Abgrenzung der Hilfsverben von den Vollverben

Hauptmerkmale der Hilfsverben

Als Hilfsverben werden Verben eingeordnet, wenn sie wie folgt verwendet werden:
  1. Sie regieren eine infinite Form (Infinitiv oder Partizip II) von Vollverben und Modalverben.
  2. Sie werden nicht im Imperativ gebraucht.
  3. Sie haben keinen eigenen Valenzrahmen, sondern übertragen den des Vollverbs, auf dem sie operieren, (teilweise in umgeordneter Form) auf den Verbalkomplex.
  4. Sie werden als Teile von Verbalperiphrasen im Formenparadigma von Vollverben/Modalverben verwendet.

Als Hilfsverben können die Verben sein, haben und werden verwendet werden, die aber auch Vollverbverwendungen haben (vgl. Die Hilfsverben im Formenparadigma der Vollverben).


Funktionale Grundlage für die Abgrenzung

Mit der Annahme einer Integration der Hilfsverben in das System der Verbformen (vgl. oben 4) ist eine bestimmte Position in der Diskussion um die Einordnung der Hilfsverben charakterisiert: Die Hilfsverben bilden eine eigenständige grammatische Kategorie, der die Vollverben nicht angehören. Die funktionale Begründung lautet in ihrem Kern wie folgt: Die Hilfsverben dienen dazu, das System der einfachen Verbformen hinsichtlich der Tempus- und Genus-Verbi-Kategorisierung zu ergänzen. Unter Beteiligung von Verbalperiphrasen entsteht somit das für das Deutsche charakteristische Mischsystem der Verbformen. In diesem sind einerseits flexivische Mittel (z. B.: kommt) eingesetzt, andererseits lexikalisch selbständige Mittel in syntaktischer Verbindung (z. B.: ist gekommen).

Systematische periphrastische Fügungen sind nur innerhalb des Verbalsystems möglich, wenn man von der Ähnlichkeit der Passivverbindungen mit den Adjektiv-Kopula-Verbindungen (wird erhellt/ist erhellt und wird hell/ist hell) absieht. Auch diese Tatsache spricht für die Integration der Hilfsverben in das System der Verbformen. Wohlgemerkt, ebenfalls im Bereich der Passivbildung ist eine verbalsysteminterne Offenheit des periphrastischen Teilsystems zu beobachten: Nicht nur die Hilfsverben werden II und sein fungieren bei der Konversenbildung, sondern auch bekommen, kriegen, erhalten (vgl. das bekommen-Passiv) sowie sein zu, bleiben zu, stehen zu und gehören.

Zu diesem funktionalen Hauptkriterium für die Abgrenzung der Hilfsverben kommt noch eine Reihe weiterer Merkmale hinzu, die Hilfsverben von Vollverben unterscheiden und die teilweise über die oben aufgelisteten wesentlichen Merkmale hinausgehen:


Syntaktische Abfolgebeschränkungen

Hilfsverben haben kombinatorisch geregelte Eigenschaften. Innerhalb von Verbalperiphrasen gelten strikte syntaktische Abfolgebeschränkungen:

(1) ... weil er gerufen worden ist.
(1a) * ... weil er worden gerufen ist.

Werden hingegen zwei Vollverben kombiniert, scheint es prinzipiell keine syntaktischen Abfolgebeschränkungen zu geben, z. B.:

(2) ... weil er ihn das Buch sehen gelassen hat.
(2a) ... weil er ihn sich ein Bier kommen lassen gesehen hat.

Zur Wortstellung im Verbalkomplex vgl. Abfolgeregularitäten im rechten Satzklammerteil.


Lexikalische Eigenschaften

Mit der obigen, syntaktischen Sehweise steht im Einklang, dass die Hilfsverben im heutigen Deutsch nicht mehr die prototypischen lexikalischen Eigenschaften von Verben aufweisen. Die Verben im Sinne von Vollverben haben nämlich eine eigenständige Bedeutung. Sie ist syntaktisch fassbar durch einen eigenen Valenzrahmen und Selektionsbeschränkungen bezüglich der einzelnen Argumente des Valenzrahmens, man vergleiche z. B. den Gebrauch von haben als Vollverb im Sinne von besitzen, innehaben, aufweisen, verfügen über. Wenn sein und werden als Kopulaverben verwendet werden, haben sie ebenfalls Valenz, sie verlangen ein Prädikativkomplement (er ist/wird frei, er ist/wird Bäcker, er ist aus Frankfurt).

Verben in Hilfsverbfunktion haben dagegen keinen eigenen Valenzrahmen. Sie transportieren vielmehr als Teile von Verbalperiphrasen die Valenz der Infinitform, mit der sie sich verbinden, weiter, übergeben sie - bei der Passivbildung in gegenüber der lexikalischen Valenz des Verbs abgewandelter Form - an den gesamten Verbalkomplex (vgl. Valenzübertragung). Hilfsverben haben also keine Valenz, sie haben allerdings eine Rektion, denn sie regieren eine infinite Verbform (vgl. Rektion).


Einschränkungen im Formenparadigma

Die Formenparadigmen von Hilfsverben und Vollverben weisen Unterschiede auf: In Hilfsverbverwendung werden die Verben nicht in den Imperativ gesetzt, wohl aber als Kopulaverben oder Vollverben: Sei pünktlich! Habe Mut! Werde endlich ein Mann! gegenüber *Sei um fünf Uhr gekommen! *Habe das Buch auf den Tisch gelegt! *Werde nach Frankfurt kommen! ?Werde von niemandem belogen! Aus ihrer Funktion im verbalen Paradigma ergibt sich darüber hinaus, dass die Hilfsverben sein und haben sowie werden I selbst über kein volles Paradigma der Tempusformen verfügen (vgl. Die Formenparadigmen der Hilfsverben). Dies trifft allerdings nicht für werden II zu.


Besonderheiten bei Negation bzw. adverbialer Modifikation

Anders als bei Vollverben mit abhängigen Infinitivkonstruktionen oder Subjunktorsätzen sind bei periphrastischen Verbalkomplexen in der Regel keine Möglichkeiten gegeben, die komplexe Struktur z. B. durch doppelte Negation bzw. durch mehrfache adverbiale Modifikation explizit in zwei Prädikationen aufzubrechen:

- doppelte Negation:

(1) * Ich werde nicht dich nie wiedersehen.

- mehrfache adverbiale Modifikation:

(2) Dir wurde gern sofort widersprochen.

Satz (2) ist zwar möglich, jedoch haben beide Adverbialia Bezug auf widersprochen.

Allerdings ist in Präsensperfekt, Präteritumperfekt und Futurperfekt der Bezug eines temporalen Adverbiales auf das Hilfsverb sein/haben bzw. doppelte Bezüglichkeit temporaler Adverbialia auf Hilfsverben und/oder Infinitiv Perfekt nicht ausgeschlossen. Solche Fälle scheinen jedoch nicht die Einordnung der Hilfsverben als Vollverben zu rechtfertigen.


Wiederaufnahme- und Anschlussmöglichkeiten

Schließlich sind bei Hilfsverb und Vollverb unterschiedliche Möglichkeiten der Wiederaufnahme bzw. des Anschlusses im Text gegeben. Die lexikalische Trennung der Realisierung des Prädikates von der Realisierung des Zeitbezugs bzw. der Diathese im Hilfsverb-Komplex ermöglicht eine Anapher (es in Beispiel (2)) oder Anadeixis (das in Beispiel (1) und (3)) mit Bezug auf das (auch erweiterte bis maximale) Prädikat:

(1) Ich habe gestern an der Demonstration teilgenommen. Das habe ich auch.
(2) Ich bin schon öfter auf den Seekogel gestiegen. Und Fritz ist es auch, ohne damit besonders anzugeben.
(3) Die beiden Brüder wurden betrogen. Das wurden sie nach allen Regeln der Kunst.

Bei einfachen Verbformen ist in vergleichbaren Fällen nur Analepse möglich:

(4) Ich nehme an der Demonstration teil. Ich auch.
(5) Ich steige öfter auf den Seekogel. Fritz auch.
(6) Man betrügt die beiden Brüder. Nach allen Regeln der Kunst.

Regelformulierung zu Verbalkomplexen mit Hilfsverben

Zum Text

Schlagwörter
Autor(en)
Gisela Zifonun, Marek Konopka
Letzte Änderung
Aktionen
Seite merken
Seite als PDF
Seite drucken
Seite zitieren

Seite teilen