Funktionale Bestimmung des Verbalkomplexes
Aufgaben des Verbalkomplexes
Dem Verbalkomplex kommen drei verschiedene Aufgaben zu:
- Als Realisationsform des Prädikats repräsentiert er das Organisationszentrum der Proposition.
- Er trägt dazu bei, die Proposition in Zeit- und Realitätsbezüge einzuordnen, und bereitet eine bestimmte Informationsstrukturierung für den Satz vor.
- Er sorgt für die Kongruenz im Satz, indem er bezüglich der Person und des Numerus mit dem Subjekt korrespondiert.
Im Folgenden werden nur die beiden ersten Aufgaben behandelt. Ihnen kommt eine Schlüsselrolle im semantischen Aufbau von Sätzen zu. Demgegenüber betrifft die letzte Aufgabe die Feinabstimmung zwischen den Satzkomponenten. Sie wird in der Informationseinheit Die Korrepondenz zwischen Subjekt und finitem Verb beschrieben.
Verbalkomplex aus nur einer Verbform
Die beiden ersten Aufgaben werden durch jeweils verschiedene Teile des Verbalkomplexes wahrgenommen. Besteht der Verbalkomplex aus nur einer Verbform, so wird oft jede Aufgabe von einem anderen Teil der Verbform übernommen. Dies ist etwa bei schwachen Verben im Präsens und Präteritum (Indikativ) der Fall (z. B. lachen in Der Junge lacht/lachte). Hier wird Aufgabe 1 (Realisation des Prädikats und Organisation der Proposition) vom lexikalischen Morphem (lach-), Aufgabe 2 (Einordnung in Zeit- und Realitätsbezüge, Informationsstrukturierung) vom Flexionsmorphem (-t/-te) erfüllt. Die Morpheme bilden jeweils in sich abgeschlossene Einheiten, die einander nicht überlappen. In vielen anderen Fällen ist aber eine derartige lineare Trennung beider Aufgaben nicht möglich, weil das lexikalische Morphem von der Flexion überlagert wird. Man vergleiche etwa die starken Verben, bei denen flexionsbedingte Veränderungen des Wortstamms auftreten (z. B. schlafen in Der Junge schläft/schlief). Genaueres zur Flexion: siehe Vollverb.
Beim Verbalkomplex aus nur einer Verbform wird oft von einer 'einfachen Verbform' gesprochen (Verbformen mit einem abgetrennten Präverb wie in Der Junge schläft ein sind hier eingeschlossen).
Verbalkomplex aus mehreren Verbformen
Besteht der Verbalkomplex aus mehreren Verbformen, werden die beiden oben genannten Aufgaben lexikalisch getrennt wahrgenommen:
Das finite Verb ist in diesem Fall kein Vollverb und leistet keinen Beitrag zur propositionalen Bedeutung, dient somit nicht der Erfüllung von Aufgabe 1 (Realisation des Prädikats und Organisation der Präposition). Es übernimmt dafür als Hilfsverb oder Modalverb Aufgabe 2 (Einordnung in Zeit- und Realitätsbezüge, Informationsstrukturierung), und zwar in allen ihren Teilbereichen: Es ist beteiligt an
- der Herstellung des Zeitbezuges (z. B. ist in Hans ist gekommen),
- der modalen Charakterisierung der Proposition (z. B. muss, mag in Hans muss/mag kommen) und
- der Vorbereitung einer bestimmten Informationsstrukturierung durch Steuerung des Prädikats hinsichtlich seiner Argumente (Passivformen wie Das Buch wird (von Hans) bearbeitet gegenüber Aktivformen wie Hans bearbeitet das Buch).
Aufgabe 1 (Realisation des Prädikats und Organisation der Präposition) wiederum wird im Verbalkomplex aus mehreren Verbformen durch das infinite Vollverb wahrgenommen, das als Ausdruck für das Prädikat im engeren Sinne zu dienen hat: So ist gekommen in Wir werden gekommen sein Ausdruck des Charakteristikums, das dem mit wir bezeichneten Gegenstand zugeschrieben wird.
Weitere infinite Bestandteile des Verbalkomplexes (infinite Hilfsverben und Modalverben) sind - wenn überhaupt vorhanden - wiederum an der Erfüllung der einzelnen Teilbereiche von Aufgabe 2 (Einordnung in Zeit- und Realitätsbezüge, Informationsstrukturierung), beteiligt, das heißt, sie leisten einen Beitrag zur zeitlichen (a) und modalen (b) Einordnung der Proposition bzw. signalisieren eine Umordnung der Argumentstruktur (c):
Die auf die einzelnen Teilbereiche von Aufgabe 2 (Einordnung in Zeit- und Realitätsbezüge, Informationsstrukturierung) spezialisierten Verben können miteinander kombiniert werden (Genaueres zu den möglichen Kombinationen in Tempus und Genus Verbi in Verbalperiphrasen und Rekursive Anwendung):
Die folgende Tabelle fasst die bisherigen Überlegungen zu den Aufgaben des Verbalkomplexes und seiner Bestandteile zusammen:
Teile des | Verbalkomplexes | |
Aufgaben | im Verbalkomplex aus nur einer Verbform | im Verbalkomplex aus mehreren Verbformen |
Realisation des Prädikats, Organisation der Proposition | lexikalisches Morphem, z.B.: geh- | infinites Vollverb,
z.B.: geschrieben schreiben |
Einordnung in Zeit- und Realitätsbezüge, Informationsstrukturierung | Flexionsmorphem /Flexion, z.B.: -t | finites Verb,
z.B.: hat muss wird infinite Verben mit Ausnahme des Vollverbs, z.B.: müssen haben werden |
Funktionale Einordnung des Verbalkomplexes
Die Anbindung der Komplemente erfolgt sukzessive, sodass der Satz als eine um den Verbalkomplex in mehreren Ebenen zentrierte Struktur erscheint. An einen n-stelligen Verbalkomplex wird zunächst das unter semantischen Gesichtspunkten verbnächste Komplement angebunden. Die dabei entstehende Verbgruppe ist dann nur noch n-1-stellig. In analoger Weise werden die übrigen Komplemente angebunden, bis keine freie Stelle mehr vorhanden ist und die nullstellige Verbgruppe, der Satz, erreicht ist. Auf jeder der Zwischenebenen kann die Verbgruppe durch Supplemente erweitert oder 'modifiziert' werden. Es liegt somit bei einem n-stelligen Verbalkomplex für den Satz folgendes abstraktes Strukturschema vor:
Bei dem Satz
kann das Strukturschema wie folgt konkretisiert werden:
Es gibt zwei Kategorien von Verben, die in Verbindung mit einer infiniten Verbform eines anderen Verbs einen Verbalkomplex bilden können: Hilfsverben und Modalverben. Einen (vollständigen) Verbalkomplex stellen allerdings nur finite Hilfsverben und Modalverben her:
Infinite Hilfsverben und Modalverben bilden dagegen zusammen mit einer anderen infiniten Verbform lediglich eine komplexere Gruppe infiniter Verbformen, die erst durch ein finites Verb zum Verbalkomplex vervollständigt wird.
Die Modalverben haben auch andere, allerdings eher marginale Verwendungen, vgl. Modalverben ohne regierten Infinitiv.
Unter den Eigenschaften, die Hilfsverben und Modalverben von den Vollverben unterscheiden, gibt es einige, die sowohl den Hilfsverben als auch den Modalverben zukommen. Zu diesen Gemeinsamkeiten gehören:
- Fehlen eines eigenen Valenzrahmens
- nicht oder kaum vorhandene Passivfähigkeit
- kaum eigene Modifizierbarkeit
- Möglichkeit einer Anapher (Er hat es/er muss es statt Er hat gearbeitet/er muss arbeiten) oder Anadeixis (Das hat er/das muss er)
Zu syntaktischen und semantischen Unterschieden zwischen den beiden Verbklassen vgl. Abgrenzung der Modalverben von anderen Verbklassen.