Bedeutung der Tempora I - Tempuslose Satzreste

Was genau gemeint ist, wenn man etwas zu hören oder zu lesen bekommt, weiß man im Allgemeinen erst, wenn man in der Lage ist, die Indikationen korrekt auszuwerten, die für die zeitliche Einordnung des Gesagten zuständig sind. Oft hängt es von Zeitindikationen ab, wie alarmierend eine Mitteilung ist.

Ein Sturm war losgebrochen.
Ein Sturm ist losgebrochen.
Ein Sturm brach los.
Ein Sturm bricht los.
Ein Sturm wird losbrechen.

Im sprachlichen Ausdruck werden Zeitbestimmungen vorgenommen durch Tempusformen der Verben und durch geeignete adverbiale Bestimmungen, etwa am 15. 3. 1843 oder im ersten vorchristlichen Jahrhundert. Auch Nominalphrasen können zeitsensitive Informationen liefern: Karl der Große, die Entdeckung Amerikas. Den Schlüssel zur zeitlichen Interpretation einer Äußerung jedoch bildet meist etwas, das selbst nicht ausgesprochen werden kann, sich in der Regel aber einfach zeigt: der Zeitpunkt, zu dem diese Äußerung ausgeführt wird. Ist dieser nicht bekannt, kann die ganze zeitliche Interpretation in der Luft hängen wie bei dieser Ankündigung, die man in englischen Pubs finden kann.

Wer hier auf finanzielles Entgegenkommen hofft, ist immer einen Tag zu früh....

Auch, wer mit der gegenwärtige Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gemeint ist, hängt ganz davon ab, wann dies geäußert wird. Und ob einer mit Zur Zeit regnet es! etwas Zutreffendes gesagt hat, ist nur festzustellen, wenn man die Zeit seiner Äußerung kennt.

Bei Sätzen im Sinne von kommunikablen Ausdruckseinheiten mit finitem Verb muss immer eine temporal zu interpretierende Verbform oder eine Umschreibung (eine sogenannte Periphrase) gewählt werden, denn der Ausdruck für die zeitliche Einordnung ist obligatorisch.

Syntaktisch gesehen sind Tempusmorpheme Bestandteile eines Verbs. Ihre Bedeutung betrifft jedoch in der Regel den Voll- oder Teilsatz, in dem die entsprechende einfache oder zusammengesetzte Form steht.

Eine Darstellung möglicher Ausnahmen findet sich in der Einheit Geltungsbereich der Tempora.

Um die Bedeutung der Tempora zu erfassen in Sätzen wie

Marius kocht Fischsuppe.
Marius kochte Fischsuppe.
Marius wird Fischsuppe kochen.

kann man in einem ersten Schritt ein tempusneutrales Konstrukt ansetzen, das bei allen drei Sätzen als zugrundeliegend betrachtet werden kann. Dieses Konstrukt ergibt sich, wenn man die finiten - auch die periphrastischen - Verbformen durch den entsprechenden Infinitiv ersetzt.

Marius kochen Fischsuppe.

Erklärung:
Dass im Satzrest der Infinitiv (der Assistent ein Buch schreiben) und nicht etwa der entsprechende Verbalstamm (der Assistent ein Buch schreib-) angesetzt wird, lässt sich so motivieren: Bei abhängigen Infinitivkonstruktionen (AcI-Konstruktionen) wird eben dieser tempuslose Restsatz mit entsprechender temporaler Interpretation gebraucht. Ein eigenes Konstrukt für die Interpretation solcher Konstruktionen erübrigt sich dann. So etwa hier:

Der Professor lässt den Assistenten ein Buch schreiben.
Konstrukte dieser Art kann man als tempuslose Satzreste bezeichnen. Sie sind sprachliche Skizzen, die erfassen, von welcher Art Ereignis die tempusspezifizierten Sätze handeln. Da in solchen Satzresten die Tempusbestimmung neutralisiert ist, eignen sie sich als Basis für die Interpretation aller Tempusformen.

Wie zu erfassen ist, was die verschiedenen Tempusformen zur Bedeutung von Sätzen beitragen, beschreibt die Einheit Bedeutung der Tempora II.

Zum Text

Schlagwörter
Autor(en)
Bruno Strecker
Bearbeiter
Elke Donalies
Letzte Änderung
Aktionen
Seite merken
Seite als PDF
Seite drucken
Seite zitieren

Seite teilen