Präsens
Präsens liegt vor in Sätzen wie diesen:
(Roman Herzog am 22.1.1994 in SDR3/ Leute)
(Loriot, Advent, z. B. unter http://www.yolanthe.de/aktuell/advent/adv-loriot.htm)
(Manfred Rommel 1996 in SDR3/ Leute)
Die Betrachtzeit kann durch Temporaladverbialia wie heute, letzten Monat, demnächst im Satz selbst festgelegt oder durch zeitgebunden zu interpretierende Nominalgruppen wie der derzeitige Titelträger, Napoleon der Dritte im Satz erschließbar sein.
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Im ersten Beispiel steht die Präsensform sitz in Konkurrenz zu der in ähnlich gelagerten Kontexten üblicheren Präteritumform saß (im süddeutschen Raum auch zur Präsensperfektform bin gesessen). Die Verwendung der Präsensform dient hier dazu, eine spezielle stilistische Wirkung, eine Vergegenwärtigung, zu erzielen. Das zweite Beispiel verdient besondere Beachtung, denn, anders als die traditionelle Bezeichnung suggeriert, wird im Deutschen meist Präsens und nicht etwa das Futur verwendet, wenn von Zukünftigem die Rede ist. Nur, wo Kontextunterstützung fehlt und auch Weltwissen nicht weiterhilft, wird zum Futur gegriffen, um von Zukünftigem zu sprechen, weil unter diesen Voraussetzungen die Sprechzeit als Standard-Betrachtzeit wirksam werden müsste.
Stellt man diese Ankündigung in einen Kontext, in dem vorab klar ist, dass von Erwartetem die Rede ist, könnte ohne Weiteres die Präsensform gewählt werden.
Auch Äußerungen, in denen die Betrachtzeit nicht ausdrücklich spezifiziert ist, lassen sich oft hinreichend genau interpretieren, wenn man die Prinzipien in Rechnung stellt, die generell für kommunikatives Handeln gelten. Ein darauf aufbauendes Räsonnement erlaubt, entsprechende Äußerungen zu interpretieren.
(Heimpel 1956: Kapitulation, 78)
Räsonnement
- Es handelt sich um eine Präsensform.
- Das Präsens gibt selbst keine Betrachtzeit vor.
- Eine Betrachtzeit wird hier nicht spezifiziert.
- Da nicht anzunehmen ist, dass der Autor überinformativ oder zu wenig informativ sein wollte, muss die Lage der Ereigniszeit - also der Zeit, in der das skizzierte Ereignis eingetreten sein soll - auch ohne Kenntnis der Betrachtzeit einfach zu erschließen oder für die Interpretation des Satzes unwesentlich sein.
- Die Lage der Ereigniszeit ist nicht einfach zu erschließen, denn weder enthält der Satz deiktische Ausdrücke, noch gibt es Hinweise aus der Interpretation von Teilen dieses Satzes, aus denen man auf die Lage der Ereigniszeit relativ zur Sprechzeit schließen kann.
- Also kann die Lage der Ereigniszeit für die Interpretation dieses Satzes nicht relevant sein.
- Also wollte der Autor zu verstehen geben, dass es sich um eine nicht zeitabhängige Aussage handelt.
Das weitgehende Fehlen einer Festlegung der Betrachtzeit beim Präsens und die damit verbundene Flexibilität machen das Präsens zum idealen Tempus für zeitunabhängige oder völlig zeitlose Aussagen sowie für Aussagen, die relativ zu im Kontext bestimmten Zeitintervallen zutreffen.
(Petra Gerster 1998 in SWR1/ Leute)
(Wolfgang Schäuble 1998 in SWR1/ Leute)
Es kann sich um das Sprech- oder Kommunikationsintervall handeln, aber auch um ein Intervall in der Zukunft oder Vergangenheit. In solchen Fällen sollte die Standpunktverlegung jedoch nachvollziehbar sein. Der Sprecherschreiber hat Sorge zu tragen, dass die Betrachtzeit durch sprachliche Ausdrücke spezifiziert oder anhand pragmatischer Prinzipien erschließbar ist. Andernfalls bleibt nur die Annahme, es handle sich um eine zeitunabhängige Aussage.
Bei präsentischen Sätzen, bei denen die Betrachtzeit vor der Sprechzeit liegt, wird vor allem in mündlicher Rede durch das - szenisch genannte - Präsens ein stilistischer Effekt der Vergegenwärtigung erzielt, insbesondere, wenn solche Sätze in Erzählsequenzen auftreten, die Vergangenheitstempora gebrauchen.
(Marcel Reif 1997 in SDR3/ Best of Leute)
Fast schon konventionalisiert ist die Verwendung des vergangenheitsbezogenen Präsens, des sogenannten historischen Präsens, in historischen Texten, bei denen Datumsangaben die Bestimmung der Betrachtzeit erleichtern.
(Susanne Henn 1999 in '40 Tage im Herbst', SWR 1)