Die Bedeutung der Tempora

Die einzelnen Kategorien der Kategorisierung Tempus (frz. temps grammatical) werden zwar morphologisch am Verb bzw. am Verbalkomplex kenntlich gemacht, das jeweilige Tempus bezieht sich jedoch auf den ganzen ausgedruckten Sachverhalt. D. h. mit dem Wechsel des Tempus bei sonst gleicher Ausdrucksseite eines Satzes verandert sich die Bedeutung des Satzes. Die Tempora tragen in der sprachlichen Kommunikation also nicht unerheblich zur Konstituierung der Satzbedeutung bei.
Mit der Verwendung von Tempora konnen Sprecher Sachverhalte auf einer imaginaren Zeitschiene anordnen, die von der Vergangenheit (frz. passe) uber die Gegenwart (frz. present) in die Zukunft (frz. futur) reicht. Alle Satze des Deutschen, die eine finite Verbform enthalten, mussen in einem der sechs Tempora realisiert werden. Tempuslose Satze gibt es im Deutschen nicht. Allerdings werden kommunikative Minimaleinheiten mit infiniten Verbformen wie z. B. weiterfahren, nicht anhalten! (bei einem Verkehrsunfall) oder solche ohne eine Verbform wie z. B. Borsencrash in Frankfurt! (als Schlagzeile in der Tagespresse) nicht zeit- aber tempuslos gebraucht.

Anmerkung: An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass das Deutsche, wie das Englische, in der glucklichen Lage ist, fur die grammatische Kategorisierung der Zeit gegenuber der physikalischen Zeitvorstellung einen eigenen Begriff zu besitzen, namlich "Tempus" gegenuber "Zeit", englisch "tense" gegenuber "time", wahrend es im Franzosischen fur beide Zeitkonzepte nur den einen Begriff "temps" gibt. Da dies leicht zu Missverstandnissen fahrt, werden im Franzosischen zur Unterscheidung gern Adjektive hinzugesetzt, z. B. "temps grammatical" gegenuber "temps reel".

Neben den Tempora gibt es im Deutschen weitere Moglichkeiten, Zeitbezuge herzustellen. Besonders die Temporaladverbialia sind in der Lage, Sachverhalte zeitlich einzuordnen. Diese Moglichkeit zeigt sich besonders in Verbindung mit dem "neutralsten" Tempus, dem Prasens. Trotz der Praensformen wird auf Grund der Adverbialia z. B. in Satz (1) auf die Vergangenheit und in Satz (2) auf die Zukunft Bezug genommen:

(1) Am 10. April 1967, gegen zehn Uhr abends, verspurt Fellini "einen bestialischen Schmerz in Rucken und Brust". Bevor er das Bewusstsein verliert, denkt er noch daran, einen Warnzettel fur seine Frau zu schreiben: "Giulietta, komm nicht allein herein!" [Die Zeit, 03.11.1995]
(2) Verschie?en Sie Ihr gutes berufliches Pulver nicht zu fruh, denn erst ab morgen kommen die Karrieresterne so richtig in Fahrt. [Rhein-Zeitung, 08.06.2009]

Neben den Adverbialia konnen beispielsweise auch Namen von historischen Personlichkeiten (3) oder historische Ereignisse (4) trotz des Prasens einen eindeutigen Vergangenheitsbezug herstellen, so wie es auch umgekehrt moglich ist, dass bestimmte Namen oder Lexeme in Satzen mit Vergangenheitstempora einen Gegenwartsbezug herstellen (4a):

(3) Der letzte Prominente, der sich offentlich zum Boule bekannte, stammt noch aus der Vor-Fernseh-Ara: Konrad Adenauer ist nicht nur der Vater der Westbindung, der CDU und des Rosenzuchtens, sondern auch der uberschaubaren deutschen Boulebewegung. [die tageszeitung, 03.06.2005]
(4) Der Drei?igjahrige Krieg vernichtet ganze Ortschaften. [Rhein-Zeitung, 10.01.2007]
(4a) Phanomene wie die Erderwarmung hat es schon vor Jahrhunderten gegeben, nur konnte sich die Wissenschaft nicht systematisch damit befassen.

Andererseits konnen Adverbialia im Konflikt mit Tempora stehen, was zu Satzen fuhrt, die inkoharent wirken konnen (5):

(5) *Letztes Jahr wird es in der Schweiz mit 19 600 1,4 Prozent weniger Scheidungen und mit 41 500 drei Prozent mehr Heiraten geben. [nach: Die Sudostschweiz, 03.07.2009]

In (5) liegt allerdings nur scheinbar eine Inkoharenz, in Wirklichkeit jedoch ein verkurzt dargestellter Perspektivenwechsel vor, im Sinne von: "Wenn die Ergebnisse der Untersuchung vorliegen, dann wird sich herausstellen, dass es letztes Jahr ... weniger Scheidungen und ... mehr Heiraten gab."

Dynamische Zeitinterpretation

Die Bedeutung der Tempora bzw. die Auswirkung der Tempora auf die Bedeutung der Satze wird deutlich durch das Zusammenspiel verschiedener Zeitintervalle, die bei der Bedeutungszuweisung seitens des Sprechers bzw. des Horers berucksichtigt werden mussen. Wir unterscheiden dabei im Zusammenhang einer kommunikativen Au?erung die Sprechzeit, die Ereigniszeit, die Betrachtzeit und die Orientierungszeit. Die Betrachtung der Korrelation zwischen diesen Zeitintervallen erlaubt eine dynamische Analyse der Tempora, die zum Teil auf logischen Uberlegungen aufbaut. Diese logisch dynamischen Interpretationen der Tempora gehen in wesentlichen Teilen auf den Physiker und Philosophen Hans Reichenbach zuruck, werden allerdings hier anders benannt und freier behandelt.

Weitere Aspekte, die bei der dynamischen Tempusinterpretation der zusammengesetzten Zeiten berucksichtigt werden mussen, sind das Obertempus, der tempuslose Satzrest und der Infinitiv Perfekt.

Zunachst aber sollen die Zeitintervalle naher betrachtet werden.

Zeitintervalle (Sprech-, Ereignis-, Betracht-, Orientierungszeit)

Terminologische Vorbemerkung: Der in Tempusanalysen haufig benutzte Begriff "Zeitpunkt" tragt der Tatsache Rechnung, dass fur die Festlegung abstrakter Tempusbedeutungen (wie z. B. auch bei Reichenbach) Zeitintervalle zu Punkten abstrahiert werden. Dies ist jedoch fur die folgende Darstellung unerheblich.

Sprechzeit (frz. temps de l'enonciation)

Die Sprechzeit ist der Zeitabschnitt oder Zeitpunkt, in bzw. zu welchem die sprachliche Au?erung gemacht wird, sie ist die tatsachliche Zeit des Sprechens oder des Niederschreibens. Die Sprechzeit ist fur die Rezipienten in der Regel uber den sprachlichen Kotext und den au?ersprachlichen Kontext erkennbar.

Ereigniszeit (frz. temps de l'evenement)

Die Ereigniszeit ist die Zeit, in welcher der beschriebene Sachverhalt, das dargestellte Ereignis, tatsachlich stattfand, stattfindet oder stattfinden wird.

Die Ereigniszeit kann zwar durch Temporaladverbialia spezifiziert werden:

(6) Puktlich um 20 Uhr hob sich am Samstag bei der Premiere der Vorhang.

Dennoch ist trotz spezifizierender Temporaladverbialia wie in (7) die Ereigniszeit nicht immer genau feststellbar:

(7) Die Regisseurin sprach gestern bei der Premiere.

Das Adverb gestern grenzt zwar die Ereigniszeit in der Vergangenheit auf den Tag vor der Sprechzeit ein, bleibt aber immer noch vage, da der genaue Zeitpunkt des Sprechens im Tagesablauf nicht festgelegt wird. Die Ungenauigkeit ist somit Bestandteil der Bedeutung des Adverbs, nicht jedoch Faktor der Tempussemantik.

Da die Ereigniszeit durch sprachliche Mittel fast nie vollig prazise beschrieben werden kann, bei negierten Satzen sogar keine Ereigniszeit vorhanden ist bzw. der Ereignis-Begriff ein Nicht-Geschehen einschlie?t (denn ein Zeitadverb kann ja trotzdem vorhanden sein und sich dann auf das Nicht-Geschehen beziehen),

(8) Die Regisseurin sprach gestern nicht bei der Premiere.

bedienen wir uns bei der Bedeutungszuordnung von Tempora eines weiteren Zeitintervalls, der Betrachtzeit.

Betrachtzeit (frz. temps de l'observation)

Die Betrachtzeit ist der Zeitabschnitt, den die Tempusform des Verbs und eventuell vorhandene Temporaladverbialia fur die Interpretation eines Satzes vorgeben. Generell uberlappen sich Ereigniszeit und Betrachtzeit, sind aber genaugenommen niemals identisch, auch wenn die Ereigniszeit durch Temporaladverbialia eingegrenzt werden kann. Besonders dann, wenn in Satzen keine Temporaladverbialia, sondern nur Tempusformen zur Zeiteinordnung verwendet werden, kann eine Ereigniszeit nur relativ durch die Betrachtzeit festgelegt werden. In Satz

(9) Die Regisseurin fuhr zur Premiere.

wird nicht festgelegt, wann das beschriebene Ereignis genau stattfand, nur dass es in einer Betrachtzeit stattfand, die eindeutig vor der Sprechzeit lag. Die Betrachtzeit ist der Zeitraum, auf den der Blick des Sprechers gerichtet ist.

Orientierungszeit (frz. temps de reference)

Die Orientierungszeit ist eine Hilfskonstruktion der dynamischen Zeitinterpretation, sie ist keine Zeit, die linear ablauft wie die Sprechzeit oder die Ereigniszeit. Sie ist der Ausgangspunkt der Zeitanalyse.
Im einfachsten Fall fallt die Orientierungszeit, von der ausgehend wir den ausgedruckten Sachverhalt auf der linearen Zeitschiene verorten, mit der Sprechzeit zusammen wie z. B. in: Sie fuhr gestern Abend zur Feier. Bei zeitlich komplexeren Handlungsablaufen dient die Orientierungszeit auch der Neuperspektivierung, um den komplexen linearen Handlungsablaufen oder zusammengesetzten Tempora Bedeutung zuzumessen, vgl.: Sie kam erst um zehn zur Feier. Davor stand sie zwei Stunden im Stau.

Korrelationen zwischen den Zeitintervallen

Die Tempora geben grundsatzlich an, wie die Relation zwischen der Sprechzeit bzw. der Orientierungszeit und der Betrachtzeit zu sehen ist.

(10) Sie kam erst um zehn Uhr zur Feier. Davor stand sie zwei Stunden im Stau.

Zunachst fallt im ersten Satz eine erste Orientierungszeit mit der Sprechzeit zusammen. Ausgangspunkt ist der Sprechzeitpunkt, der Blick ist gerichtet auf die Betrachtzeit, die durch das Temporaladverbiale (erst) um zehn Uhr naher bestimmt ist. Danach tritt ein Perspektivenwechsel ein. Die Betrachtzeit (erst um zehn Uhr) wird zur zweiten Orientierungszeit fur die Analyse des zweiten Satzes. Damit ist nicht mehr die Sprechzeit Ausgangspunkt der Bedeutungszuweisung, sondern die Betrachtzeit wird zur neuen Orientierungszeit, von welcher aus der Blick auf eine neue Betrachtzeit fallt, die zwei Stunden vor zehn Uhr liegt. Fur diese Analyse spielt es allerdings keine Rolle, ob der Zweitsatz in (10) im Praeritumperfekt ("Plusquamperfekt") steht: Davor hatte sie zwei Stunden im Stau gestanden. Dieses Tempus wurde das Zeitverhaltnis zwischen den beiden Ereignissen, namlich dass das zweite als vorzeitig zum ersten identifiziert wird, noch besser unterstreichen.

Hier wird nun deutlich, dass Tempusformen dynamisch interpretiert und als Bestandteile einer komplexen "temporalen Satzbedeutung" gesehen werden mussen. Die eingefuhrten Betrachtzeiten werden als Orientierungszeiten an die Folgesatze weitergereicht, sodass komplexe Zeitablaufe interpretierbar sind.
Die Korrelation zwischen den verschiedenen Zeitintervallen ist sowohl fur die Beschreibung der Bedeutung der einfachen Tempora als auch der Bedeutung der zusammengesetzten Tempora relevant.

Die Bedeutung der einfachen Tempora

Die Bedeutung der einfachen Tempora ergibt sich aus der Relation zwischen Sprechzeit und Betrachtzeit. Die Betrachtzeit des Prasens kann sowohl vor der Sprechzeit liegen (11), mit der Sprechzeit zusammenfallen (12) oder nach der Sprechzeit liegen (13).

(11) Am 9. November 1918 ruft Philipp Scheidemann die deutsche Republik aus.
(12) Gerade spricht der Bundesprasident im Fernsehen zur Lage der Nation.
(13) Nachstes Jahr kommt die gro?e Steuerreform.

Beim Prateritum dagegen liegt die Betrachtzeit immer vor der Sprechzeit und beim Futur liegt die Betrachtzeit nach der Sprechzeit oder uberlappt diese.

Die Bedeutung der zusammengesetzten Tempora

Die Berucksichtigung der Korrelationen zwischen den verschiedenen oben beschriebenen Zeitintervallen kommt besonders bei der Interpretation der zusammengesetzten Zeiten Prasensperfekt, Prateritumperfekt und Futurperfekt zur Geltung.

Rein morphologisch, genauer: morphosyntaktisch betrachtet, bestehen die zusammengesetzten Tempora Prasensperfekt, Prateritumperfekt und Futurperfekt aus einer finiten Form der Hilfsverben haben oder sein im Prasens oder im Prateritum und einem Partizip Perfekt, bzw. ? zum Ausdruck des Futurs ? aus einer finiten Form des Hilfsverbs werden und dem Infinitiv Perfekt. Die Tempusform des Hilfsverbs bei den zusammengesetzten Zeiten nennt man jeweils Obertempus. Demnach ist das Obertempus von Prasensperfekt das Prasens, das Obertempus von Praeritumperfekt ist das Prateritum und das Obertempus von Futurperfekt ist das Futur.

Bei der Interpretation der erwahnten zusammengesetzten Tempora gerat zunachst die Betrachtzeit des jeweiligen Obertempus in den Blick. Sie wird genauso in Relation zur Sprechzeit gesetzt (d. h. sie fallt mit ihr zusammen) wie bei den einfachen Tempusformen Prasens, Prateritum und Futur. Die Betrachtzeit des Obertempus entspricht also sozusagen dem semantischen Anteil des jeweiligen Obertempus an der zusammengesetzten Tempusform, wie er in der Wahl und der Form des Hilfsverbs zum Ausdruck kommt, also:

  • (Der Entwurf) hat (breite Zustimmung) gefunden: die Prasenssemantik,
  • (Der Entwurf) hatte (breite Zustimmung) gefunden: die Prateritumsemantik,
  • (Der Enwurf) wird (breite Zustimmung) gefunden haben: die Futursemantik.
    [Beachten wir dabei, dass die Futurform finden werd- als einfache, nicht als zusammengesetzte Form gilt.]

Die Betrachtzeit des Obertempus wird dann zu einer Orientierungszeit, von der aus die nunmehr tempusneutralisierte zweite Betrachtzeit in den Blick genommen wird, namlich die, welche dem "Rest" der Verbform entspricht (also: gefunden hab(en)).Diese zweite Betrachtzeit ist deshalb "tempusneutralisiert", weil die entsprechende Rest-Verbform, also das, was nach Abzug der Obertempus-Semantik ubrigbleibt, nur noch ein Abhangigkeitsverhaltnis, namlich Vorzeitigkeit, nicht aber eine neue, eigenstandige zeitlich-temporale Situierung impliziert. Der von der tempusneutralisierten Betrachtzeit betroffene Anteil am Satz wird tempusloser Satzrest genannt. Die Relation zwischen der Orientierungszeit und dem tempuslosen Satzrest (also das Vorzeitigkeits-Verhaltnis) kommt, wie bereits angedeutet, durch die infinite Konstruktion aus dem Infinitiv des Hilfsverbs und dem Partizip Perfekt zum Ausdruck, also im vorliegenden Fall durch gefunden hab(en). Der tempuslose Satzrest entspricht der Proposition (d. h. der nicht verzeiteten Vorform) einer Au?erung, also in diesem Fall der Proposition:

der Entwurf breite Zustimmung gefunden hab(en)

Somit kann man auch bei Satzen, die in einfachen Tempora verzeitet sind, von einem tempuslosen Satzrest sprechen, wobei dann die Proposition die Form des einfachen Infinitivs enthalt: der Entwurf breite Zustimmung find(en). Dies ist jedoch fur die hier in Rede stehende Analyse unerheblich.

Bei der Konstruktion der zusammengesetzten Tempora liegt grundsazlich der tempuslose Satzrest als Betrachtzeit vor der Orientierungszeit:

Exemplarisch soll die Tempusinterpretation der zusammengesetzten Zeiten am Prateritumperfekt dargestellt werden:

Die Bedeutungszuschreibung erfolgt in zwei Schritten. Zunachst wird relativ zur Sprechzeit die Betrachtzeit des Obertempus Prateritum in den Blick genommen. Die Betrachtzeit liegt beim Prateritum immer vor der Sprechzeit. Wie bei allen zusammengesetzten Zeiten wird die Betrachtzeit des Obertempus zur neuen Orientierungszeit, die wiederum Ausgangspunkt fur eine zweite Betrachtzeit ist. Diese zweite Betrachtzeit des tempuslosen Satzrestes liegt bei allen zusammengesetzten Tempora vor der neuen Orientierungszeit. Zur Verdeutlichung der Tempusinterpretation der zusammengesetzten Zeiten sei abschlie?end folgendes Beispiel genauer kommentiert:

Wir hatten die Fahrkarten im Internet gekauft.

Orientierungszeit = Sprechzeit: Prasens (Sprechergegenwart)

- Blick zuruck von der Sprechergegenwart in die Vergangenheit,
auf das Prateritum, dessen Semantik enthalten ist in der Form (wir) hatten...
Die Betrachtzeit des Prateritums ist also vorzeitig zur Sprechzeit Prasens.
Das Prateritum ist Obertempus des Prateritumperfekts (wir) hatten gekauft, und wird damit:
= neue Orientierungszeit: Ausgangspunkt fur die zweite Betrachtzeit.

- wieder Blick zuruck, vom Obertempus Prateritum in die Vorzeitigkeit,
auf das Prateritumperfekt (dieses liegt also vor der neuen Orientierungszeit),
und wird zur zweiten Betrachtzeit,
ausgedruckt im tempuslosen Satzrest, der den Infinitiv Perfekt enthalt:
[Wir die Fahrkarten im Internet] gekauft haben.

Die dynamische Analyse lasst sich auch in einem Schema darstellen:

Bei der Untersuchung des Verhaltens der Tempora in festen Redewendungen (Kollokationen, Phrasemen, Idiomen, Sprichwortern usw.) fallt zunachst auf, dass die Fixierung (Verfestigung) der morphosyntaktischen Konstruktion verschieden weit gehen kann. Es kann ein Verb inbegriffen sein oder nicht (unter der Hand [verkaufen], das Weite [suchen]), bestimmte Komplemente konnen realisiert sein oder nicht (Gebt den Armen!), ein Teil der Wendung, insbesondere das Verb, kann in Grenzen variabel ("halbfest") sein (jemanden vor den Kadi zerren / schleifen / zitieren).

Ist das Verb in die Fixierung einbezogen, kann auch das Tempus ganz oder teilweise von der Fixierung betroffen sein. Drei Falle sind zu unterscheiden:

1. Die Verbform ist fest und damit auch Tempus, Modus und Diathese, oder es steht der Imperativ oder Infinitiv. Dies ist oft der Fall bei Spruchen, Sentenzen und Sprichwortern, bei denen in der Regel ein vollstandiger Satz fixiert ist ("feste Satze") und, sofern dieser im Prasens steht, meist allgemeine Wahrheiten formuliert werden ("zeitloses Prasens"):
Deutsch z. B.:

Traume sind Schaume. Wir werden das Kind schon schaukeln. Sei's drum. Wenn das Wortchen "wenn" nicht war, ... Das hie?e, Apfel mit Birnen vergleichen. Lasst Blumen sprechen.

Franzosisch z. B.:

Tout vient a point a qui sait attendre. L'habit ne fait pas le moine. Avec des "si" on mettrait Paris en bouteille. Advienne que pourra. Vouloir, c'est pouvoir. Allez les Verts!

2. Die Wahl des Tempus ist frei, alle Tempora sind prinzipiell moglich, selbst wenn manche Formen, etwa aus stilistischen oder sprachhistorischen Grunden, ungebrauchlich sind. Oft ist dann die Wahl des Modus oder der Diathese frei. Diese Situation ist typisch fur Verbalphraseolexeme (oder "Verbalphraseme"). Man uberprufe daraufhin folgende Beispiele:
Deutsch z. B.:

jemanden an der Nase herumfuhren, jemanden auf den Arm nehmen, den Teufel an die Wand malen, auf Gewinn/Verlust setzen

Franzosisch z. B.:

mener quelqu'un par le bout du nez, chercher midi a quatorze heures, creuser sa propre tombe, se payer la tete de quelqu'un

3. Nur einer oder einige der verbalen Parameter sind fest, die Temporalform ist dagegen nur teilweise fixiert. Oft ist Aktiv oder Passiv apriorisch festgelegt, seltener der Modus; dieser ist meist durch den Kontext oder die metasprachlichen Bedingungen (Sprecherintentionen) bedingt. Interessant ist dagegen die partielle Fixierung des Tempus. An ihr lasst sich ablesen, aus welchen Komponenten die Semantik der Temporalform besteht.
Wie bereits Hauser-Suida/Hoppe-Beugel (1972, 63ff.) in Die Vergangenheitstempora in der deutschen geschriebenen Sprache der Gegenwart gezeigt haben, kann man einen signifikanten Gegensatz zwischen zwei Gruppen unterscheiden:

3.1 Der seltenere Fall: Wendungen, die fur das Verb nur einfache Verbformen zulassen, also Prasens, Prateritum, meist auch Futur, im Franzosischen die entsprechenden Formen von present, imparfait, eventuell futur. Dazu gehoren (die Wendungen sind zur besseren Veranschaulichung in Satze integriert):
Deutsch z. B.:

(a) Der Diamant spielt/spielte in allen Farben.
[Aber:] * Der Diamant hat/hatte in allen Farben gespielt.
(b) Das tut/tat nichts zur Sache.
[Aber:] * Das hat/hatte nichts zur Sache getan.
(c) Otto ist/war eine (totale) Flasche.
[Aber:] * Otto ist/war eine totale Flasche gewesen.

Franzosisch z. B.:

(d) Un style qui (ne) court/courait (pas) les rues.
[Aber:] * Un style qui n'a/n'avait pas couru les rues.
(e) Un petit resto qui ne paie/payait pas de mine.
[Aber:] * Un petit resto qui n'a/n'avait pas paye de mine.
(f) Cela tombe/tombait sous le sens.
[Aber:] * C'est/C'etait tombe sous le sens.

(Anmerkung: Die Beschrankung auf das Prateritum kann im Deutschen durch den suddeutschen Prateritumschwund durchbrochen werden.)

3.2 Der haufigere Fall: Wendungen, die fur das Verb nur zusammengesetzte Verbformen zulassen, also Prasensperfekt, Prateritumperfekt oder (wenn auch selten, da ohnehin kaum gebrauchlich) Futurperfekt, im Franzosischen die entsprechenden Formen des passe compose und plus-que-parfait:
Deutsch z. B.:

(a) Anna hat an ihrem Bruderchen einen Narren gefressen.
[Aber:] * Anna fra? an ihrem Bruderchen einen Narren.
(b) Er ist/war nicht auf den Kopf gefallen.
[Aber:] * Er fallt/fiel nicht auf den Kopf.
(c) Tom hat/hatte das gro?e Los gezogen.
[Aber:] * Tom zieht/zog das gro?e Los.
(d) Wir sind/waren noch einmal davongekommen.
[Aber:] * Wir kommen/kamen noch einmal davon.

Franzosisch z. B.:

(e) Ce fauteuil a/avait fait son temps.
[Aber:] * Ce fauteil fait/faisait/fit son temps.
(f) Nous ne sommes/n'etions pas sortis de l'auberge.
[Aber:] * Nous ne sortons/sortions pas de l'auberge.
(g) Elle n'est/n'etait pas nee de la derniere pluie.
[Aber:] * Elle ne nait/naissait/naquit pas de la derniere pluie.

Setzt man die Tempora der jeweils gegenteiligen Gruppe in die Wendungen ein, zerbricht, wie man sieht, die idiomatische Einheit, der Satz wird von der "figurativen" auf die "wortliche" Bedeutung zuruckgestuft.
Der tiefere Grund fur die Zugehorigkeit zu jeweils einer der beiden Tempusgruppen ist, dass Tempora eine Perspektive enthalten, die im Deutschen gern als aspektueller Wert verstanden, im Franzosischen als "phase" bezeichnet wird. Dies ist bei den einfachen Zeiten eine Art Ablaufsperspektive (frz. "cursif"): Das Ereignis wird im Moment seines Ablaufs ohne Begrenzungen vorgestellt, dabei ist die tempusneutrale Grundform der einfache Infinitiv (in 3.1.a: in allen Farben spielen). In den Satzen unter 3.1 wird das Geschehen als Zustand oder Vorgang ohne Anfangs- oder Endbegrenzung vorgefuhrt.
Bei den zusammengesetzten ("perfektivischen") Zeiten dagegen liegt eine Abgeschlossenheitsperspektive (frz. "accompli") vor: Das Ereignis wird im Moment der Betrachtung als abgeschlossen, also einschlie?lich seiner Endbegrenzung gezeigt, die tempusneutrale Grundform ist der Infinitiv Perfekt (in 3.2.c: das gro?e Los gezogen haben). In den Beispielen unter 3.2 haben die Satze einen resultativen Habitus, der durch Uberschneidung mit passivischer Bedeutung, wie in 3.2.g, noch intensiviert werden kann.
Analoge franzosische Beispiele fur (frz.) accompli sind nicht leicht zu finden, da die perfektivischen Tempora einen anderen Stellenwert haben als im Deutschen. Insbesondere das passe compose ist nicht in erster Linie durch eine Abhangigkeitsrelation auf das Obertempus present bezogen, sondern meist ein eigenstandiger Vergangenheitsmarker.

Bei bestimmten Kollokationen, Funktionsverbgefugen usw. kann man eine Tendenz zur endgultigen Fixierung beobachten. Dabei konnen auch Parameter des Verbs mit fixiert werden. Das Phanomen ist in beiden Vergleichssprachen zu beobachten.
So gibt es auf die Frage, welche Regeln die Verwendung des werden-Futurs gegenuber dem futurischen Prasens steuern, eine Antwort von dieser Seite. In manchen Wendungen wie das wird sich zeigen oder das wirst du schon sehen ist das werden-Futur quasi obligatorisch, besonders wenn der Satz keine Temporaladverbiale enthalt. Das Prasens wurde hier seine Gegenwartsbedeutung oder seinen Allgemeinbezug behalten: Das zeigt sich bei naherem Hinsehen ...
In manchen Wendungen mit den verschiedenen Varianten des es (Pronomen, teilweise austauschbar mit das, Expletiv oder Korrelat) ist bei Tendenz zur Fixierung ebenfalls die Verfestigung des Tempus zu beobachten. Die Eroffnungsformel von Marchen, Es war einmal ..., gibt es nur im Prateritum, dem Tempus der Narration (im Franzosischen im imparfait: Il etait une fois...). In anderen Fallen weisen perfektivische Formen auf resultative Perspektive:

es/das hat/hatte sich erledigt; es hat/hatte sich herausgestellt, dass...; es ist angerichtet.

Im Franzosischen findet man in solchen Fallen eher ein nominales Subjekt:

Le probleme s'est regle tout seul. [auch im Zustandspassiv:] Madame est servie!

Aber auch das Prasens kommt zu seinem Recht und erlaubt als Indikator der Ablaufsperspektive oft eine Versetzung ins Prateritum, so z. B. in rhetorischen Formeln, aber auch in anderen Wendungen, die haufig einen allgemein-kommunikativen Impetus haben:

es wundert(e) nicht, dass ...; es ist/war eine Tatsache, dass ...; es fragt(e) sich, ob ...; es darf/durfte getanzt/gelacht werden; es ist an der Zeit (+ INF).
Wie geht es Ihnen? Wie geht's? Es geht so.
es ist/war verboten/untersagt/nicht erlaubt
(+ INF); es (das) reicht!

Franzosisch:

il est/etait un fait que ...; il est sur/n'est pas sur que ...; il est interdit de ...

Im Franzosischen steht statt des Pronomens il gern ce, cela oder (im Mundlichen) ca:

C'est vrai! Ca va? Ca allait? Ca suffit!

Ubung: Bestimmung der grammatischen Zeit

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