Obligatorische Endungslosigkeit bei Abkürzungen und Konversionen

Zur Beantwortung der Frage, ob es neben Eigennamen und Fremdwörtern weitere Nomen/Nomenklassen gibt, die systematisch ohne Genitivmarkierung auftreten, haben wir zunächst überprüft, ob sich das Flexionsverhalten von Beispielen wie HSV oder DFG auf alle Abkürzungen übertragen lässt, oder ob es sich hierbei nur um eine starke Tendenz handelt, die nur bei einigen (häufig auftretenden) Abkürzungen ausnahmslos ist, aber nicht generell für die Klasse der Abkürzungen Geltung besitzt. Um diese Frage zu beantworten, haben wir alle Abkürzungen, die in unserer Extraktion als Genitive klassifiziert sind (Prob>1), ausgezählt und nach Markierungsvarianten sortiert. Das Ergebnis ist in der folgenden Tabelle festgehalten (nicht berücksichtigt wurden 2318 Fälle, die zwar als Nullmarkierung gekennzeichnet waren, in denen aber Lemma und Wortform nicht identisch waren, wie 'k.' und 'k.o.'):


GenitivallomorphTokenProzent
-∅76.50971%
-es1680,2%
-s28.14826,1%
’s5570,5%
2.4202,2%

Tabelle 1: Verteilung der Genitivallomorphe bei Abkürzungen


Wie erwartet, stellen endungslose Formen die mit Abstand häufigste Markierungsoption dar. Allerdings ist die vergleichsweise große Zahl von Varianten mit overter Genitivmorphologie (ca. 1/3 aller Belege) doch ein wenig überraschend, vor allem wenn man sich vergegenwärtigt, dass Abkürzungen wie HSV, ZDF oder DFB ausschließlich endungslos auftreten. Eine nähere Betrachtung der Beispiele, die eine Genitivmarkierung aufweisen, zeigt dann aber, dass die Daten hier sehr fehlerbehaftet sind. So scheint es sich bei der überwiegenden Mehrheit der Fälle auf -s und insbesondere auf ’s um Pluralformen zu handeln, die bei der Extraktion fälschlich als Genitive eingeordnet wurden (darunter auch Kurzwörter wie Profis (672x) oder Amis (35x), die stets die s-Endung tragen, und fehlerhaft kategorisierte Formen wie die Kombination aus der Konjunktion ob + reduziertes Pronomen (e)s). Bei den 2420 Beispielen, die laut Datenbank ein Apostroph als Genitivmarkierung aufweisen, handelt es sich fast durchweg um fremdsprachliche Namensbestandteile (D’Amico, L’Equipe) oder gekürzte Artikelformen (S’Rösli, D’Tante). Ebenso wenig einschlägig sind die 168 Beispiele für Abkürzungen mit langer Genitivendung (8x Asses, ansonsten ausschließlich Fehler wie d+es (Genitivartikel) oder Hau+es (eigentlich Haus-es)). Wir können also davon ausgehen, dass der Anteil der endungslosen Formen bei Abkürzungen weitaus höher als 71% ist. Eine Stichprobe von 400 Belegen, die zufällig aus unserer Genitivdatenbank ausgewählt wurden, hat ergeben, dass von den 250 "echten" Genitiven tatsächlich annähernd 95% endungslos sind:


WortformToken
Endungsloser Genitiv237 (94,8% von 250)
s-Genitiv13 (5,2% von 250, darunter 2x Profis, 1x Mofas)
Fehler (kein Genitiv (meist Plural), keine Abkürzung, Namenbestandteil (z.B. FC) etc.)150

Tabelle 2: Genitivmarkierung bei Abkürzungen – Ergebnisse einer Zufallsstichprobe (400 Belege) aus GenitivDB


Die Stichprobe bestätigt ferner die Einschätzung, dass der Anteil der fälschlich als Genitive eingestuften Formen bei Abkürzungen mit 37,5% besonders hoch liegt. Diese betrifft nicht nur endungslose Formen, sondern auch mit -s markierte Abkürzungen (insbes. Plurale (39/400 Fälle, 9,75%)). Daraus ergibt sich ein Konfidenzintervall von 57,5%-67,2%, d.h. für die Verhältnisse in der Grundgesamtheit lässt sich schließen, dass der Anteil tatsächlicher Genitive bei Abkürzungen (in GenitivDB) mit 95%iger Wahrscheinlichkeit in diesem Bereich liegt. Trotz dieser Probleme bei der Präzision unserer Korpusbefunde können wir festhalten, dass die Aussage des Grammatikdudens, Initialkurzwörter seien "häufig endungslos" dahingehend korrigiert werden muss, dass eine Nullmarkierung des Genitivs in diesem Kontext die eindeutig präferierte, vorherrschende Variante darstellt (mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5% liegt der tatsächliche Anteil von Nullendungen bei Abkürzungen zwischen 91,1% und 97,1%). Allerdings finden sich in 5,2% der Belege auch Abkürzungen mit overter Genitivmarkierung, darunter auch solche, in denen die Abkürzung offensichtlich Eigennamencharakter hat und als pränominaler Possessor fungiert (vgl. 8c):

(1)

  1. Die neuesten Geniestreiche des Zuger DJs sind der Remix des HNO-Sommerhits "I don't care" und die erfolgreiche Singleauskopplung "Pumpkin Belly".
    (A01/JAN.03518 St. Galler Tagblatt, 17.01.2001, Ressort: TT-OBE (Abk.); Neue Groovekaiser)
  2. Vier Punkte beträgt der Abstand des FCs nun auf den Tabellenkeller - eine Ausgangsposition die den FC-Übungsleiter optimistisch stimmt: [...]
    (RHZ05/MAI.07144 Rhein-Zeitung, 07.05.2005; Zum Durchmarsch in die Kreisliga A fehlt...)
  3. Die amerikanischen High-Tech-Aktien wurden durch IBMs Übernahmeangebot an Lotus nur für kurze Zeit beflügelt.
    (C95/JUN.01977 COMPUTER ZEITUNG, 15.06.1995, S. 8; BÖRSE)

Wenn es auch zunächst unklar bleibt, wie solche Ausnahmen einzuschätzen sind (man könnte z.B. dafür argumentieren, dass Ausdrücke wie DJ nicht mehr notwendig als Abkürzung wahrgenommen werden, ähnlich wie Jeep), so erscheint es doch aufgrund der Häufigkeit der Nullmarkierung durchaus gerechtfertigt, auch bei Abkürzungen von konsistent endungsloser Realisierung des Genitivs zu sprechen (selbst bei Nomen auf -ismus ergibt eine COSMAS-Recherche (W-gesamt, 24.07.2014) immerhin noch 164 Fälle mit overte Genitivendung wie Realismusses). Dies weist daraufhin, dass Hypothese (1), Invariante Fälle in der vorliegenden Form nicht aufrechterhalten werden kann (s.u. für eine entsprechend modifizierte Fassung).

Schließlich sind wir der Frage nachgegangen, ob konsistente Endungslosigkeit evtl. bei anderen, niederfrequenten Formen auftritt. Dabei sind wir im Rahmen der automatischen Baummodellierung auf Konversionen aus nicht-flektierbaren Wortarten gestoßen (z.T. mit Stammauslaut auf -s).1 Eine Stichprobe entsprechender Formen in der SQL-Datenbank brachte die folgenden Ergebnisse (auch hier war es auf der Basis der existierenden Annotation nicht möglich, die relevante Klasse von Nomen trennscharf zu isolieren):

1 Wir können also festhalten, dass trotz der in Befunde der Baummodellierung erwähnten Probleme die Baummodellierung auch im Bereich der endungslosen Genitive für explorative Zwecke genutzt werden kann.


LemmaNullendungAndere Endung2
Nichts374 (100%)0
Heute51 (100%)0
Gestern17 (100%)0
Jetzt311 (100%)0
Zuviel14 (70%)6 (30%)
Zuwenig5 (62,5%)3 (37,5%)
Selbst322 (59,6%)218 (40,4%)
Ja4 (44,4%)5 (55,6%)
Nein55 (21,2%)204 (78,8%)
Gegenüber0593 (100%)

Tabelle 3: Verteilung der Genitivallomorphe bei Konversionen aus nicht-flektierbaren Wortarten2,3

2 Unter den overt markierten Formen befinden sich keine Varianten, in denen ein Apostroph auftritt.

3 Eine COSMAS-Suchanfrage (W-gesamt (DeReKo-2013-I), 17. November 2013) nach des Jetzt ergibt 177 Belege. Der Grund für die Diskrepanz zwischen Extraktion und COSMAS-Recherche ist noch nicht vollständig geklärt. Eine mögliche Erklärung könnte darin bestehen, dass in der Genitivdatenbank nur Formen enthalten sind, die vom Xerox Tagger als Nomen eingestuft werden.

Eine Berechnung der Pearson Residuals hat ergeben, dass mit Ausnahme der Fälle Zuviel, Zuwenig und Ja (hier spielt wohl die geringe Zahl der Belege eine Rolle) die Abweichungen von den erwarteten Häufigkeiten signifikant sind:


Abbildung 1: Assoziationsplot: Verteilung der Genitivallomorphe bei Konversionen aus nicht-flektierbaren Wortarten


Bei einigen der relevanten Lemmata (Nichts, Heute, Gestern, Jetzt) tritt zwar tatsächlich ausschließlich die Nullendung auf. Die Betrachtung weiterer Konversionen zeigt jedoch, dass hier kein einheitliches Bild vorliegt und man nicht davon sprechen kann, dass Konversionen aus nicht-flektierbaren Wortarten obligatorisch endungslos sind. Die einzelnen Befunde fallen dabei z.T. auch etwas überraschend aus. So ist der recht große Anteil (> 40%) von flektierten Varianten bei Selbst aufgrund des resultierenden Konsonantenclusters nicht unbedingt prognostizierbar gewesen (tatsächlich finden sich auch einige Beispiele mit langer Endung -es, offenbar um die Clusterbildung zu vermeiden):

(2)

  1. Er war dabei, als Rudi Dutschke den Arbeitern Marx und Freud beibrachte, auf dass sie die Befreiung der Gesellschaft mit der des Selbsts zu verbinden lernten.
    (B02/APR.26868 Berliner Zeitung, 13.04.2002; Der glückliche Anarchist [S. 3])
  2. Das Göttliche Selbst im Menschen wachsen zu lassen und davon wirklich ein Bewusstsein zu haben - auf die Stimme dieses Wahren Selbstes lauschen zu können.
    (WDD11/L13.47643: Diskussion:Lectorium Rosicrucianum/Archiv 2009, In: Wikipedia - URL:http://de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Lectorium_Rosicrucianum/Archiv_2009: Wikipedia, 2011)
  3. Ekstatische Überschreitung des Selbst gehört heute zum kulturellen Mainstream. Sie geschieht im Risikosport ebenso wie in Musik, Tanz und Meditation.
    (Z12/APR.00167 Die Zeit (Online-Ausgabe), 12.04.2012; Erlaubt ist, was gefällt)

Völlig unerwartet ist zudem das Verhalten von Gegenüber, das im Korpus ausschließlich mit Endung auftritt, obwohl es im Grammatikduden (S. 205) explizit als potentiell endungslos erwähnt wird. Eine ergänzende COSMAS-Recherche (W-gesamt (DeReKo-2013-I), 17. November 2013) zeigt allerdings, dass dieses Ergebnis womöglich auf einen unzulänglichen Recall zurückzuführen ist:4 Allein für die Anfrage "des Gegenüber" ergeben sich 128 relevante Belege. Dennoch ist die relativ große Zahl overt markierter Formen in unserer Datenbank bemerkenswert. Eine weitere COSMAS-Anfrage für "des Gegenübers" bestätigt, dass diese Konversion bevorzugt mit Endung auftritt (988 Belege):

4 Auch hier ist es wahrscheinlich, dass die Diskrepanz zwischen den Inhalten der Genitivdatenbank und einer COSMAS-Recherche darauf gründet, dass nicht alle Instanzen von Gegenüber korrekt als Nomen getaggt sind.

(3)

  1. Unter Rhetorik versteht man die Rede eines Menschen, die auf Erfolg und Überzeugung des Gegenübers ausgerichtet ist.
    (M13/AUG.08142 Mannheimer Morgen, 27.08.2013, S. 4; Was ist Rhetorik?)
  2. Über zehn Jahre lang soll der deutsche Autobauer überall auf der Welt kräftig geschmiert haben. Je nach lokalen Gepflogenheiten und der Stellung des Gegenüber floss dem Bericht zufolge mal Bargeld, mal waren es Geschenke oder Einladungen.
    (NUN10/MAR.02903 Nürnberger Nachrichten, 25.03.2010, S. 21; Affäre um Daimler - US-Justiz klagt den Autobauer wegen Korruption an)

Auf welche Faktoren das unterschiedliche Verhalten der hier untersuchten Substantivierungen zurückgeführt werden kann, lässt sich auf der Basis der in Tabelle 3 vorliegenden Stichprobe nicht abschließend klären. Auch hier scheint jedoch das Vorliegen mehrerer Faktoren, die Endungslosigkeit begünstigen, einen systematischen Wegfall der Genitivmarkierung auszulösen. So kommen bei den ausschließlich endungslos auftretenden Nomen zum Faktor Konversion (d.h. mangelnde Integration) noch weitere Faktoren wie Stammauslaut auf Sibilant (Nichts) oder Eigennamennähe aufgrund der speziellen individualisierenden Funktion von Zeitausdrücken (Gestern, Heute, Jetzt) hinzu.

Vor dem Hintergrund unserer Korpusstudien zu einer konsistent endungslosen Realisierung des Genitivs können wir die zuvor aufgestellte Hypothese (1), Invariante Fälle wie folgt modifizieren:

(4) Konsistente Endungslosigkeit
Konsistente Endungslosigkeit tritt bevorzugt auf bei Nomen(klassen), die mehrere Kriterien für den Wegfall der Genitivmarkierung erfüllen:

  1. Lexikalisch: mangelnde Integration in das Flexionssystem (Eigennamen bzw. Eigennamennähe (Individualisierung/Nennfunktion), Fremdwörter, Abkürzungen, Konversion, Verwendung als Terminus technicus etc.);
  2. Phonologisch: Stammauslaut auf Sibilant.

Nach (4) ergibt sich eine systematische Verwendung der Nullmarkierung bei genitivischen Nomen also typischerweise aus einer Kombination von lexikalischen und phonologischen Faktoren (wobei z.T. auch alternative Markierungsvarianten (wie -ens bei Eigennamen auf s-Laut) auftreten können). Phonologische Faktoren (d.h. Ausgang auf s-Laut) alleine können keine endungslose Realisierung des Genitivs auslösen, sondern wirken nur in Kombination mit lexikalischen Faktoren. Umgekehrt sind lexikalische Faktoren aber nicht an phonologische Eigenschaften gekoppelt. Das Verhalten von Zeitausdrücken, die per Konversion aus flektierbaren Wortarten abgeleitet wurden, legt nahe, dass der Effekt von Faktor (i) auch dadurch verstärkt werden kann, dass ein Nomen mehrere unterschiedliche Kriterien für mangelnde Integration erfüllt (wie morphologischer Status (Konversion) & individualisierende Funktion). Ähnliches gilt auch für Abkürzungen, die freilich eine Sonderrolle einnehmen: Hier scheint die fehlende Integration in das Flexionssystem so offensichtlich zu sein, dass es auch ohne Faktorenhäufung zu (lexikalisch gesteuerter) konsistenter Endungslosigkeit kommen kann. (4) sagt allerdings zunächst nichts über die Rolle morphosyntaktischer Faktoren (d.h. den Einfluss der Tendenz zur Monoflexion), die eine endungslose Realisierung des Genitivs am Nomen auslösen.

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