Präsensperfekt
Präsensperfekt liegt vor in Sätzen wie diesen:
(Klaus Kinkel 1998 in SWR1/ Leute)
Ich habe gesagt, dass wir jetzt das Hotel verlassen müssen, wenn wir nicht hetzen wollen, und da hast du gesagt, dass du fertig wärst, und da habe ich gefragt, warum wir nicht gehen, und dann hast du gesagt, dass du nur wartest, bis ich aufstehe, und da habe ich gesagt, dass ich so lange sitzen bleibe, bis du fertig bist.
(Loriot, Aufbruch, z.B. unter http://youmix.co.uk/track/872916)
Das Präsensperfekt drückt mithin Vergangenheit relativ zu präsentischen Betrachtzeiten aus, also relativ zu Betrachtzeiten beliebiger Lage.
Präteritum versus Präsensperfekt
Eine der Hauptschwierigkeiten bei einer grammatischen Beschreibung der deutschen Tempora liegt darin, den Unterschied zwischen den beiden Vergangenheitstempora Präteritum und Präsensperfekt angemessen zu fassen. Durch die oben gegebene Beschreibung ist ein wesentlicher Unterschied bereits klar: Das Präsensperfekt ist eine zusammengesetzte Zeit und wird entsprechend in zwei Schritten interpretiert. Deshalb können mit dem Präsensperfekt auftretende Temporaladverbialia wie heute in Bezug auf das Obertempus Präsens interpretiert werden.
(Bollnow 1962, 50)
(Grzimek 1967, 202)
Die Pflicht des Staates, den Geist zu ernähren auch abseits vom kontrollierbaren Zwecke, ist heute für die Vertreter des Geistes angenehmer geworden, weil diese Vorsorge gesetzlich geregelt, und weil sie anonym geworden ist.
(Heimpel 1960, 79)
Ich habe 1978 in der Debatte um den schnellen Brüter als Forschungsminister im Bundestag erklärt, dass wir aus unserer politischen Verantwortung heraus uns die Möglichkeit offen halten müssen, "technische Entwicklungen notfalls zu widerrufen (...)". Heute ist diese Situation eingetreten.
(Die Zeit 12.9.1986, 25)
Mitunter erfolgt die Deutung mit Bezug auf den Satzrest mit dem Infinitiv Perfekt.
Über die Vorstellungen Prof. Dittrichs hat 'Die Norddeutsche' bereits gestern ausführlich berichtet.
(Weser-Zeitung 8.9.1973, 13)
Dagegen sind Äußerungen mit Präteritum in Kombination mit Temporaladverbialia eindeutig zu verstehen, da sich das Temporaladverbiale nur auf eine Betrachtzeit beziehen kann.
Dieser Satz hat immer nur die eine Lesart, in der sich damals auf die Betrachtzeit bezieht, wohingegen der folgende Satz je nach Kontext zwei Lesarten hat.
- Die Lesart, in der sich das Temporaladverb auf die Betrachtzeit des Infinitiv Perfekt bezieht, besagt, dass Napoleon zu der mit damals bezeichneten Zeit, die in unserer Vergangenheit liegt, halb Europa erobert.
- Die Lesart, in der sich damals auf das Obertempus Präsens bezieht, besagt, dass Napoleon zu der mit damals bezeichneten Zeit, deren Lage zu unserer Gegenwart im Prinzip irrelevant ist, bereits halb Europa erobert hat.
In der ersten Lesart könnte man damals auf das gesamte Intervall von Napoleons Eroberungszügen zwischen 1796 und 1812 beziehen, in der zweiten nur auf ein Teilintervall, etwa die Jahre 1807 bis 1812.
Sätze im Präsensperfekt mit einem auf die Betrachtzeit des Infinitiv-Perfekt-Satzrestes bezogenen Temporaladverbiale sind mit entsprechenden Präteritumsätzen fast bedeutungsgleich.
Gestern ist Helmut ins Kino gegangen.
In der Interpretation des ersten Satzes muss die Betrachtzeit gemäß der Festlegung für das Präteritum vor der Sprechzeit liegen und ist außerdem durch gestern spezifiziert.
Im zweiten Satz ist die Betrachtzeit für das Obertempus Präsens nicht ausdrücklich spezifiziert, weshalb sie nach den Interpretationsregeln für das Präsens mit der Sprechzeit gleichgesetzt werden kann. Die Betrachtzeit für den Satzrest liegt nach den Interpretationsregeln für den Infinitiv Perfekt vor dessen Orientierungszeit. Die Orientierungszeit wiederum ist mit der Betrachtzeit des Obertempus identisch und hier gleich der Sprechzeit. Zusätzlich wird die Betrachtzeit des Infinitiv-Perfekt-Satzrestes durch gestern spezifiziert.
Der Unterschied zwischen beiden Sätzen liegt also lediglich darin, dass im ersten Satz die Betrachtzeit, auf die sich das Temporaladverb bezieht, in einem einzigen Interpretationsschritt erreicht wird, im zweiten Satz hingegen in zwei Schritten. Dies ist jedoch in vielen Kontexten irrelevant.
Das Präsensperfekt erlaubt zwei zeitunterschiedene Temporaladverbialia in einem Satz, von denen sich eines auf das Obertempus, das andere auf den Infinitiv-Perfekt-Satzrest bezieht.
(Spiegel 3/1985, 8 - Leserbrief)
Dass solche Sätze selten sind, liegt wohl daran, dass sie recht komplizierte semantische Verarbeitungsschritte erfordern: Zu der Zeit, als der Leserbrief geschrieben wurde, 1985, lebte Konrad Adenauer nicht mehr. Der Satz muss deshalb so interpretiert werden, dass sich heute auf das Obertempus bezieht, früher als Sie auf den Infinitiv-Perfekt-Satzrest.
Ein Ersatz der Präsensperfektform durch eine Präteritalform macht solche semantische Manöver unmöglich und erzwingt eine Interpretation, nach der sich sowohl heute als auch früher als Sie auf die eine Betrachtzeit für das Präteritum beziehen. Dies wäre nur möglich, wenn der durch früher als Sie abgegrenzte Zeitabschnitt sich mit dem von heute bezeichneten Intervall überschnitte, was aber in Widerspruch zu unserem Weltwissen geraten müsste.
Das Präsensperfekt erlaubt zukunftsbezügliche Adverbialia
Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen den beiden Tempora besteht darin, dass in Präsensperfektsätzen zukunftsbezügliche Adverbialia auftreten können, in Präteritumsätzen jedoch nicht.
ist ein gängiger Satz. Das komplexe Temporaladverbiale morgen Mittag muss hier in Bezug auf die Betrachtzeit des Obertempus gedeutet werden, da nur diese Interpretation nicht widersprüchlich ist. Dagegen ist ein entsprechender Präteritumsatz in der Regel nicht möglich.
Die Betrachtzeit für das Präteritum muss hier vor der Sprechzeit liegen, woraus sich ein Widerspruch mit der Interpretation von morgen ergäbe. Diese Kombination ist nur ganz markiert möglich, wenn es um erinnerte oder vorerwähnte Sachverhalte geht. Wenn etwa Rumpelstilzchen vergesslich wäre, könnte es murmeln:
Das Präsensperfekt fokussiert die Betrachtzeit
Bei Sätzen ohne Temporaladverbialia führt der Unterschied in der kompositionalen Interpretation von Präsensperfekt und Präteritum zunächst nicht zu einer unterschiedlichen zeitlichen Einordnung.
Hans hat gearbeitet.
Beide Sätze sind unter den gleichen Umständen wahr oder falsch. Der Unterschied reduziert sich darauf, dass im Fall des Präteritums die Betrachtzeit in einem einzigen Interpretationsschritt erreicht wird, während im Fall des Präsensperfekt die Betrachtzeit in zwei Schritten erreicht wird.
Mit diesem Unterschied kann man auf zweierlei Weise umgehen: Man kann ihn ignorieren, wodurch die Sätze austauschbar werden. Dies wird vor allem im Oberdeutschen stark genutzt, wo Präteritalformen zumindest in gesprochener Sprache selten sind, ebenso wie Präteritum-Perfekt-Formen, an deren Stelle Formen treten, die man als Präsensperfekt-Perfekt bezeichnen könnte.
(Manfred Rommel 2. 9. 1998 im Gespräch mit Martin Born in SWR /: Unternehmungen)
Vgl. zum Präteritumschwund im Oberdeutschen Hauser-Suida/ Hoppe-Beugel 1972 und Koby 1993.
Entsprechend finden sich Beispiele, bei denen der Unterschied neutralisiert ist.
(Jung 1965, 43)
Andererseits aber kann die Wahl zwischen beiden Formen auch im Sinne der Fokussierung des kompositionalen Unterschieds zwischen beiden Tempusformen genutzt werden:
Wählt ein Sprecher an einer bestimmten Stelle das komplexere Präsensperfekt statt des aus Hörer- wie Sprechersicht einfacheren Präteritums, wird die - gegenüber dem Präteritumsatz zusätzliche - Betrachtzeit für das Obertempus fokussiert. Das betont, dass das zurückliegende Ereignis von der Sprechzeit her gesehen als besonders relevant für die Gegenwart zu betrachten ist. Ein solcher Effekt kann sich einstellen, wenn in einer Präteritumsequenz ein Präsens und dann ein Präsensperfekt auftritt.
(Spiegel, 51/1984, 200, Hohlspiegel)
Präsensperfekt eignet sich auch dazu, Vorzeitigkeit zum Ausdruck zu bringen; vor allem kann durch Präsensperfekt Vorzeitigkeit zu im Präsens berichteten Ereignissen dargestellt werden.
(Frisch 1966, 217)
Ich habe in den Ausführungen von Herrn Strasser wesentlich dies bemerkt, dass man eine kleine philologische Veränderung vorgenommen hat, nämlich dass man nicht mehr von der "Brechung der Zinsknechtschaft" redet, weil das eine durch die Abgedroschenheit und Inhaltslosigkeit fragwürdige Formel geworden ist, sondern dass man sie ersetzt hat durch das schöne Wort der "produktiven Kreditschöpfung".
(Heuss 1964, 428)
Auch hier ist es nicht nötig, die Beispiele weiter zu häufen, nachdem die zur Rede stehende Erscheinung deutlich geworden ist.
(Bollnow 1962, 167)
Erscheint Präsensperfekt im Kontext von im Präteritum dargestellten Ereignissen, handelt es sich stets um Sachverhalte, die etwa als Ergebnis einer Zustandsänderung auch für die Sprechzeit noch relevant sind.
(Bild, 15.3.1967, 8)
Ich hörte, dass meine Mutter aufschrie, dann seufzte sie auf eine Weise, die mir deutlich machte, wie alt sie geworden ist.
(Böll 1963, 39)
Weitere Überlegungen zur Unterscheidung von Präteritum und Präsensperfekt gibt es hier.