Formrelationen
Zwischen Verb und abhängigen Phrasen gibt es besondere Formrelationen, die als Anzeichen für die Einstufung einer Phrase als Komplement gelten und somit zur Unterscheidung in Komplement und Supplement herangezogen werden.
- Fixiertheit
- Rektion
- Konstanz
- Kasustransfer
Fixiertheit
Eine Phrase ist in Bezug auf ein Verb fixiert, wenn sie in einem Satz mit diesem Verb nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen weglassbar ist. Solche Bedingungen sind z.B. Vorerwähntheit im Text, situative Eindeutigkeit, Kontrastierung (auch Kontrastfokussierung, Kontrastbetonung genannt), Modalisierung, genereller Charakter der Satzaussage, habitueller Charakter der Satzaussage und lexikalisierte Ellipse.
Weglassbarkeit bei Vorerwähnung im Text, auch Analepse genannt
Weglassbarkeit bei situativer Eindeutigkeit, auch situative Ellipse genannt
Weglassbarkeit bei Kontrastierung des Valenzträgers mit einem anderen Verb, zum Beispiel Weglassbarkeit einer Orts- oder Artadverbiale
Weglassbarkeit bei Modalisierung des Valenzträgers
Die Akkusativphrase von schmecken in der Bedeutung 'etwas mit dem Geschmackssinn empfinden' kann nicht weggelassen werden, es sei denn schmecken wird mit dem Modalverb können verwendet: Meine Erkältung ist abgeklungen. Ich kann wieder schmecken.
Weglassbarkeit bei generellem Charakter der Satzaussage
Weggelassen sind hier die Akkusativphrasen von geben und nehmen und die Dativ- (jemandem) bzw. Präpositionalphrase (an jemanden/von jemandem), weil es bei einer solchen generellen Aussage keine Rolle spielt, an wen etwas gegeben, von wem etwas genommen, oder was gegeben/genommen wird.
Weglassbarkeit bei habituellem Charakter der Aussage
Weggelassen wurde die Präpositionalphrase (um jemanden /etwas), denn es wird ausgesagt, dass diese Person sich unabhängig von spezifischen Gründen Sorgen macht.
Weglassbarkeit bei lexikalisierter Ellipse
(1') Die Suppe schmeckt —.
(2) Das Buch kostet viel / wenig/ 20 Euro.
(2') Das Buch kostet —.
Wenn das Adverbiale weggelassen wird, bedeutet der Satz (1’) immer 'die Suppe schmeckt gut' und der Satz (2’) bedeutet immer 'das Buch kostet viel'.
(die tageszeitung 3.2.1999, 22)
Phrasen, die nur unter einer oder mehreren der oben genannten Bedingungen in einem Satz weggelassen werden dürfen, werden als mehr oder weniger fixiert eingestuft.
Einige Phrasen können unter keinen der oben genannten Bedingungen weggelassen werden, ohne dass der Satz ungrammatisch wird. Beispiele einer solchen absoluten Fixiertheit sind die Akkusativphrase beim Verb besuchen oder die Präpositionalphrase mit der Präposition auf beim Verb sich verlassen.
* Er besucht — oft.
Hast du deine Mutter schon besucht?
* Ja, ich habe –– besucht.
* Ich kann –– besuchen.
* Er bleibt nicht, er besucht –– nur.
Ich verlasse mich auf ihn.
Hast du dich auf ihn verlassen?
* Ja, ich habe mich –– verlassen.
* Du kannst dich — verlassen.
Der Gegenpol zu den absolut fixierten Phrasen bilden die Phrasen, die ohne besondere Bedingungen weggelassen werden können, ohne das dadurch ein Satz ungrammatisch wird.
Franz denkt — nach.
Ich esse gerade ein Marmeladenbrot.
Ich esse gerade ––.
Ein Test, mit dem die mehr oder weniger Fixiertheit von Phrasen ermittelt werden kann, ist der Reduktionstest.
Absolut fixierte Phrasen werden als Komplemente eingestuft. Ob Phrasen, die anderen Graden der Fixiertheit zeigen, oder gar als nicht fixiert gelten, als Komplemente eingestuft werden, hängt von anderen Kriterien wie der Sachverhaltsbeteiligung, der Sachverhaltskonstituierung oder der Rektion ab.
Traditionell wurde in der Valenztheorie eher von einer Dichotomie obligatorisch versus fakultativ ausgegangen. Festgemacht wurde dies am einfachen, kontextlosen, nicht modalisierten und nicht speziell betonten Aussagesatz. Die Wörterbücher beschreiben sozusagen die Situation in Ruhelage. Der Test, der die Grundlage für die Entscheidung obligatorisch oder fakultativ in den Valenzwörterbüchern bildet, ist auch hier der Reduktionstest. Obligatorische Phrasen werden als Komplemente eingestuft. Auch in den Wörterbüchern wird die Entscheidung, ob fakultative Phrasen als fakultatives Komplement oder als Supplement eingestuft werden, von weiteren Kriterien abhängig gemacht.
Rektion im engeren Sinne
Von Rektion im weiteren Sinne spricht man, wenn die Form einer Phrase durch den Valenzträger bestimmt wird. Von Rektion im engeren Sinne spricht man, wenn der reine Kasus einer Phrase betroffen ist.
Wenn der Kasus einer Phrase durch den Valenzträger bestimmt wird, wird sie von ihm regiert. Das ist der Fall bei Phrasen, deren Funktion im Satz durch reinen Kasus angezeigt wird. Wird der Kasus geändert, wird der Satz ungrammatisch. Diese Relation wird Rektion im engeren Sinnen genannt.
* Ich esse einem Apfel.
Ich helfe dir.
* Ich helfe dich.
Ich unterstütze dich.
* Ich unterstütze dir.
Phrasen, die vom valenztragenden Verb in der Weise regiert werden, werden als Komplemente eingestuft.
Konstanz
Wenn ein bestimmtes Verb in einer bestimmten Bedeutung immer dieselbe Präposition mit demselben Kasus verlangt, dann spricht man in diesem Zusammenhang von Konstanz. Eine Änderung der Präposition oder eine Änderung des Kasus würden zu einem ungrammatischen Satz führen.
* Ich erkannte den Mann an seinen Gang.
* Ich erkannte den Mann aus seinem Gang.
Der Idealfall ist gegeben, wenn ein Verb immer nur mit der einen Präpositionalphrase verwendet wird wie beim Verb abstammen:
(Berliner Zeitung 23.1.2003, o.S.)
Man vermutet, dass das Wort "meze" vom persischen "maza" abstammt, dem Wort für Kostprobe oder Wohlgeschmack.
(Berliner Zeitung 5.4.2003, o.S.)
Konstanz zeigt sich auch, wenn durch den Austausch der Präposition keine ungrammatischen Sätze erzeugt werden, aber das Verb in einer anderen Bedeutung verwendet wird.
(Mannheimer Morgen 25.6.2001, o.S.)
Die einzelnen Gruppen bestehen höchstens aus sechs Kindern, zusammengefasst nach Alter und Kenntnissen.
(die tageszeitung 3.2.2001, 30)
Die Veranstalter müssen sich schon etwas einfallen lassen, um gegen die übergroße Konkurrenz bestehen zu können.
(Berliner Zeitung 25.11.2002, o.S.)
Die Möglichkeiten der Vorsorge gegen der Maul- und Klauenseuche bestehen einzig und allein in extremen Hygienemaßnahmen.
(die tageszeitung 1.3.2001, 3)
Abgeschwächt gilt die Relation der Konstanz, wenn es zur Darstellung eines Arguments eine Auswahl zwischen einer beschränkter Anzahl bedeutungsverwandter Präpositionen gibt, deren Austausch keinen Einfluss auf die Bedeutung des Verbs hat, aber dennoch die Gesamtbedeutung des Satzes verändert.
(Mannheimer Morgen 19.1.2001, o.S.)
Autofahrer können sich in den kommenden Wochen auf weiter fallende Preise an den Zapfsäulen der Tankstellen freuen.
(Mannheimer Morgen 19.11.2001, o.S.)
Greenpeace kann sich wieder über steigende Einnahmen freuen.
(die tageszeitung 17.8.2001, 8)
Eine Konstanzrelation ist nicht gegeben, wenn es in Verbindung mit einem Verb eine ganze Reihe von Präpositionen mit einer selbständigen Bedeutung gibt.
Ob eine Phrase, die keine Konstanzrelation aufzuweisen hat, als Komplement oder Supplement eingestuft wird, hängt von weiteren Kriterien wie Fixiertheit oder Sachverhaltskonstituierung ab.
Kasustransfer
Von Kasustransfer spricht man, wenn bei einer Präposition, die sowohl den Dativ als auch den Akkusativ regiert, der Kasus durch das Verb bestimmt wird. Das ist der Fall bei wohnen. Dieses Verb, das unter anderem mit den Präpositionen an / in / auf mit dem Dativ und Akkusativ verwendet wird, lässt nur Präpositionalphrasen im Dativ zu.
Im Unterschied dazu kann werfen nur mit den Präpositionen an / auf / in / über im Akkusativ verbunden werden.
Das Verb wohnen wird nur verwendet mit Präpositionen, die den Dativ regieren, außer in den Ausdrücken über die Straße im Sinne von 'auf der anderen Seite der Straße' und um die Ecke. Vielleicht sind diese Ausdrücke als Verkürzung von 'bei jemandem/ irgendwo, wenn man von dort über die Straße/ um die Ecke geht' zu erklären.
Direkt über die Straße wohnt sein
"allerbester Freund" Sascha.
(Mannheimer Morgen, 4.10.2002, o.S.)
Jetzt hat er von einer Stammkundin, die um die
Ecke wohnt, einen Wohnungsschlüssel und darf dort das Bad benutzen.
(die tageszeitung, 21.12.2002, 19)
Brück vermittelte Weil einen Rechtsanwalt, der mal eben bei ihm "über die Straße wohnt".
(die tageszeitung 24.10.1988, 5)
Bei ihm um die Ecke wohnt die
88-jährige Frau Schlachter.
(die tageszeitung 21.9.2002, 32)