Formenbestand des deutschen Tempussystems

Tempus ist wie Verbmodus, Genus verbi, Numerus und Person ein Gesichtspunkt der Einteilung, eine Kategorisierung im verbalen Paradigma.

Verbformen in bestimmtem Tempus zeigen an, dass und wie Sätze in Hinblick auf ihre zeitliche Einordnung zu interpretieren sind. Dabei wirken die Verbformen zusammen mit Ausdrücken anderer Ausdrucksklassen, insbesondere mit temporalen Adverbialia und Nominalgruppen.

infinitfinitinfinit/finit
Präsensstamm Infinitiv I
(zu) gehen






Präsensstamm Partizip I
gehend
ich gehe
du gehst
sie geht
wir gehen
ihr geht
sie gehen




werden (Präsensstamm + Person/Numerus) + Infinitiv I
ich werde gehen
du wirst gehen
sie wird gehen
wir werden gehen
ihr werdet gehen
sie werden gehen

Infinitiv II (=Infinitiv I des Hilfsverbs + Partizip II)
gegangen (zu) sein
Präteritalstammich ging
du gingst
sie ging
wir gingen
ihr gingt
sie gingen
Präteritalstamm Partizip II
gegangen
haben/sein (Präsensstamm + Person/Numerus) + Partizip II
ich habe gelacht
ich bin gegangen

haben/sein (Präteritalstamm + Person/Numerus) + Partizip II
ich hatte gelacht
ich war gegangen

werden (Präsensstamm + Person/Numerus) + Infinitiv II
ich werde gelacht haben
ich werde gegangen sein

1. Superkomponierte Formen

In die obige Übersicht nicht aufgenommen wurden die sogenannten "superkomponierten Formen" (auch "doppelte Perfektformen"; vgl. Ammann 2005) aus finitem Hilfsverb + Partizip II des Hilfsverbs + Partizip II des Vollverbs

Gestern habe ich geschlafen gehabt.
Ich hab's zwar das alles schon vorher gehört gehabt, dass sowas möglich ist, aber ich hab's nicht, äh, für realistisch gehalten, dass das sich verwirklichen könnte.
(Manfred Rommel, 2. 9. 1998 im Gespräch mit Martin Born in SWR 4)

Solche Formen sind regional als Ersatzformen des Präteritumperfekts gebräuchlich, wo Formen des Präsensperfekts in der dem Präteritum entsprechenden Funktion auftreten. Dies ist nach Hauser/Hoppe 1972 der Fall in oberdeutschen, aber auch in ost- und westmitteldeutschen Mundarten. In der geschriebenen Hochsprache kommt die sogenannte Doppelumschreibung sehr selten vor (vgl. z.B. das Referenzkorpus DeReKo).

Präsens Indikativ von haben + Partizip II + gehabt

Die Kleine hat den Nerz in einer Pelzhandlung gestohlen gehabt.
(Abendpost 11.11.1965, o.S.)

Konjunktiv I von haben + Partizip II + gehabt

Nach seiner Rückkehr ließ Zeffirelli den Burgtheaterdirektor wissen, er habe seinen Agenten lediglich beauftragt gehabt, Bedenken wegen des Zeitpunktes anzumelden (...).
(Welt, 21.10.1966, 9)

Konjunktiv II von haben + Partizip II + gehabt

Der Landesvorsitzende der SPD (...) bedauerte, daß das Gespräch mit der katholischen Kirche erst in Gang gekommen sei, nachdem sich die Fraktionen festgelegt gehabt hätten. (Nachrichten aus Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg 6.3.1967, ARD, Hörzitat)

Präteritum Indikativ von haben + Partizip II + gehabt

Buster hatte einmal schon die Flugkarten nach Nizza bestellt gehabt, aber dann war ihm etwas dazwischengekommen.
(Kuby, Das Mädchen Rosemarie, 87)

Präteritum Indikativ von haben + Partizip II + gehabt

Damals hatte sie sich ganz verloren gehabt, bis Hanne Winterkampf kam.
(Staufen, Solange dein Herz schlägt, 54)

2. würde-Formen

Ebenfalls nicht aufgenommen wurde die würde-Form, die gelegentlich als Indikativ Futurpräteritum eingeschätzt wird. Sie wird im Rahmen des Verbmodus Konjunktiv erörtert.

Einfache und zusammengesetzte Formen

Unter dem Einfluss der lateinischen Grammatik hat man die Unterscheidung zwischen einfachen, also synthetisch gebildeten und zusammengesetzten, also analytisch gebildeten Formen oft vernachlässigt und ist damit zu einem der lateinischen Grammatik angenäherten System von sechs Tempora gelangt.

Präsens
(Präsensstamm)
Präteritum
(Präteritalstamm)
Futur I
werden
(Präsensstamm + Infinitiv)
Perfekt
haben/ sein
(Präsensstamm + Partizip Perfekt)
Plusquamperfekt
haben/ sein
(Präteritalstamm + Partizip Perfekt)
Futur II
werden
(Präsensstamm + Infinitiv Perfekt)

Auf diese Weise verwischt man jedoch den wichtigen Unterschied zwischen einfachen und zusammengesetzten Formen, der bei der Analyse der Bedeutung der Tempusformen genutzt werden kann. Wir gehen aus von:

Der Infinitiv Perfekt wird analytisch gebildet aus dem Infinitiv des verbspezifischen Hilfsverbs (haben oder sein) und dem Partizip Perfekt des Verbs. Präsensperfekt, Präteritumperfekt und Futurperfekt werden als Resultat der Kombination einer Hilfsverbform mit dem Partizip Perfekt behandelt.

Das ergibt ein in einem wichtigen Punkt modifiziertes System mit ebenfalls sechs Tempora:

Einfache FormenZusammengesetzte Formen
Präsens
Präteritum
Futur
Präsensperfekt
Präteritumperfekt
Furturperfekt
Entscheidend für die Einordnung einer Verbform im Tempussystem ist, dass bei der Interpretation der Sätze eine Abhängigkeit von der Dimension Zeit gegeben ist.

Bei den einfachen Tempora Präsens und Präteritum und bei den zusammengesetzten Tempora Präsensperfekt und Präteritumperfekt macht allein der Zeitbezug die Bedeutung aus. Bei Futur und Futurperfekt kommen modale Bedeutungsbezüge hinzu.

So ergibt sich ein Tempussystem, dessen Kern die vier "reinen" Tempora Präsens, Präsensperfekt, Präteritum, Präteritumperfekt und dessen Peripherie Futur und Futurperfekt bilden. Im Unterschied zum traditionellen System werden hier die zusammengesetzten Tempora schon in der Terminologie als solche ausgewiesen. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass z. B. in der Periphrase ich habe geschlafen ein Hilfsverb im Präsens und ein Partizip Perfekt auftreten, also zwei Ausdrücke, die zur temporalen Bedeutung beitragen.

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Autor(en)
Bruno Strecker
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