Bestimmung des Perfekthilfsverbs
Folgende Kriterien für die Bestimmung des Perfekthilfsverbs können angegeben werden:
Verben, mit denen Tätigkeiten, Vorgänge oder Zusammenhänge zu bezeichnen sind und die eine Angabe davon betroffener Gegenstände in Form eines Kakk erfordern, bilden Perfektformen - Präsensperfekt wie Präteritumperfekt - mit dem Hilfsverb haben.
Betroffen sein können Gegenstände dabei auf verschiedenste Weisen:
- als Adressaten:
- als Produkte, die erst im Zug entsprechender Handlungen oder Vorgänge entstehen:
- als etwas, dessen räumliche oder zeitliche Befindlichkeit verändert wird:
Sie haben die Urkunde zurückdatiert.
- als etwas, dessen physische Verfassung verändert wird:
- als etwas, dessen Zugehörigkeit zu jemand oder etwas verändert wird:
Sie hatten die Latten vom Zaun abgebrochen.
Er hat alle Spuren seiner Tat beseitigt.
Dies gilt auch für Verben, bei denen betroffene Gegenstände ungenannt bleiben können.
Ich habe früher geraucht.
Verben, mit denen das Bestehen eines Zustands, die Ausführung eines Vorgangs oder einer Tätigkeit zu bezeichnen sind, ohne dass dabei auf eine Veränderung gegenüber einem Vor- oder Folgezustand, eine Anfangs- oder Endphase abgehoben wird, bilden Perfektformen mit dem Hilfsverb haben, sofern es sich dabei nicht um Verben des Kriteriums 3 handelt.
Entscheidend ist hier, dass mit der Wahl solcher Verben eine bestimmte Sichtweise verbunden ist. Was beschrieben wird, wird nicht als Glied einer Kette von Ereignissen oder Folgezuständen gesehen, sondern gewissermaßen aus einer Innensicht, die das Beschriebene nicht in eine Umgebung einordnet.
Da lach ich nur. - Da hatte ich nur gelacht.
Ganz Paris träumt von der Liebe. - Ganz Paris hat von der Liebe geträumt.
Der Anzug passt mir wie angegossen - Der Anzug hatte mir wie angegossen gepasst.
Wir denken an unsere Brüder und Schwestern. - Wir haben an unsere Brüder und Schwestern gedacht.
Anmerkung:
Die hier bestimmte Klasse von Verben zeichnet sich
auch dadurch aus, dass ihr Partizip II nicht
attributiv verwendet werden kann. Dabei handelt es sich keineswegs um eine formale
Koinzidenz, sondern um die Folge einer generellen Regel für die attributive Verwendung
des Partizips II: Attribuiert werden kann nur, was den Gegenstand, auf den Bezug
genommen wird, affiziert oder effiziert, nie, was von dem Gegenstand bewerkstelligt oder
ausgelöst wird.
Verben, mit denen Vorgänge oder Tätigkeiten zu bezeichnen sind, die eine räumliche und zeitliche Veränderung der Position des Gegenstands bewirken, der in Form des Subjekts anzugeben wäre, bilden Perfektformen mit dem Hilfsverb sein.
Sie sind mit der S-Bahn zur Schwabstraße gefahren
Der Apfel war nicht weit vom Stamm zur Erde gefallen.
Bougainville ist um die ganze Welt gereist.
Anmerkung:
Da Verben wie gehen, fahren, reisen,
laufen ihre Perfektformen mit dem Hilfsverb sein bilden,
könnte man vermuten, dass dies auch für begehen, befahren, bereisen,
entlaufen gilt. Das ist jedoch nicht der Fall. Dem Präfix entspricht hier
eine Änderung der Perspektive, durch die nicht mehr der Aspekt der erreichten
Ortsveränderung gesehen wird, sondern die Art der Tätigkeit. Deutlich wird dieser
Unterschied, wenn man die Argumentstruktur entsprechender Propositionen betrachtet.
* Er begeht in das Haus.
Die Kommission begeht das Institut.
* Die Kommission geht das Institut.
Die Präfixverben haben eine andere Valenz. Als Kakk sind Argumente zu formulieren, mit denen auf Gegenstände Bezug genommen wird, die von der Tätigkeit affiziert werden, ganz im Sinn von Kriterium 1.
Verben, mit denen allgemein Zustandsveränderungen zu bezeichnen sind und die eine Angabe davon betroffener Gegenstände in Form des Subjekts erfordern, bilden Perfektformen mit dem Hilfsverb sein.
Die Zustandsveränderungen können dabei verschiedenster Art sein.
- Änderung des Aggregatzustands:
- Änderung der Integralität:
- Änderung des Entwicklungsstands:
Die Blüten sind bereits aufgegangen.
- Änderung der hygienischen, fiskalischen, moralischen, psychischen oder physischen Verfassung:
Die ehemals wohlhabende Familie ist inzwischen verarmt.
Die Sitten sind total verroht in diesem Land!
Jetzt bist du wohl endgültig verblödet!
Nach Mitternacht sind wir dann ziemlich abgeschlafft.
Manche sogenannte Verben der Fortbewegung wie wandern, laufen, fliegen, springen können Perfektformen auch mit haben bilden, wenn sie in Verbindung mit einer Angabe gebraucht werden, die als Kakk aufgefasst werden kann.
Nirgends sind selbst kompetente Sprachteilhaber unsicherer in der Wahl des Perfekthilfsverbs als bei diesen Verben. Die Unsicherheit schlägt sich nieder in regionalen Varianten und schwankendem Sprachgebrauch selbst bei ein und derselben Person. Verschiedene Annahmen bieten sich an, die einige der zu beobachtenden Erscheinungen erklären können:
Man kann sich mit Verben wie springen, laufen, schwimmen darauf beziehen, dass jemand seine Position im Raum auf bestimmte Weise verändert hat, aber auch darauf, dass er sich in der angegebenen Art betätigt, wobei dann nicht die Tatsache im Vordergrund steht, dass er sich fortbewegt, sondern der Umstand, dass er Bewegungen bestimmter Art ausführt.
(Süddeutsche Zeitung 21.08.1997, 39)
Bibbernde Fußballfachleute verlangten an dieser Stelle überwiegend die Einwechslung Norbert Meiers, der sich seit der 20. Minute schon ganz wunderbar warm gelaufen haben mußte.
(die tageszeitung 10.11.1988, 20)
So gesehen rücken die Verben in die Nähe von Verben wie schlafen, lachen, weinen, also von Kriterium 2.
Aussagen über Gegenstände, die sich fortbewegen, schließen im Allgemeinen keine Angaben über etwas ein, das davon betroffen wäre. In speziellen Kontexten ist dies aber sehr wohl möglich und dann auch - schließlich liegt ein Kakk vor - unter Selektion von haben als Hilfsverb.
Er hat das Rennen nicht zuende gefahren.
Allerdings wird in solchen Fällen dann doch nicht konsequent haben als Hilfsverb gewählt. Zum einen wird in solchen Fällen durchweg auch sein als Hilfsverb gewählt und akzeptiert, zum andern wirkt der Gebrauch von haben bei einem Fortbewegungsverbs wie gehen auch dort abweichend, wo man ihn erwarten würde.
Zurückzuführen ist dies vermutlich darauf, dass akkusativische Nominalphrasen in solchen Kontexten teils als Adverbiale, teils als Kakk interpretiert werden können und die Sprecher - ohne weiter darüber nachzudenken - zu der Auffassung tendieren, hier liege eher eine Bestimmung der Art und Weise des Gehens vor als die Angabe eines vom Gehen affizierten Gegenstandes.
Bei bestimmten Verben finden sich neben transitiven auch intransitive Formen, deren Bedeutungen in systematischem Zusammenhang miteinander stehen: Was beim transitiven Verb als Kakk zu formulieren ist, wird beim intransitiven Verb zum Subjekt. Entsprechend erfolgt die Perfektbildung beim transitiven Verb nach Kriterium 1, beim intransitiven nach Kriterium 3.
die tageszeitung 21.10.1992, 8
Die ersten Truppen unter dem Kommando von General Dostam sind aus der Hauptstadt Kabul abgezogen.
Wer hat denn den Käse zum Zollamt gerollt?
(die tageszeitung 7.3.1992, 33)
Der Käse ist zum Zollamt gerollt.
Neben diesen eindeutig semantischen Faktoren lassen sich für zwei Klassen von Verben auch formale Kriterien für die Wahl des Perfekthilfsverbs bestimmen.
Die Kopulaverben sein, werden, bleiben bilden - zum Teil entgegen ihrer semantischen Charakterisitik - ihre Perfektformen durchweg mit sein.
(Berliner Zeitung 8.10.1997, 4)
Trotz dieser enttäuschenden Zahlen bekräftigen die Gutachter die Hoffnung auf eine Fortdauer des Wirtschaftsaufschwungs sogar über 1987 hinaus. "Anstelle des Exports ist der private Verbrauch, neben den Investitionen, zur Stütze der Konjunktur geworden".
(die tageszeitung 25.11.1986, 2)
Geblieben ist nur die Metapher, ein poetisches Bild für schicksalsbestimmte Hoffnungslosigkeit, wie in Hugo von Hofmannsthals berühmten Versen aus dem Jahr 1896. »
(Die Zeit 1.7.2010, o.S.)
Modalverben bilden ihre Perfektformen mit haben, gleichgültig mit welchem Verb sie verbunden werden.
(Arnim 1807: Dies Buch gehört dem König, 71. In: www.zeno.org)
Wer sich in diesem Jahr einfangen lassen hat müssen, wird nach einer humorvollen Laudatio enthüllt.
(St. Galler Tagblatt 5.10.2010, 45)
man hätt es nicht sollen,
und man hat es dennoch gewollt ...
Und es war so schön,
wie's nie gewesen,
hätt man es dürfen,
hätt man's gesollt.
(Flaischlen 1921: Gesammelte Dichtungen, 42. In: www.zeno.org)