Funktionen des Verbalkomplexes

Dem Verbalkomplex kommen zwei verschiedene Aufgaben zu:

  1. Er realisiert das Prädikat und ist damit wesentlicher Ausdrucksteil der Proposition.
  2. Er trägt dazu bei, die Proposition zeitlich (durch das Tempus), modal (durch Modalverben und den Modus) und in Handlungsbezüge (durch das Genus Verbi), im Polnischen auch durch den Aspekt und durch das Genus einzuordnen.

Diese beiden Aufgaben werden durch verschiedene Teile des Verbalkomplexes wahrgenommen.


Verbalkomplex aus nur einer Verbform

Besteht der Verbalkomplex aus nur einer Verbform, so setzt er sich mindestens aus zwei Morphemen zusammen. Jede der zwei erwähnten Aufgaben wird von einem der beiden Morpheme übernommen. Dies ist im Deutschen etwa bei schwachen Verben im Präsens und Präteritum (Indikativ) (z. B. lachen in Der Junge lacht/lachte) und im Polnischen im Präsens, Präteritum (z.B. śpiewać in Ty śpiewasz/śpiewałaś) der Fall. Hier wird Aufgabe 1 vom lexikalischen Morphem (lach-), (śpiewa-), Aufgabe 2 vom Flexionsmorphem (-t/-te), (-sz, -łaś) erfüllt. Auch im polnischen perfektiven Futur bildet den Verbalkomplex nur eine aus zwei Morphemen bestehende Verbform (z. B. zaśpiewać in Ty zaśpiewasz). Die Morpheme bilden jeweils in sich abgeschlossene Einheiten, die einander nicht überlappen. In vielen anderen Fällen ist aber eine derartige lineare Trennung beider Aufgaben nicht möglich, weil das lexikalische Morphem von der Flexion überlagert wird. Man vergleiche etwa die starken Verben, bei denen flexionsbedingte Veränderungen des Wortstamms auftreten (z. B. schlafen in Der Junge schläft/schlief). Im Polnischen kommt es bei der Bildung synthetischer Verbformen zu morphologisch und phonologisch determinierten Vokal- und Konsonantenalternationen (z. B. pleść w Ja plo, On pló; piec in Ja pie-k, Ty pie-cz-esz).

Beim Verbalkomplex aus nur einer Verbform wird oft von einer 'einfachen Verbform' gesprochen (Verbformen mit einem abtrennbaren Präverb wie in Der Junge schläft ein. sind hier eingeschlossen).

Verbalkomplex aus mehreren Verbformen

Besteht der Verbalkomplex aus mehreren Verbformen, werden die beiden oben genannten Aufgaben lexikalisch getrennt wahrgenommen:

Das finite Hilfs- oder Modalverb leistet keinen Beitrag zur propositionalen Bedeutung, dient somit nicht der Erfüllung von Aufgabe 1. Sie übernehmen dafür Aufgabe 2 und zwar in allen ihren Teilbereichen.
Sie sind beteiligt an:

  1. der Herstellung des Zeitbezuges:
    (z.B. Perfekt im Deutschen)
    Hans ist gekommen.
    Der Junge hat geschlafen.
    (z.B. imperfektives Futur im Polnischen)
    Chłopiec będzie spał/spać.
  2. der modalen Charakterisierung der Proposition:
    Hans mag kommen.
    Der Junge muss schlafen.
    Chłopiec musi spać.
  3. der Passivbildung:
    Das Buch wird von Hans bearbeitet.
    Książka jest opracowywana przez Hansa.

Aufgabe 1 wird in einem Verbalkomplex, der aus mehreren Verbformen besteht, durch das infinite Vollverb wahrgenommen, das als Ausdruck für das Prädikat im engeren Sinne dient. Im Polnischen kann Aufgabe 1 im imperfektiven Futur auch vom vergangenen (alten) Partizip des Vollverbs alternativ realisiert werden. An den Endungen des vergangenen Partizips lassen sich drei Genera im Singular (-ł, -ła, -ło) und zwei im Plural (-łi, -ły) erkennen.
Weitere infinite Bestandteile des Verbalkomplexes sind - wenn überhaupt vorhanden - wiederum an der Erfüllung der einzelnen Teilbereiche von Aufgabe 2 beteiligt, das heißt, sie leisten einen Beitrag zur zeitlichen (a) und modalen (b) Einordnung der Proposition bzw. signalisieren eine Passivkonstruktion (c):

  1. Aufgabe 2a
  2. Aufgabe 2b
  3. Aufgabe 2c


Die auf die einzelnen Teilbereiche von Aufgabe 2 spezialisierten Verben können miteinander kombiniert werden:

Kombination der Teilbereiche der Aufgabe 2

Die folgende Tabelle fasst die bisherigen Überlegungen zu den Aufgaben des Verbalkomplexes und seiner Bestandteile zusammen:

Teile des Verbalkomplexes
Aufgabenim Verbalkomplex aus
nur einer Verbform
im Verbalkomplex aus
mehreren Verbformen
Realisation des Prädikats,
Organisation der
Proposition
lexikalisches Morphem,
z. B.: geh-
śpiewa-
infinites Vollverb, z. B.:
geschrieben
schreiben
grać, alternativ vergangenes Partizip des Vollverbs (grali) ,
veränderliches Partizip Passiv (opraco(wy)wana)
Einordnung in Zeit-
und Handlungsbezüge,
Informationsstrukturierung
Flexionsmorphem/
Flexion,
z. B.: -t
-sz
finites Verb, z. B.:
hat
muss (musi)
wird (będzie)

infinite Verben
mit Ausnahme
des Vollverbs, z. B.:
müssen
haben
werden
vergangenes Partizip des Modalverbs (musieli).



Funktionale Einordnung des Verbalkomplexes

Unter Verbalkomplex ist das - in der linearen Abfolge möglicherweise diskontinuierliche - Vorkommen von einer finiten und gegebenenfalls einer oder mehrerer infiniter Verbformen innerhalb eines Satzes zu verstehen. Im Satz werden Komplemente an den Verbalkomplex angebunden. Ohne Anbindung von Komplementen ist die Stelligkeit des Verbalkomplex n. Durch Anbindung von n Komplementen an den Verbalkomplex entsteht ein Vollsatz.

Die an den Verbalkomplex angebundenen Komplemente sind quantitativ und qualitativ von der Valenz des Vollverbs abhängig. Der durch die Komplemente "gesättigte" Verbalkomplex bildet den Satz, der wiederum durch unterschiedliche Supplemente erweitert werden kann.

Für das 3-wertige Verb geben gilt z. B.:

Es gibt zwei Kategorien von Verben, die in Verbindung mit einer infiniten Verbform eines anderen Verbs einen Verbalkomplex bilden können: Hilfsverben und Modalverben.
Finite Hilfsverben und Modalverben können einen (vollständigen) Verbalkomplex herstellen:


Infinitoperator 1

Im Deutschen können infinite Hilfsverben und Modalverben zusammen mit einer anderen infiniten Verbform einen infiniten Verbalkomplex bilden, der wiederum Teil eines größeren Verbalkomplexes ist.


Infinitoperator 2


Infinitoperator 3

Unter den Eigenschaften, die Hilfsverben und Modalverben von den Vollverben unterscheiden, gibt es einige, die sowohl den Hilfsverben als auch den Modalverben zukommen. Zu diesen Gemeinsamkeiten gehören z. B. das Fehlen eines eigenen Valenzrahmens.

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