Vertiefung: Parallel- und Wechselflexion
Im Café Sonnenschein diskutieren die Mitarbeiterinnen Sina und Rieke über einen Zeitungsartikel, der zur Eröffnung des Cafés erschienen ist. Dort heißt es:
Sina ist sich sicher, dass es eigentlich so heißen müsste:
Es geht hier um die Frage, wie das zweite Adjektiv flektiert. Wenn es mit -m gebildet wird, entspricht es dem starken Flexionsmuster. Das starke Flexionsmuster tritt immer dann auf, wenn kein Artikel mit Endung vor einem Adjektiv steht – das wäre ja hier der Fall.
Wenn das zweite Adjektiv mit -n gebildet wird, dann flektiert es nach dem schwachen Flexionsmuster. Das schwache Flexionsmuster tritt immer dann auf, wenn man den Kasus schon an einer anderen Stelle erkennen kann – und auch das trifft hier zu: Der Kasus (Dativ) kann ja schon am ersten Adjektiv erkannt werden. Beide Fälle können also sprachsystematisch gut begründet werden.
Auch Sina und Rieke können sich nicht einigen, welche Form die richtige ist. Deshalb machen sie sich auf die Suche nach weiteren Fällen, in denen zwei Adjektive direkt hintereinander stehen.
Es handelt sich hier nur um Vermutungen, nicht alle davon müssen zutreffen!
- Die Adjektive müssen in Kongruenz stehen, das heißt, in Kasus, Numerus und Genus übereinstimmen.
- Der Kasus muss nur einmal markiert werden und es reicht, wenn er am ersten Adjektiv markiert wird.
- Das eine Adjektiv gehört enger mit dem Nomen zusammen als das andere.
- Es handelt sich um einen Sprachwandel: Früher war die eine Form häufiger, jetzt wird die andere Form häufiger.
- Es ist ein Unterschied zwischen verschiedenen Dialekten: In Süddeutschland ist die eine Form häufiger, in Norddeutschland die andere.
Dieses Phänomen ist ein typischer Zweifelsfall, bei dem sich auch Sprachexperten und -expertinnen nicht immer sicher sind. Man spricht von einer Parallel- und Wechselflexion.
Wechselflexion, wenn die Adjektive unterschiedlich flektieren: Mit leckerem exotischen Tee …
Wie arbeiten Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler?
Die Fälle, die Sina und Rieke gefunden haben, stammen aus echten Zeitungen. Das zeigt, dass beide Fälle in der Sprache vorkommen, auch bei professionellen Schreiberinnen und Schreibern. Sina und Rieke haben mit dieser Sammlung schon den ersten Schritt gemacht, den auch Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler machen, um diesem Problem auf den Grund zu gehen: Sie haben echte Sprachdaten angeschaut und sich nicht nur auf ihr Gefühl verlassen.>
Eine solche Sammlung echter Sprachdaten nennt man ein Korpus (Plural: Korpora). In einem Korpus kann man nach sprachlichen Fällen suchen, bei denen man sich unsicher ist. Und: Die Masse macht's! Man muss sich nicht nur auf einzelne, wenige Belege verlassen, sondern kann Hunderte, Tausende oder manchmal sogar Millionen Belege auswerten.
Für viele Fragen gibt es auch schon vorgefertigte Korpora, die sich leichter auswerten lassen. Auch für den Fall der Parallel- und Wechselflexion bei den Adjektiven gibt es ein fertiges Korpus: die Datenbank attributive Adjektive.
Diese Datenbank ist für die wissenschaftliche Forschung erstellt worden. Deshalb enthält sie viele Informationen, die für uns erstmal nicht relevant und auch auf den ersten Blick schwer zu verstehen sind. Wir nutzen also nur einige Funktionen, nicht alle.
Auf der Startseite der Datenbank kannst du in der Seitenleiste verschiedene Suchfilter nutzen, um die Datenbank zu durchsuchen. Wir werden die im Folgenden nur die Fälle anschauen, bei denen kein Komma zwischen den Adjektiven steht. Wähle deshalb im Feld Komma die Option kein Komma aus. Du kannst dir nun die gesamte Datenbank ohne weitere Filter anzeigen lassen, indem du auf Suchen klickst.
Wir betrachten nur Fälle, in denen kein Komma zwischen den Adjektiven steht. Das macht die Interpretation der Daten einfacher und reicht uns erstmal. Ein Komma hat aber sehr wahrscheinlich Einfluss darauf, ob die Parallel- oder die Wechselflexion erfolgt.
Es dauert einige Zeit, bis die Seite vollständig geladen ist, weil sehr viele Daten abgerufen werden müssen. Du erhältst eine Tabelle. Jede Zeile steht für einen Satz mit zwei Adjektiven. Jede Spalte steht für eine Information über diesen Satz.
Die beiden wichtigsten Spalten sind Adja1 und Adja2. In diesen Spalten stehen die beiden Adjektive, um die es geht. Hier siehst du auch schon, ob sie in Parallel- oder Wechselflexion stehen. Alles, was vor diesen Adjektiven steht, findet sich in den Spalten Vor, Appr und Adv1. Alles, was danach steht, steht in Nn und Nach. Eventuell musst du die untere Scrollleiste ein bisschen hin- und herschieben, um alles sehen zu können. Wichtig ist auch die Spalte Sigle, die den Satz eindeutig identifiziert.
Jeder von euch sucht fünf zufällige Sätze aus.
Gebt für jeden Satz an, ob es sich um Parallel- oder Wechselflexion handelt.
Fügt die Sätze zu einem Klassen-Korpus zusammen.
Nehmt folgende Spalten auf:
Sigle, Vor, Appr, Adja 1, Adja2, Nn, Nach, Jz
Entfernt hinterher doppelte Sätze.
Was ist insgesamt häufiger? Parallel- oder Wechselflexion?
Ihr könnt die folgenden Aufgaben auch mit eurem Klassen-Korpus durchführen.
Die Information, ob es sich um Parallel- oder Wechselflexion handelt, steckt auch
schon etwas verborgen in der Datenbank, und zwar in der Spalte Flexion.
Dort ist angegeben, ob das zweite Adjektiv hinten ein m
oder ein n hat. Also mit anderen Worten, ob es stark
(mit m) oder schwach (mit n) flektiert. Da
in diesem Korpus nur Fälle aufgenommen wurden, in denen das erste Adjektiv stark
flektiert, sind die Fälle mit m eine Parallelflexion
(zweimal stark) und die Fälle mit n eine Wechselflexion
(erst stark, dann schwach).
m -> Parallelflexion
n ->
Wechselflexion
Sprachwandel
Wir werden nun einige der Vermutungen überprüfen, warum es diese Schwankung gibt. In der Wissenschaft nennt man solche Vermutungen Hypothesen. Dazu fangen wir mit einer leicht zu prüfenden Hypothese an:
Die Schwankung zwischen Parallel- und Wechselflexion ist ein Fall von Sprachwandel.
Wie kann man das überprüfen? Wenn die Hypothese zutrifft, müsste entweder die Parallel- oder die Wechselflexion früher häufiger gewesen sein als heute. Man müsste also einen Unterschied in der Häufigkeit feststellen können.
Dazu vergleichen wir die Häufigkeiten der Parallel- und Wechselflexion in den 1990ern und in den 2010ern.
Wähle im Feld Jahrzehnt 1990er aus. Achte darauf, dass weiterhin kein Komma aktiviert ist.
(Wenn du in Partnerarbeit arbeitest, kann einer die Daten für die 1990er auswerten und deine der andere die für die 2010.)
Lass dir die Ergebnisse anzeigen.
Jetzt müssen wir schauen, ob die Parallel- oder Wechselflexion in den 1990er Jahren häufiger war. Wir nutzen dafür die Spalte Flexion, die für Parallel- oder Wechselflexion steht. m bedeutet Parallelflexion, n bedeutet Wechselflexion.
Unter der Tabelle gibt es Auswahlfelder, mit denen die Tabelle gefiltert werden kann. Das Feld für Flexion ist etwas versetzt. Dort kannst du m und n auswählen und die Tabelle zeigt dann nur noch Ergebnisse mit Parallel- bzw. Wechselflexion.
Unter der Tabelle steht auch, wie viele Treffer noch übrig bleiben:
Notiere die Zahl, z.B. in einer Tabelle.
Achtung! Da die Gesamtzahl in den 1990er Jahren höher ist, ist es nicht überraschend, wenn die Anzahlen für Parallel- und Wechselflexion auch höher sind. Wir müssen also schauen, welchen Anteil die Flexionsarten jeweils an der Gesamtzahl haben. Dazu berechnen wir Prozentzahlen:
(Anzahl / Gesamtzahl) * 100
Gesamtzahl | Anzahl Parallelflexion | Anzahl Wechselflexion | Prozent Parallelflexion | Prozent Wechselflexion | |
1990er | |||||
2010er |
Glückwunsch! Du hast nun genau wie echte Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler an der Sprache geforscht und etwas herausgefunden!
Region und Dialekt
Versuche es nun mit einer der anderen Hypothesen. Wie steht es mit der Vermutung, dass es sich um ein regionales Phänomen handelt?
Die Ergebnisse kannst du wieder in eine Tabelle eintragen:
Gesamtzahl | Anzahl Parallelflexion | Anzahl Wechselflexion | Prozent Parallelflexion | Prozent Wechselflexion | |
Mittelost | |||||
Mittelsüd | |||||
Mittelwest | |||||
Nordost | |||||
Nordwest | |||||
Südost | |||||
Südwest | |||||
Überregional |
Zusammenfassung
Du hast in diesem Lernbaustein einen Zweifelsfall bei den Adjektiven kennengelernt: Was ist, wenn zwei Adjektive nacheinander stehen? Flektieren sie gleich oder unterschiedlich? Beides kommt vor. Du hast dich mit wissenschaftlichen Methoden auf den Weg gemacht, mehr über dieses Phänomen herauszufinden. Offenbar haben wir es hier mit Sprachwandel zu tun.
Aber auch andere Erklärungen können wir nicht ausschließen. Tatsächlich spielen bei der Parallel- und Wechselflexion sehr viele verschiedene Erklärungen eine Rolle und ergänzen sich gegenseitig. Wenn du mehr darüber erfahren willst:
Korrespondenz und Flexion bei mehreren attributiven Einheiten