Funktionen des Verbalkomplexes
Dem Verbalkomplex kommen zwei verschiedene Aufgaben zu:
- Er realisiert das Prädikat und ist damit wesentlicher Ausdrucksteil der Proposition.
- Er trägt dazu bei, die Proposition zeitlich (durch das Tempus), modal (durch Modalverben und den Modus) und in Handlungsbezüge (durch das Genus Verbi), im Polnischen auch durch den Aspekt und durch das Genus einzuordnen.
Diese beiden Aufgaben werden durch verschiedene Teile des Verbalkomplexes wahrgenommen.
Verbalkomplex aus nur einer Verbform
Besteht der Verbalkomplex aus nur einer Verbform, so setzt er sich mindestens aus zwei Morphemen zusammen. Jede der zwei erwähnten Aufgaben wird von einem der beiden Morpheme übernommen. Dies ist im Deutschen etwa bei schwachen Verben im Präsens und Präteritum (Indikativ) (z. B. lachen in Der Junge lacht/lachte) und im Polnischen im Präsens, Präteritum (z.B. śpiewać in Ty śpiewasz/śpiewałaś) der Fall. Hier wird Aufgabe 1 vom lexikalischen Morphem (lach-), (śpiewa-), Aufgabe 2 vom Flexionsmorphem (-t/-te), (-sz, -łaś) erfüllt. Auch im polnischen perfektiven Futur bildet den Verbalkomplex nur eine aus zwei Morphemen bestehende Verbform (z. B. zaśpiewać in Ty zaśpiewasz). Die Morpheme bilden jeweils in sich abgeschlossene Einheiten, die einander nicht überlappen. In vielen anderen Fällen ist aber eine derartige lineare Trennung beider Aufgaben nicht möglich, weil das lexikalische Morphem von der Flexion überlagert wird. Man vergleiche etwa die starken Verben, bei denen flexionsbedingte Veränderungen des Wortstamms auftreten (z. B. schlafen in Der Junge schläft/schlief). Im Polnischen kommt es bei der Bildung synthetischer Verbformen zu morphologisch und phonologisch determinierten Vokal- und Konsonantenalternationen (z. B. pleść w Ja plotę, On plótł; piec in Ja pie-k-ę, Ty pie-cz-esz).
Beim Verbalkomplex aus nur einer Verbform wird oft von einer 'einfachen Verbform' gesprochen (Verbformen mit einem abtrennbaren Präverb wie in Der Junge schläft ein. sind hier eingeschlossen).
Verbalkomplex aus mehreren Verbformen
Besteht der Verbalkomplex aus mehreren Verbformen, werden die beiden oben genannten Aufgaben lexikalisch getrennt wahrgenommen:
Das finite Hilfs- oder Modalverb leistet keinen Beitrag zur propositionalen
Bedeutung, dient somit nicht der Erfüllung von Aufgabe 1. Sie übernehmen dafür Aufgabe 2 und zwar
in allen ihren Teilbereichen.
Sie sind beteiligt an:
- der Herstellung des Zeitbezuges:
(z.B. Perfekt im Deutschen)
Hans ist gekommen.
Der Junge hat geschlafen.
(z.B. imperfektives Futur im Polnischen)
Chłopiec będzie spał/spać. - der modalen Charakterisierung der
Proposition:
Hans mag kommen.
Der Junge muss schlafen.
Chłopiec musi spać. - der Passivbildung:
Das Buch wird von Hans bearbeitet.
Książka jest opracowywana przez Hansa.
Aufgabe 1 wird in einem Verbalkomplex, der aus mehreren Verbformen besteht, durch das
infinite Vollverb wahrgenommen, das als Ausdruck für das Prädikat im engeren Sinne
dient. Im Polnischen kann Aufgabe 1 im imperfektiven Futur auch vom vergangenen (alten) Partizip
des Vollverbs alternativ realisiert werden. An den Endungen des vergangenen Partizips lassen sich
drei Genera im Singular (-ł, -ła, -ło) und zwei im Plural
(-łi, -ły) erkennen.
Weitere infinite Bestandteile des
Verbalkomplexes sind - wenn überhaupt vorhanden - wiederum an der Erfüllung der einzelnen
Teilbereiche von Aufgabe 2 beteiligt, das heißt, sie leisten einen Beitrag zur zeitlichen (a) und
modalen (b) Einordnung der Proposition bzw. signalisieren eine Passivkonstruktion (c):
Die auf die einzelnen Teilbereiche von Aufgabe 2 spezialisierten Verben können miteinander kombiniert werden:
Die folgende Tabelle fasst die bisherigen Überlegungen zu den Aufgaben des Verbalkomplexes und seiner Bestandteile zusammen:
Teile des | Verbalkomplexes | |
Aufgaben | im Verbalkomplex aus nur einer Verbform | im Verbalkomplex aus mehreren Verbformen |
Realisation des Prädikats, Organisation der Proposition | lexikalisches Morphem, z. B.: geh- śpiewa- | infinites Vollverb, z.
B.: geschrieben schreiben grać, alternativ vergangenes Partizip des Vollverbs (grali) , veränderliches Partizip Passiv (opraco(wy)wana) |
Einordnung in Zeit- und Handlungsbezüge, Informationsstrukturierung | Flexionsmorphem/ Flexion, z. B.: -t -sz | finites Verb, z.
B.: hat muss (musi) wird (będzie) infinite Verben mit Ausnahme des Vollverbs, z. B.: müssen haben werden vergangenes Partizip des Modalverbs (musieli). |
Funktionale Einordnung des Verbalkomplexes
Die an den Verbalkomplex angebundenen Komplemente sind quantitativ und qualitativ von der Valenz des Vollverbs abhängig. Der durch die Komplemente "gesättigte" Verbalkomplex bildet den Satz, der wiederum durch unterschiedliche Supplemente erweitert werden kann.
Für das 3-wertige Verb geben gilt z. B.:
Es gibt zwei Kategorien von Verben, die in Verbindung mit einer infiniten
Verbform eines anderen Verbs einen Verbalkomplex bilden können:
Hilfsverben und
Modalverben.
Finite
Hilfsverben und Modalverben können einen (vollständigen) Verbalkomplex herstellen:
Im Deutschen können infinite Hilfsverben und Modalverben zusammen mit einer anderen infiniten Verbform einen infiniten Verbalkomplex bilden, der wiederum Teil eines größeren Verbalkomplexes ist.
Unter den Eigenschaften, die Hilfsverben und Modalverben von den Vollverben unterscheiden, gibt es einige, die sowohl den Hilfsverben als auch den Modalverben zukommen. Zu diesen Gemeinsamkeiten gehören z. B. das Fehlen eines eigenen Valenzrahmens.