Abgrenzung der Modalverben von anderen Verbklassen

Hauptmerkmale der Modalverben

Um den Kernbereich der Modalverben aus der Gesamtheit aller Verben auszugrenzen, kann nicht ein einzelnes morphosyntaktisches oder semantisches Kriterium herangezogen werden. Notwendig ist vielmehr folgende, komplexe Bestimmung:

Zum Kernbereich der Modalverben zählen Verben, die folgende Merkmale aufweisen:
  1. Sie regieren den reinen Infinitiv und können nicht gleichzeitig ein Akkusativkomplement regieren.
  2. Sie werden nicht im Imperativ gebraucht.
  3. Sie haben ein volles Paradigma der Tempusformen.
  4. Sie haben keinen eigenen Valenzrahmen. Sie übertragen lediglich den Valenzrahmen des Verbs, auf dem sie operieren, auf den Verbalkomplex.
  5. Sie werden dazu verwendet, Propositionen vor bestimmten Redehintergründen, z. B. situativen Umständen, Normen oder Wissensvoraussetzungen, als möglich bzw. notwendig einzuordnen.

Insgesamt können an diesen Kriterien bereits Parallelen und Unterschiede zu den Hilfsverben abgelesen werden, insbesondere am oben genanntem Merkmal 5 gegenüber Merkmal 4 der Hilfsverben.

Über die genannten Kriterien hinaus gibt es eine Reihe weiterer, nichtdefinitorischer Merkmale, die zwar typischerweise den Modalverben, zuweilen aber auch anderen Verben zukommen.

Die Peripherie der Modalverben teilt mit dem Kernbereich Merkmale 2, 3, 4 und 5. Die Halbmodale sind mit den eigentlichen Modalverben vor allem durch die gleiche semantische Funktion (Merkmal 5) verbunden.

Wollen, das hier zum Kernbereich gezählt wird, weist einige bemerkenswerte Besonderheiten im Hinblick auf Merkmal 2 und 4 auf:

  • Abweichungen von Merkmal 2: Ein Imperativ scheint bei wollen nicht gänzlich ausgeschlossen. Neben literarischen Beispielen (Rilke: "Wolle die Wandlung!") begegnet die Imperativform auch in der Umgangsprache ("Wolle nur!"). Nicht als Imperativ (im Sinne des entsprechenden Verbmodus) ist wollen in den wenig gebräuchlichen Distanz- und Adhortativformen aufzufassen:
Wollen Sie bitte das Gedicht aufsagen!
Wollen wir's hoffen!
Wollen wir doch erst einmal sehen (...)

Die Distanz- und Adhortativformen sind bei anderen Modalverben und bei Hilfsverben ausgeschlossen.

  • Abweichungen von Merkmal 4: Bei wollen (teilweise auch möchte-) wird das belebte Subjekt bevorzugt, vgl.: Ich will stehen versus *Das Haus will stehen (aber wiederum: Das Haus will nicht stehen). Diese rudimentäre Valenz weist auf eine semantische Selbständigkeit von wollen hin.

Entscheidend für die Einordnung von wollen zum Kernbereich ist also das semantische Merkmal 5 und die Tatsache der Integration in das System der übrigen Modalverben, insbesondere durch die systematische Beziehung zu sollen.

Abgrenzung der Modalverben von den AcI-Verben

Durch Merkmal 1 werden die Modalverben von den Verba Sentiendi sehen, hören, fühlen, spüren, außerdem von finden und haben sowie lassen und (dem archaisierenden Gebrauch von) machen abgegrenzt, die den reinen Infinitiv neben einem akkusativischen Termkomplement regieren (sogenannte AcI-Verben):

Ich höre/sehe/lasse ihn kommen.
Ich habe/finde ein Buch hier liegen.
Das macht mich lachen.

Abgrenzung der Modalverben von anderen Verben mit reinem Infinitiv

Nicht ausgeschlossen werden von Merkmal 1:

  • tun in seiner Verwendung als Periphrase eines thematisch gebrauchten und in Infinitivform in Spitzenstellung gerückten Verbs (Ärgern tut mich das schon),
  • bleiben in Verbindung mit statischen Verben wie stehen, stecken (Er bleibt stecken),
  • die Bewegungsverben gehen, fahren, schicken (als kausatives Bewegungsverb) usw., die den reinen Infinitiv regieren können (baden gehen, Brötchen holen fahren, jmdn. Zigaretten holen schicken),
  • die gelegentlich mit reinem Infinitiv gebrauchten lehren, lernen, heißen und helfen (jmdn. tanzen lehren, lesen lernen, jmdn. stehen bleiben heißen, etw. vermeiden helfen),

Diese Verben unterscheiden sich von den Modalverben durch Merkmal 2 und 4, sie haben allesamt einen zumindest rudimentären Valenzrahmen und können einen Imperativ bilden. Auch daran, dass bei Modalverben Infinitive von Verben aller semantischen Klassen vorkommen können, im Gegensatz zu den obengenannten infinitivregierenden Verben, zeigt sich die Sonderstellung der Modalverben.

Durch Merkmal 3 kann der Kernbereich der Modalverben schließlich vom infinitivregierenden werden (= werden I) unterschieden werden, das hier als in das verbale Paradigma der Vollverben integriertes Hilfsverb betrachtet wird.

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Autor(en)
Gisela Zifonun, Marek Konopka
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