Der Formenbestand des deutschen Tempussystems

Unter Tempus ist, wie unter Modus, Genus verbi, Verbnumerus und Person, ein Gesichtspunkt der Einteilung – eine Kategorisierung – von Verbformen zu verstehen.
Verbformen in einem bestimmten Tempus zeigen an, dass und wie Sätze in Hinblick auf ihre zeitliche Einordnung zu interpretieren sind. Dabei wirken die Verbformen zusammen mit Ausdrücken anderer Ausdruckseinheiten, insbesondere mit solchen, die als Temporaladverbialia fungieren.

Unter dem Einfluss der lateinischen Grammatik hat man die morphologische Unterscheidung zwischen synthetisch (durch Flexionsaffixe) gebildeten finiten Formen und analytisch gebildeten Formen oft vernachlässigt und ist damit zu einem der lateinischen Grammatik angenäherten System von sechs Tempora gelangt, die traditionell als Präsens, Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und Futur II bezeichnet werden (vgl. Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, 5. Aufl.).

In ProGr@mm präsentieren wir ein davon abweichendes System, das ausgeht von

  • den infiniten Formen
    • Infinitiv (Präsens) (=Infinitiv I)
    • Infinitiv Perfekt (=Infinitiv II)
    • Partizip Perfekt (=Partizip II)
  • den zwei synthetisch gebildeten Tempusformreihen
  • dem analytisch gebildeten Futur (=Futur I)
  • den drei übrigen analytischen Formen, die als Resultat der Kombination einer Hilfsverbform mit dem Partizip Perfekt bzw. Infinitiv Perfekt behandelt werden:

Der Infinitiv Perfekt wird analytisch gebildet aus dem Infinitiv des verbspezifischen Hilfsverbs – haben oder sein – und dem Partizip Perfekt des entsprechenden Verbs (z. B. gespielt haben, gegangen sein).

Präsens
finites Vollverb
ich spiele
Präteritum
finites Vollverb
ich spielte
Futur
werden (finite Präsensform) + Infinitiv (Vollverb)
ich werde spielen
Präsensperfekt
haben/sein (finite Präsensform) + Partizip Perfekt (Vollverb)
ich habe gespielt
Präteritumperfekt
haben/sein (finite Präteritalform) + Partizip Perfekt (Vollverb)
ich hatte gespielt
Futurperfekt
werden (finite Präsensform) + Infinitiv Perfekt (Vollverb)
ich werde gespielt haben

Formenbestand des starken Verbs gehen

PersonVerbnum.PräsensPräteritumFutur
1.
2.
3.
Sg.
gehe
gehst
geht
ging
gingst
ging
werde gehen
wirst gehen
wird gehen
1.
2.
3.
Pl.
gehen
geht
gehen
gingen
gingt
gingen
werden gehen
werdet gehen
werden gehen
PräsensperfektPräteritumperfektFuturperfekt
bin gegangen
bist gegangen
ist gegangen
war gegangen
warst gegangen
war gegangen
werde gegangen sein
wirst gegangen sein
wird gegangen sein
sind gegangen
seid gegangen
sind gegangen
waren gegangen
wart gegangen
waren gegangen
werden gegangen sein
werdet gegangen sein
werden gegangen sein


Formenbestand des schwachen Verbs machen

PersonVerbnum.PräsensPräteritumFutur
1.
2.
3.
Sg.
mache
machst
macht
machte
machtest
machte
werde machen
wirst machen
wird machen
1.
2.
3.
Pl.
machen
macht
machen
machten
machtet
machten
werden machen
werdet machen
werden machen
PräsensperfektPräteritumperfektFuturperfekt
habe gemacht
hast gemacht
hat gemacht
hatte gemacht
hattest gemacht
hatte gemacht
werde gemacht haben
wirst gemacht haben
wird gemacht haben
haben gemacht
habt gemacht
haben gemacht
hatten gemacht
hattet gemacht
hatten gemacht
werden gemacht haben
werdet gemacht haben
werden gemacht haben


Formenbestand des gemischten Verbs kennen

PersonVerbnum.PräsensPräteritumFutur
1.
2.
3.
Sg.
kenne
kennst
kennt
kannte
kanntest
kannte
werde kennen
wirst kennen
wird kennen
1.
2.
3.
Pl.
kennen
kennt
kennen
kannten
kanntet
kannten
werden kennen
werdet kennen
werden kennen
PräsensperfektPräteritumperfektFuturperfekt
habe gekannt
hast gekannt
hat gekannt
hatte gekannt
hattest gekannt
hatte gekannt
werde gekannt haben
wirst gekannt haben
wird gekannt haben
haben gekannt
habt gekannt
haben gekannt
hatten gekannt
hattet gekannt
hatten gekannt
werden gekannt haben
werdet gekannt haben
werden gekannt haben


In diese Übersicht nicht aufgenommen wurden die sogenannten "superkomponierten Formen" aus finitem Hilfsverb + Partizip Perfekt des Vollverbs + Partizip Perfekt des Hilfsverbs, die regional als Ersatzformen des Präteritumperfekts gebräuchlich sind, wo Formen des Präsensperfekts in der dem Präteritum entsprechenden Funktion auftreten, z. B.:

Altmünster hat vor vielen Jahren die Trasse für eine Umfahrungsstraße festgelegt gehabt. Damals hat sich die Bevölkerung vehement dagegen gewehrt. [Oberösterreichische Nachrichten, 27.01.1999]

"Superkomponierte Formen" sind – laut Hauser-Suida/Hoppe-Beugel – in den oberdeutschen Mundarten, aber auch in den ost- und westmitteldeutschen verbreitet. Sie sind auch regional unabhängig in der standardnahen Umgangssprache anzutreffen. In der geschriebenen Hochsprache kommt die sogenannte Doppelumschreibung selten vor.

Ich hab's zwar das alles schon vorher gehört gehabt, dass sowas möglich ist, aber ich hab's nicht, äh, für realistisch gehalten, dass das sich verwirklichen könnte. [Manfred Rommel, 2.9.1998 im Gespräch mit Martin Born in SWR 4: Unternehmungen]

Weitere Beispiele für "superkomponierte Formen" mit dem finiten Hilfsverb im Indikativ Präsens (1) und Präteritum (2, 3), Konjunktiv I (4), Konjunktiv II (5, 6):

(1) "Ich hab schon halb geschlafen gehabt, als am Dienstagabend um halb zwölf der Anruf mit der Auslosung kam." [Berliner Zeitung, 22.05.2003]

(2) "Das war ein ganz schwaches Spiel von beiden Mannschaften. Diese Partie hatte keinen Sieger verdient gehabt, das Remis ist gerecht." [Mannheimer Morgen, 29.08.2005]

(3) Die französischen Experten waren bereits in den vergangenen drei Monaten von der Baustelle abgezogen gewesen. [Die Presse, 17.06.1995]

(4) Er habe damals reichlich Alkohol getrunken gehabt, und seine Aktion habe sich natürlich gegen die Terroristen um Bin Laden gewandt. [St. Galler Tagblatt, 09.11.2001]

(5) Wäre die Partie beim SV Traisen nach genau 90 Minuten abgepfiffen worden, hätte Stromberg verloren gehabt und wäre nun Dritter. [Rhein-Zeitung, 11.04.2005]

(6) Paul Friberg: Meines Erachtens hätte Kuhn in beiden Spielen andere Leute bringen müssen. [...] Spätestens gegen die Türken wäre der Zeitpunkt gekommen gewesen, Barnetta zu ersetzen. [Die Südostschweiz, 14.06.2008]

Ein ausführlicherer Überblick zur Bildung der synthetischen Tempusformen wird in den Einheiten zur Verbflexion, insbesondere Flexion nach Tempus und Modus und Flexionsklassen der Verben, präsentiert.

Obwohl das Deutsche und das Französische verschiedenen Sprachfamilien angehören, sind sie doch Teil des großen indoeuropäischen Stammbaums. Außerdem sind es Mischsprachen, die im ständigen europäischen Austausch Elemente aus Nachbar- und Drittsprachen integriert haben.
Im Bereich Personalflexion sind Ähnlichkeiten augenfällig. Im Bereich Tempora liegen sie versteckter. Das französische Tempussystem ist multipolar, stärker verzweigt als das deutsche, das von alters her nur zwei echte Tempora kennt: Präsens und Präteritum. Denn alle anderen deutschen Tempora sind nur Ableitungen, Hilfskonstruktionen, die allerdings auch eine wichtige Differenzierung einführen: die Abgeschlossenheits-Perspektive.

Zwei Phänomene haben sich mit erstaunlicher Stabilität in beiden Sprachen aus dem Indogermanischen erhalten:

  1. das Präsens als "unmarkiertes" Tempus, und zwar im doppelten Sinne von "durch keinen Marker (oder Nullmarker) bezeichnet" und "für zeitneutrale Aussagen zuständig";
  2. der Themavokal -e- als Deaktualisierungsmarker: Er ist beim deutschen Konjunktiv ebenso zu finden (du gehest, er gehe) wie beim französischen subjonctif (que tu partes, qu'il finisse), selbst wenn er dort durch Aussprachegewohnheiten oder Synkretismen neutralisiert ist und deutlichere Mittel wie Stammveränderung ihn in der Funktionsmarkierung übertreffen (je fais - que je fasse; je peux - que je puisse; je sais - que je sache).
    Die Variante -i- findet sich als Distanzmarker bei (frz.) imparfait und (frz.) conditionnel: nous chant-i-ons; vous saur-i-ez. Für das Deutsche wird angenommen, dass dieser e/i-Laut als Beimischung auch für die Umlautung vom Präteritum- zum Konjunktiv-II-Stamm verantwortlich ist: ich fand – ich fände; ich bot – ich böte; ich trug – ich trüge.

Eine Eigenheit des Französischen ist die Klitisierung von komprimierten Formen des Strukturverbs avoir zum Ausdruck temporaler Sprünge. Am deutlichsten ist dies beim Futur; enklitisch erscheinen hier die Präsensformen von avoir am Infinitiv-Stamm (sofern es sich bei der vermeintlichen Infinitiv-Endung nicht bereits um einen Teil des komplexen Tempus-/Modus-/Personalmarkers handelt):

je port-er-ai, tu fin-ir-as, elle mett-r-a;

sie sind im Plural verkürzt auf Themavokal + Flexionsmorphem:

nous port-er-ons, vous fin-ir-ez, ils mett-r-ont.

Beim (frz.) passé simple ist nur der Singular der 1. Konjugation betroffen, die Klitisierung erfolgt am Stamm:

je port-ai, tu port-as, il port-a.

Hilfreicher für die Analyse ist es allerdings, die vokalische Veränderung, die als Themavokal übrigbleibt, wenn man das Personalmorphem abzieht, als die eigentliche Markierung des temporalen Sprunges anzusehen. Dann kann man die Marker des (frz.) imparfait und des (frz.) conditionnel analog interpretieren:

je port-ai-s, tu finiss-ai-s, elle mett-ai-t, nous mett-i-ons, vous finiss-i-ez, ils mett-aient

Parallel zum Futur liegt auch dem (frz.) conditionnel der Infinitiv-Stamm zugrunde:

je port-er-ais usw.

Natürlich kommt die Schwere des Vokals auch durch die Endbetonung zustande, was besonders im Vergleich zu den stammbetonten Präsensformen auffällt; jedoch ist dies nur ein sekundäres, nicht-strukturelles Kriterium, was sich wiederum daran zeigt, dass es auch endbetonte Präsensformen gibt:

je porte, elle met, ils finiss-ent vs. tu finis, nous port-ons, vous mett-ez.

Auch im Deutschen gibt es Klitisierung, die allerdings nur diachron erschlossen werden kann. So geht der silbische Präteritalmaker -te- der schwachen Verben auf das Althochdeutsche zurück, wo eine periphrastische Konstruktion mit dem nachgestellten Verb tuon (= tun) schließlich zur Klitisierung führte: sie salben tat wurde zu sie salbte. Die damit verbundene Vokalreduktion zu Schwa lässt sich analog zum Französischen durch das Betonungsverhältnis erklären: Auf eine schwere Stammsilbe folgt eine abgeschwächte Endsilbe.

Ein weiteres Merkmal sind die durch die Tendenz des Französischen zu Kontraktion, Verschleifung und Beschwerung ausgelösten Stammveränderungen, die manchmal sogar die Grenze zwischen Stamm und Endmorphem verwischen. Auch sie zeigen letztlich eine temporale und/oder modale Veränderung an, dies vor allem im (frz.) passé simple, (frz.) subjonctif, Futur und Partizip Perfekt:

boire (trinken) – je bus; faire (machen) – nous fûmes; mettre (stellen) – ils mirent; être (sein), je suis – que je sois; avoir (haben) – j'ai, nous avons, vous aurez; voir (sehen) – vu; taire (verschweigen) – tu; plaire (gefallen) / pleuvoir (regnen) – plu

Ganz von ferne mag man hierbei an den deutschen Ablaut erinnert werden, zumal dieser ja keine isolierte germanische Erscheinung ist: Der Ablaut (singen – sang, gesungen) ist eine vokalische Stufung, deren Funktion die Markierung von Tempus/Modus-Sprüngen ist.

Auch Stammwechsel sind in beiden Sprachen zu beobachten; sie berühren dort die Verben avoir und être / sein. Sie nähren sich im Deutschen aus dem germanischen Fundus (sei-, bin, ist, war, wes-), im Französischen aus lateinischer Tradition (avoir: a-, av-, eu-; être: es-, ét-, s+ voyelle, fu-), die ansonsten im Tempusbereich eher verblasst angesichts späterer Eigenentwicklung.

Einfache vs. zusammengesetzte Tempora

Neben der morphologischen Unterscheidung von synthetisch und analytisch gebildeten Tempusformen, kann noch ein weiterer Unterschied zur Beschreibung der Tempora herangezogen werden, nämlich der zwischen semantisch einfachen (Präsens, Präteritum, Futur) und zusammengesetzten Formen (Präsensperfekt, Präteritumperfekt, Futurperfekt), der bei der Analyse der Bedeutung der Tempora genutzt werden kann:

einfachzusammengesetzt
synthetischPräsens
Präteritum
analytischFuturPräsensperfekt
Präteritumperfekt
Futurperfekt

Die Bedeutung der zusammengesetzten Tempora lässt sich kompositional aus der Bedeutung des finiten Hilfsverbs und des infiniten Bestandteils der analytischen Tempusform gewinnen.

Beim Futur handelt es sich – im Gegensatz zum Präsens und zum Präteritum – um eine analytische Form. Dennoch ordnen wir es unter die einfachen Tempora, denn:

  • Die Bedeutung lässt sich nicht in einfacher Weise kompositional gewinnen aus der Bedeutung des Hilfsverbs werden im Präsens und der Bedeutung des Infinitivs. Allerdings steckt im Verb werden a priori eine prospektive Sicht.
  • Das Konjugationsparadigma ist im Vergleich zu den beiden anderen Tempushilfsverben haben und sein unvollständig. Die Hilfsverben haben und sein kommen bei den analytisch gebildeten Tempusformen Präsensperfekt und Präteritumperfekt einerseits im Präsens, andererseits auch im Präteritum vor. Für das Hilfverb werden gibt es keine entsprechende Form:

    Ich habe gesehenIch hatte gesehen
    Ich bin gekommenIch war gekommen
    versus
    Ich werde kommen*Ich wurde kommen.

  • Das analytische Futur verhält sich zum Futurperfekt in seiner Bedeutung wie die einfachen Tempora Präsens und Präteritum zu ihren zusammengesetzten Tempusformen Präsensperfekt und Präteritumperfekt.

Im Unterschied zum traditionellen System werden hier die zusammengesetzten Tempora schon in der Terminologie als solche ausgewiesen. Die Bildung des Kompositums Präsensperfekt ist z. B. dadurch motiviert, dass das Tempus Präsensperfekt aus einem Hilfsverb im Präsens und einem Partizip Perfekt gebildet wird. Die Summe der Bedeutung beider Konstituenten des Kompositums trägt zur Analyse der temporalen Bedeutung bei.

Das Deutsche und das Französische greifen für temporale Perspektiven, die nicht über synthetische Formen abgedeckt sind, auf analytische, mit Hilfsverben gebildete Formen zurück, aber nicht in gleichem Maße. Auch die Bedeutung solcher analytischer Formen ist zwischen beiden Sprachen nicht unbedingt analog.
Grundsätzlich hat das Französische mehr synthetische Formen als das Deutsche, denn sein Formenbestand geht auf die lateinische Vielfalt zurück. So gibt es im Gegensatz zum Deutschen, das dafür zum Hilfsverb werden greifen muss, ein synthetisches Futur:

elle chanteraje partiraiils se plaindronttu verras
sie wird singenich werde fortgehensie werden sich beklagendu wirst sehen

Allerdings hat auch das Französische eine analytische Futurform, nämlich das mit dem Stützverb aller (gehen) gebildete (frz.) futur proche (Nahzukunft, Nachgegenwart), dessen sehr idiomatische Nuancierung im Deutschen nur mit anderen Mitteln, z. B. Adverbien, oder schlicht durch das ("futurische") Präsens erreicht werden kann:

Tiens, on va lui demander le chemin. – Komm, wir fragen ihn nach dem Weg.
Je vais déjà préparer le petit déjeuner, et après on verra ... – Ich mach' uns jetzt erstmal Frühstück, und dann sehen wir weiter...

Beide als Hilfs- bzw. Stützverb gebrauchte Verben, werden und aller, sind sicher nicht zufällig zu ihrer Aufgabe gekommen: Beide bezeichnen eine Bewegung weg von einem nahen Punkt hin zu einem entfernten Punkt, was man gut als Blick in die Zukunft deuten kann.

Im Bereich Irrealis wird im Französischen zwischen conditionnel und subjonctif unterschieden. Sie existieren jeweils in mehreren Varianten, die rein formal dem Präsensbereich oder bestimmten Vergangenheitstempora zugeordnet sind. Ihr Einsatz ist durch präzise, auf den Lerner teilweise willkürlich wirkende Regeln gesteuert. So trägt der subjonctif seinen Namen durchaus zu Recht, da er – unter anderem – in Nebensätzen, also bei "Subjunktion", nach bestimmten Subjunktoren gesetzt wird, die eine Ungewissheit oder Nichtrealisiertheit implizieren, wie pour que, afin que (= damit), avant que (= davor). Diesem Gefüge hat das Deutsche nur die beiden Konjunktivparadigmen entgegenzusetzen, die als Ausdruck für Hypothetisches allerdings eher dem französischen conditionnel entsprechen aber dennoch auch anders verwendet werden, z. B. für indirekte Rede, die im Französischen im Indikativ steht, oder als Optativ:

sie sänge / würde singen – elle chanterait
er sagte, er sei um 8 Uhr abgefahren – il a dit qu'il était parti à 8 heures
Es lebe der König! – Vive le Roi!

Im Vergangenheitsbereich besitzt das Französische mehr Varianten als das Deutsche. Dies hängt mit der so genannten consecutio temporum zusammen, der "Zeitenfolge", die – nach dem Muster des Lateinischen – in Satzgefügen für Haupt- und Nebensätze bestimmte Tempuskombinationen vorschreibt. Im Bereich Vergangenheit kommt die aspektuelle Unterscheidung zwischen (frz.) imparfait und (frz.) passé simple hinzu, die grob der Opposition Zustand, Hintergrund vs. Punktualität, Fortschreitung entspricht und im Deutschen einheitlich durch das Präteritum abgedeckt ist:

Les enfants attendaient le père Noël, lorsque soudain la porte s'ouvrit et qu'un homme vêtu de noir entra dans la pièce.
Die Kinder warteten auf den Weihnachtsmann, als plötzlich die Tür aufging und ein schwarz gekleideter Mann das Zimmer betrat.

Die analytischen, mit haben/avoir oder sein/être konstruierten Tempusformen dienen in beiden Sprachen hauptsächlich dazu, als Sekundärtempora Vorzeitigkeit bzw. Abgeschlossenheit zu einem Obertempus zu markieren, wofür ja keine synthetischen Formen zur Verfügung stehen. Auch hier ist die Wahl der Hilfsverben semantisch aufschlussreich: Beide, haben und sein, bezeichnen einen erreichten Zustand, der sich gut als Zustand am Ende eines abgeschlossenen Vorgangs oder Handelns verstehen lässt.
Da es im Französischen mehr Obertempora gibt, sind auch die Sekundärtempora zahlreicher. Da hat das (frz.) imparfait sein (frz.) plus-que-parfait (elle avait chanté), das (frz.) futur sein (frz.) futur antérieur (elle aura chanté), das (frz.) conditionnel sein (frz.) conditionnel passé (elle aurait chanté), ja selbst zu den beiden (frz.) subjonctifs lassen sich Vorzeitigkeitsformen bilden (qu'elle ait chanté, qu'elle eût chanté).

Man muss betonen, dass diese Vielfalt nur noch auf den schriftlichen, ja literarischen Stil beschränkt ist und selbst dort langsam verloren geht.
Einen Sonderfall stellt das Präsensperfekt bzw. (frz.) passé composé dar. Es ist in beiden Sprachen Vorzeitigkeitstempus zum Präsens, kann aber auch selbst Obertempus sein. Als solches ist es, wiederum in beiden Sprachen, das mündliche Erzähltempus par excellence, im Gegenwarts-Französisch selbst in schriftlichen Texten als Erzähltempus moderner Ersatz für das gravitätische (frz.) passé simple. Es verfügt dann seinerseits über ein – in der Praxis meist durch das Präteritumperfekt ersetztes – Sekundärtempus zur Markierung der Vorzeitigkeit (elle a eu chanté – sie hatte gesungen).
Der Vollständigkeit halber sei vermerkt, dass zur Markierung der Nachzeitigkeit in beiden Sprachen für den Gegenwartsbereich die diversen Futurformen (siehe oben), für den Vergangenheitsbereich die Formen des Konditionals (im Deutschen die mit würde gebildeten Formen: sie wusste, sie würde ihn treffen) zur Verfügung stehen. Dabei kann das Hilfs- bzw. Stützverb werden bzw. aller je nach Erfordernis in Tempus und Modus flektiert werden.
Eine Eins-zu-eins-Gegenüberstellung hat allerdings wenig Sinn, da die Verwendung einer bestimmten Temporalform in jeder Sprache auch stilistisch markiert ist, an einen Kontext oder Texttyp gebunden ist oder sogar in die Idiomatik hineinreicht. Beispiele:

il avait peur – er hatte Angst
il eut peur – er bekam es mit der Angst zu tun
il était une fois – es war einmal
Quand l'oiseau eut fini de chanter, il déploya ses ailes et vola devant eux. – Als der Vogel seinen Gesang beendet hatte, breitete er seine Flügel aus und flog vor ihnen her.
[Märchen: Hänsel und Gretel]
on a gagné! – wir haben gewonnen!
il sut / a su qu'on complotait contre lui – er erfuhr, dass man sich gegen ihn verschworen hatte
je sais ce que je vais faire – ich weiß, was ich tun werde

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