Bedeutung der Tempora II - Sprechzeit, Ereigniszeit, Betrachtzeit und Orientierungszeit
Wie ist zu erfassen, was die verschiedenen Tempora zur Bedeutung von Sätzen beitragen? Einfache Sätze wie
Das Spiel hat begonnen.
lassen vermuten, bei der Interpretation von Tempusformen seien allein die folgenden beiden Zeitabschnitte zu berücksichtigen.
- die Sprechzeit, d. h. der Zeitabschnitt, in dem ein Satz geäußert wird
- die Ereigniszeit, d. h. der Zeitabschnitt, in dem das Ereignis stattfindet, das der tempuslose Satzrest skizziert
Dies greift jedoch gleich in zweifacher Hinsicht zu kurz.
Tempusformen treten auch in Sätzen auf, in denen ausdrücklich verneint wird, dass ein in Frage stehendes Ereignis überhaupt stattgefunden hat: Das Spiel hat nicht begonnen. Wer sich hier an der Ereigniszeit orientieren wollte, hätte dieselben Probleme wie jemand, der versucht niemanden zu finden.
Dabei wird jedoch das verkannt, was Tempusformen zur Bedeutung von Sätzen beitragen: Ereignisse finden statt, wann sie eben stattfinden, ganz unabhängig davon, wann wir von ihnen sprechen. Ihre Ereigniszeit steht deshalb ein für alle Mal fest. Ändern kann sich nur unsere zeitliche Blickrichtung.
Und genau hier setzen die verschiedenen Tempusformen an. Sie geben jeweils einen bestimmten Zeitabschnitt vor, eine zu betrachtende Zeit, kurz eine Betrachtzeit, in der das Ereignis ausgehend von der Sprechzeit oder einer - zwischenzeitlich eingeführten - anderen Orientierungszeit zu sehen ist.
Sprechzeit und Orientierungszeit bilden dabei keine Alternativen. Auch die Sprechzeit ist eine Orientierungszeit, eben ein Zeitabschnitt, von dem aus ein Ereignis gesehen wird. Dass sie nicht die einzig mögliche Orientierungszeit ist, zeigt sich etwa hier:
Für den zweiten Satz in dieser Sequenz ist bei der Interpretation der Tempusform nicht mehr die Sprechzeit maßgebend, sondern der Zeitabschnitt, der im ersten Satz als Betrachtzeit eingeführt wurde: so gegen acht Uhr abends, irgendwann vor der Sprechzeit.
Hier zeigt sich, dass Tempusformen dynamisch zu interpretieren sind. Sie reichen die eingeführten Betrachtzeiten an die Folgesätze als Orientierungszeiten weiter und können so, auch wenn sie keine absoluten Zeitbestimmungen liefern, doch sehr gut zeitliche Abläufe von Ereignissen erfassen.
(Kafka 1950: Gesammelte Werke, 62. In: www.zeno.org)
Siehe ausführlicher Dynamische Interpretation
von Tempusformen.
Vgl. zu einer exemplarischen Textinterpretation nach diesem
Verfahren außerdem Wie die Zeit
vergeht.
Betrachtzeiten können mit Temporaladverbialia genauer gefasst werden. Adverbialia wie so gegen acht Uhr abends spezifizieren dabei die Betrachtzeit, die von der Tempusform bereitgestellt wird, und müssen deshalb auch mit dieser 'Basis'-Betrachtzeit vereinbar sein. Im exemplarischen Fall stellt das kein Problem dar, denn so gegen acht Uhr abends ist mit jeder Tempusform kompatibel. Andere Temporaladverbialia, etwa gestern oder vor zwei Stunden sind eingeschränkter nutzbar: Mit dem folgenden Satz zum Beispiel ist kein Versprechen abzugeben.
Werden Temporaladverbialia verwendet, die absolute Werte setzen, bestimmt das Adverbiale die Betrachtzeit sogar unabhängig von der Sprechzeit.
Mit 1806 wird ein Zeitabschnitt vorgegeben, von dem aus das vom tempuslosen Satzrest skizzierte Ereignis - 1806 Napoleons Armee besiegen bei Jena die Preußen - gesehen wird.
Nicht nur Temporaladverbialia können Betrachtzeiten vorgeben, auch Namen historischer Persönlichkeiten oder Beschreibungen bekannter Ereignisse.
Das Heidelberger Schloss wurde im Pfälzischen Erbfolgekrieg von den französischen Truppen zerstört.
Auch pragmatische Interpretationsprinzipien spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle.
Zwei Nachbarn unterhalten sich über den Gartenzaun:
Wir fahren nach Stuttgart.
Da sich der Sprecher zum Zeitpunkt seiner Äußerung nicht von der Stelle bewegt, ist für seinen Zuhörer völlig klar, dass als Betrachtzeit nur ein zukünftiger Zeitabschnitt in Frage kommen kann.
Bei periphrastischen, also zusammengesetzten Formen verbleibt nach Interpretation des Tempus der finiten Verbform - des Obertempus - im Restsatz noch ein Infinitiv Perfekt. Dieser wird so interpretiert: Die für das Obertempus geltende Betrachtzeit dient für die weitere Interpretation als Orientierungszeit, von der ausgehend die - zweite - Betrachtzeit für die Interpretation des jetzt tempuslosen Satzrestes gewonnen wird.
Als allgemeines Prinzip der Interpretation von Tempusformen kann festgehalten
werden:
- Bei einfachen Zeiten wird festgestellt, ob zur Betrachtzeit ein Ereignis der Art gegeben ist, das der tempuslose Satzrestes skizziert.
- Bei zusammengesetzten Zeiten wird auf der Basis der im Satzrest verbliebenen Tempusform eine neue Betrachtzeit eingeführt, anhand derer dann der Satzrest interpretiert wird.