Funktionale Bestimmung der Modalverben

Modalverben verbinden sich mit Infinitiven wie in Beispiel (1) und (2) bzw. mit Gruppen aus Infinitiv und Partizip(ien) wie in Beispiel (3)-(5). Ähnlich wie Hilfsverben ändern sie nicht den Valenzrahmen des Vollverbs (vgl. Valenzübertragung und Konversion, eine Ausnahme bilden hier die Halbmodale). Der Valenzrahmen des Vollverbs kann allerdings bereits vorher umgeordnet erscheinen wie in Beispiel (4) und (5).

(1) Er muss sie um Entschuldigung bitten.
(2) Er muss sie um Entschuldigung bitten können.
(3) Er muss sie um Entschuldigung gebeten haben.
(4) Sie muss um Entschuldigung gebeten worden sein.
(5) Er muss das befohlen bekommen haben.

Die besondere Leistung der Modalverben liegt in ihrem Beitrag zur Satzbedeutung:

Mithilfe von Modalverben werden Propositionen nicht als faktisch, sondern als vor einem bestimmten Redehintergrund möglich bzw. notwendig eingeordnet.

In einem Satz wie

Es ist nicht etwa gesagt worden, wie ein Vertrag mit der Tschechoslowakei aussehen muss, der sich mit dem Münchener Abkommen befasst.

wird der Ausdruck ein Vertrag mit der Tschechoslowakei nicht vor einem faktischen Hintergrund gedeutet, d. h. nicht auf tatsächlich gegebene Verträge mit der Tschechoslowakei bezogen. Er wird hingegen vor einem normativen Redehintergrund gedeutet, d. h. auf die politischen und zwischenstaatlich-völkerrechtlichen Normvorstellungen bezogen, die bestimmte Vertragsentwürfe betreffen. Erst im Kontext einer möglichen Welt, die mit einem solchen Redehintergrund vereinbar ist, erhält der Gegenstand ein Vertrag mit der Tschechoslowakei Kontur. Daher wird im Weiteren von einem durch die Modalverben geschaffenen modalen (versus faktischen) Deutungskontext gesprochen.


Modaler Deutungskontext

Der modale Deutungskontext muss nicht für den ganzen Satz gelten. Sein Geltungsbereich kann auch nur bestimmte Teile des Satzes umfassen, im Extremfall sogar nur auf den Verbalkomplex allein beschränkt sein. Der unterschiedliche Geltungsbereich des modalen Deutungskontextes sei an folgendem Beispiel erläutert:

Der Präsident muss den Vertrag abschließen.


Engster modaler Deutungskontext

Der modale Deutungskontext beschränkt sich auf den Verbalkomplex. Für das Subjekt und das Akkusativkomplement gilt er nicht. Dies ist der Fall etwa bei folgender Fortsetzung des Beispielsatzes :

Der Präsident muss den Vertrag abschließen. Vorher will er ihn aber noch einmal mit den Vertretern der Parteien besprechen.

Die Paraphrase des ersten Satzes könnte lauten: "Für den tatsächlich amtierenden Präsidenten x und für den tatsächlich anstehenden Vertrag y gilt, dass x y abschließen muss."

Modaler Deutungskontext 1

Die Skizzen geben insgesamt nur die semantischen, nicht die syntaktischen Verhältnisse wieder. Nur diese erste Skizze entspricht dann auch der syntaktischen Einordnung der Modalverben, insofern als das Modalverb immer unmittelbar auf dem Infinitiv operiert.


Akkusativkomplement innerhalb, Subjekt außerhalb des modalen Deutungskontextes

Der modale Deutungskontext erstreckt sich zusätzlich auf das Akkusativkomplement etwa bei folgender Fortsetzung des Beispielsatzes:

Der Präsident muss den Vertrag abschließen. Er hat erst einmal ein Beraterteam mit der Ausarbeitung des Vertrages betraut.

In diesem Fall könnte die Paraphrase lauten: "Für den tatsächlich amtierenden Präsidenten x gilt, dass x den geplanten Vertrag y abschließen muss."

Modaler Deutungskontext 2


Weitester modaler Deutungskontext

Der modale Deutungskontext erstreckt sich auf das Akkusativkomplement und das Subjekt etwa bei folgender Fortsetzung des Beispielsatzes:

Der Präsident muss den Vertrag abschließen. Wir haben aber derzeit keinen Präsidenten und auch der Vertrag muss erst einmal entworfen werden.

Hier könnte die Paraphrase lauten: "Es muss gelten, dass der Präsident, wer auch immer das ist, den geplanten Vertrag abschließt."

Modaler Deutungskontext 3

Es zeigt sich nun, dass der modale Deutungskontext, vom Modalverbkomplex her gesehen, sukzessive auf die Komplemente ausgedehnt werden kann: Er kann die verbnäheren Komplemente umfassen, aber auch alle Komplemente einschließlich des Subjekts, also den ganzen Satz. Bedeutsam ist auch, dass bestimmte Supplemente, vor allem temporale Supplemente, in aller Regel innerhalb des modalen Deutungskontextes ausgewertet werden müssen:

Er muss um fünf Uhr noch nüchtern gewesen sein.


Funktionale Einordnung der Modalverben

Die Einordnung in Zeit- und Realitätsbezüge ist eine der beiden Hauptaufgaben des Verbalkomplexes. Es erscheint dabei nicht sinnvoll, die Modalverben wie unveränderliche Satzoperatoren (etwa wie Satzadverbialia) zu behandeln. Der morphologisch komplexe Verbalkomplex muss vielmehr auch syntaktisch-semantisch komplex interpretiert werden: Der Beitrag zur propositionalen Bedeutung einerseits und der Beitrag zur Einordnung in Realitätsbezüge und zur Konstitution von Deutungskontexten andererseits müssen nicht in jedem Fall gleichzeitig oder in einem einzigen Schritt verrechnet werden. Vielmehr kann die modale Bedeutungskomponente flexibel bei jedem Schritt der Konstitution propositionaler Bedeutung wirksam werden, d. h. vor der ersten Komplementanbindung, nach einer oder mehreren Komplementanbindungen und nach allen Komplementanbindungen (vgl. oben), wobei auch noch Modifikationen in Form von Supplementen einbezogen sein können. Man kann somit festhalten:

Modalverben sind Infinitoperatoren, die aus einem n-stelligen Infinitiv oder einer n-stelligen Infinitgruppe einen n-stelligen Verbalkomplex oder eine neue n-stellige Infinitgruppe machen. Der durch das Modalverb eingebrachte modale Deutungskontext kann auf jeder Stufe der Propositionskomposition wirksam werden.

Demnach haben Modalverben ähnlich 'auxiliaren' Charakter wie Hilfsverben, ihre Besonderheit ist zum einen die Variabilität ihres semantischen Einflussbereichs, zum anderen ihre Bedeutung selbst. Der Bedeutungsunterschied zwischen Hilfsverben und Modalverben wird deutlich beim Vergleich von Merkmal 5 der Modalverben und Merkmal 4 der Hilfsverben.

Zum auxiliaren Charakter der Modalverben

Zur Abgrenzung der Modalverben von anderen Verbklassen

Zum Text

Schlagwörter
Autor(en)
Gisela Zifonun, Marek Konopka
Letzte Änderung
Aktionen
Seite merken
Seite als PDF
Seite drucken
Seite zitieren

Seite teilen