt. In am-a-v-o, cred-e-v-o, ag-i-v-o erkennt man die Wurzel (am-, cred-, ag-), den Stammvokal (-a-, -e-, -i-), ein den drei Konjugationen gemeinsames Morphem des Tempus Imperfekt, Modus Indikativ, Genus Verbi Aktiv (-v-), sowie eine den drei Konjugationen gemeinsame Endung der ersten Person Singular (-o-). Bei manchen Verbformen fehlt der Stammvokal: in amo kommt das -a- der ersten Konjugation nicht vor, in credo fehlt das -e- der zweiten und in offro das -i- der dritten, das man aber in ag-i-sco und fer-i-sco wieder findet.

Bei den unregelmäßigen Verben des Italienischen ist aber eine lineare Trennung der Aufgaben 1 und 2 nicht möglich, weil die lexikalischen Morpheme (die Wurzeln) oft von den Konjugationsmorphemen überlagert werden. Die Unregelmäßigkeit betrifft die Tempora Präsens, Futur und passato remoto (Präteritum im Dt.) des Modus Indikativ, das Präsens des Konjunktivs, den Konditional und das participio passato (Partizip II im Dt.) und kann in folgenden Abweichungen bestehen:

  1. Veränderung der Wurzel: dare do, che io dia; andare vado, che io vada.
  2. Veränderung der Endungen: cadere caddi; bere bevvi; sapere saprò, saprei; vedere vedrò, vedrei; eludere eluso.
  3. Veränderung der Wurzel und der Endungen: vivere vissi; rompere ruppi; difendere difeso.

Bei manchen Verben konkurrieren in der Konjugation mehrere Wortstämme wie bei andare (and- und vad-) oder bei dovere (dov-, dev-, debb-, dobb-).

Verbalkomplex aus mehreren Verbformen

Besteht der Verbalkomplex aus mehreren Verbformen, werden die beiden oben genannten Aufgaben lexikalisch getrennt wahrgenommen:

Das finite Hilfs- oder Modalverb leistet keinen Beitrag zur propositionalen Bedeutung, dient somit nicht der Erfüllung von Aufgabe 1. Sie übernehmen dafür Aufgabe 2 und zwar in allen ihren Teilbereichen.
Sie sind beteiligt an:

  1. der Herstellung des Zeitbezuges:
    Hans ist gekommen.
    Der Junge hat geschlafen.
  2. der modalen Charakterisierung der Proposition:
    Hans mag kommen.
    Der Junge muss schlafen.
  3. der Passivbildung:
    Das Buch wird von Hans bearbeitet.

Aufgabe1 wird in einem Verbalkomplex, der aus mehreren Verbformen besteht, durch das infinite Vollverb wahrgenommen, das als Ausdruck für das Prädikat im engeren Sinne dient.
Weitere infinite Bestandteile des Verbalkomplexes sind - wenn überhaupt vorhanden - wiederum an der Erfüllung der einzelnen Teilbereiche von Aufgabe 2 beteiligt, das heißt, sie leisten einen Beitrag zur zeitlichen (a) und modalen (b) Einordnung der Proposition bzw. signalisieren eine Passivkonstruktion (c):

  1. Aufgabe 2a
  2. Aufgabe 2b
  3. Aufgabe 2c


Die auf die einzelnen Teilbereiche von Aufgabe 2 spezialisierten Verben können miteinander kombiniert werden:

Kombination der Teilbereiche der Aufgabe 2

Bei den zusammengesetzten Tempora besteht der Verbalkomplex des Italienischen – wie im Deutschen – aus mehreren Verbformen, denen bestimmte Funktionen zukommen.

A. Das infinite Vollverb (der Infinitiv, das participio passato (Partizip II im Dt.)) enthält das lexikalische Morphem und somit erfüllt es Aufgabe 1:

La lira vuole rientrare nello SME all’inizio del ’96. [Corriere della Sera, 30.09.1995]

Un anonimo amatore ha sborsato mezzo miliardo di lire per assicurarsi la Rolls Royce che era appartenuta a Charlie Chaplin. [Corriere della Sera, 28.05.1995]

Wenn weitere infinite Bestandteile des Verbalkomplexes vorkommen, tragen sie zur modalen Einordnung (1-3) der Proposition bei bzw. weisen sie auf eine Passivkonstruktion (4-5) hin. Beispiele:

1. […] Alcuni di loro hanno dovuto sborsare ingenti somme. [Corriere della Sera, 30.09.1995]

2. Il Capo del Partito e dello Stato infatti non ha potuto spingere al ritiro i due generali che lo affiancano come vicepresidenti. [Corriere della Sera, 29.09.1995]

3. Dini ha voluto tendere una mano a D’Alema e alla sinistra nell’ora del massimo travaglio. [Corriere della Sera, 29.09.1995]

4. Rassicurato da Bianchi, Bergkamp è stato severamente rimproverato (a distanza) da Cruyff. [Corriere della Sera, 07.01.1995]

5. Al quinto giorno sono stato assalito dai poliziotti: pensavano che fossi un vandalo o un ladro. [Corriere della Sera, 21.01.1995]

Im Unterschied zum Deutschen ist im Italienischen das participio passato Träger einer zusätzlichen Information, nämlich der über das Genus und den Numerus des Subjektes: Zwischen dem participio passato intransitiver Verben und dem Subjektausdruck besteht immer Kongruenz:

Mia madre è partita ieri.Meine Mutter ist gestern abgefahren.
Tuo fratello è partito ieri.Dein Bruder ist gestern abgefahren.
I ragazzi sono andati a cinema.Die Jungs sind ins Kino gegangen.
Le ragazze sono andate a cinema.Die Mädchen sind ins Kino gegangen.

Bei den reflexiv gebrauchten Verben kann das participio passato entweder mit dem Subjekt oder auch mit dem direkten Komplement (complemento diretto) kongruieren:

Papà si è comprato una macchina usata. (Vater hat sich einen Gebrauchtwagen gekauft.)

← Kongruenz mit dem Subjekt (Maskulinum Singular)

Papà si è comprata una macchina usata.

← Kongruenz mit dem complemento diretto (Femininum Singular)

Wird das participio passato mit dem Hilfsverb haben konjugiert, bleibt es normalerweise unverändert:

Maria ha comprato due quotidiani. (Maria hat zwei Tageszeitungen gekauft.)

Die Kongruenz zwischen dem participio passato und dem complemento diretto ist erst dann obligatorisch, wenn dieses Komplement durch eine Pronominalphrase realisiert ist:

Maria li ha comprati. (Maria hat sie gekauft.)

B. Die finiten Verbteile, die Hilfs- oder Modalverben, erfüllen Aufgabe 2, weil sie Träger folgender wichtiger Informationen sind:

• der Herstellung des Zeitbezuges:

Due anni fa ho abitato a Napoli, ora vivo sulla costiera amalfitana.Vor zwei Jahren habe ich in Neapel gewohnt, jetzt lebe ich an der Amalfi-Küste.
Ieri Fritz è caduto per le scale.Gestern ist Fritz die Treppe heruntergefallen.
Fra due giorni avrà finito il lavoro.In zwei Tagen wird er die Arbeit beendet haben.

• der modalen Charakterisierung der Proposition:

All’esame scritto potete usare il dizionario.In der schriftlichen Prüfung dürfen Sie das Lexikon benutzen.
Prima delle vacanze devo sbrigare ancora un mucchio di lavoro.Vor den Ferien muss ich noch jede Menge Arbeit erledigen.
Domani voglio alzarmi presto.Morgen will Ich früh aufstehen.

• der Passivdiathese:

Maria fu/venne subito riconosciuta da lui.Maria wurde von ihm sofort erkannt.
Probabilmente la legge sarà cambiata a breve.Das Gesetz wird wohl bald geändert werden.

Die folgende Tabelle fasst die bisherigen Überlegungen zu den Aufgaben des Verbalkomplexes und seiner Bestandteile für das Deutsche und das Italienische zusammen:

Teile des Verbalkomplexes
im Verbalkomplex aus nur einer Verbformim Verbalkomplex aus mehreren Verbformen
AufgabenDeutschItalienischDeutschItalienisch
Realisation des Prädikats, Organisation der Proposition lexikalisches Morphem, z. B.: geh-lexikalisches Morphem, z. B.: am-infinites Vollverb, z. B.: geschrieben, schreibeninfinites Vollverb, z. B.: amato, amare
Einordnung in Zeit- und Handlungsbezüge, Informationsstrukturierung Flexionsmorphem/Flexion, z. B.: -tFlexionsmorphem/Flexion, z. B.: -o, -iamofinites Verb, z. B.: hat, muss, wird

infinite Verben mit Ausnahme des Vollverbs, z. B.: müssen, haben, werden
finites Verb, z. B.: ha, ebbe, avrà
è, fu, sarà
deve, può, vuole

infinite Verben mit Ausnahme des Vollverbs, z. B.:
avere, essere, stato
dovuto, potuto, voluto + Inf

Funktionale Einordnung des Verbalkomplexes

Unter Verbalkomplex ist das - in der linearen Abfolge möglicherweise diskontinuierliche - Vorkommen von einer finiten und gegebenenfalls einer oder mehrerer infiniter Verbformen innerhalb eines Satzes zu verstehen. Im Satz werden Komplemente an den Verbalkomplex angebunden. Ohne Anbindung von Komplementen ist die Stelligkeit des Verbalkomplexes n. Durch Anbindung von n Komplementen an den Verbalkomplex entsteht ein Vollsatz.

Die an den Verbalkomplex angebundenen Komplemente sind quantitativ und qualitativ von der Valenz des Vollverbs abhängig. Der durch die Komplemente "gesättigte" Verbalkomplex bildet den Satz, der wiederum durch unterschiedliche Supplemente erweitert werden kann.

Für das 3-wertige Verb geben gilt z. B.:

Im Unterschied zum Deutschen ist unter Verbalkomplex im Italienischen das kontinuierliche Vorkommen von einer finiten und gegebenenfalls einer oder mehrerer infiniter Verbformen innerhalb eines Satzes zu verstehen. Das Vollverb ist im Satz das zentrale Element, das seine syntaktische und semantische Umgebung bestimmt und die Eigenschaft hat, seine Komplemente (complementi di verbo) zu selektieren; bei einigen ist die Wahl obligatorisch, bei anderen dagegen fakultativ. Die sprachlichen Ausdrücke, die nicht vom Vollverb bestimmt werden sind die Supplemente (aggiuntivi oder complementi di frase). Beispiele:

• für ein 3-wertiges Verb (mit drei obligatorischen Komplementen):

Il superiore trattava gli impiegaticon scortesia. Der Vorgesetzte behandelte die Angestellten unfreundlich.

• für ein 3-wertiges Verb (mit einem fakultativen und zwei obligatorischen Komplementen):

Max (ci) ha raccontato una barzelletta divertente.Max hat (uns) einen lustigen Witz erzählt.

• für ein 2-wertiges Verb (mit zwei obligatorischen Komplementen und einem Supplement):

La luce elettrica ha rivoluzionato [negli ultimi cento anni] il nostro spazio vitale.Das elektrische Licht hat [in den letzten einhundert Jahren] unseren Lebensraum revolutioniert.

Es gibt zwei Kategorien von Verben, die in Verbindung mit einer infiniten Verbform eines anderen Verbs einen Verbalkomplex bilden können: Hilfsverben und Modalverben.
Finite Hilfsverben und Modalverben können einen (vollständigen) Verbalkomplex herstellen:

Schemata für das Italienische (1)


Infinite Hilfsverben und Modalverben können zusammen mit einer anderen infiniten Verbform einen infiniten Verbalkomplex bilden, der wiederum Teil eines größeren Verbalkomplexes ist.

Schemata für das Italienische (2)

Unter den Eigenschaften, die Hilfsverben und Modalverben von den Vollverben unterscheiden, gibt es einige, die sowohl den Hilfsverben als auch den Modalverben zukommen. Zu diesen Gemeinsamkeiten gehören z. B. das Fehlen eines eigenen Valenzrahmens.

Da nur Vollverben ihren Valenzrahmen bestimmen können, ist es folglich auch den verbi ausiliari (Hilfsverben) und den verbi servili (Modalverben) des Italienischen untersagt, ihre semantische und syntaktische Umgebung festzulegen. Im Satz:

La luce elettrica ha rivoluzionato il nostro spazio vitale.Das elektrische Licht hat unseren Lebensraum revolutioniert

sind die zwei Komplemente deshalb vorhanden, weil sie vom Vollverb rivoluzionare (revolutionieren), hier in infiniter Form, selektiert werden.

Im Satz

Max voleva semplicemente ferirmi.Max wollte mich nur verletzen.

kommen zwei Komplemente vor, auf Grund dessen, dass das regierte Vollverb im Infinitiv – und nicht das verbo servile volere (wollen) – zwei obligatorische Komplemente verlangt.

Im Beispiel:

Vuole piovere. Es sieht nach Regen aus.

fehlt der Valenzrahmen, weil das Vollverb im Infinitiv ein Witterungsverb ist, das kein Komplement verlangt (das es gehört zum Verb regnen als sein wesentlicher Bestandteil). Der Verbalkomplex ist hier auch ohne Anbindung von Komplementen "gesättigt". Anders verhalten sich die verbi ausiliari und die verbi servili, wenn sie als Vollverben (verbi predicativi) verwendet werden, wie es zum Beispiel in folgenden Sätzen der Fall ist:

Martin Luther King aveva un sogno. Martin Luther King hatte einen Traum.
Io voglio solo il tuo bene.Ich will nur dein Bestes.

In diesen Fällen ist der Verbalkomplex durch die Anbindung von zwei obligatorischen Komplementen "gesättigt".

Zum Text

Letzte Änderung
Aktionen
Seite als PDF
Seite drucken
Seite zitieren

Seite teilen