haben oder sein?
Im Deutschen werden zwei Perfekt-Hilfsverben für die Bildung von Präsensperfekt und Präteritumperfekt unterschieden: haben und sein.
Die Wahl des Perfekt-Hilfsverbs hängt sowohl von syntaktischen als auch von semantischen
Kriterien ab.
Perfektbildung mit dem Hilfsverb haben
Er hat mich recht
freundlich gegrüßt.
Sie haben ein Haus gebaut.
Das Pferd hat den Reiter
aus dem Sattel geworfen.
Sie haben noch
kein wirksames Konzept gefunden.
Sie
haben die Urkunde zurückdatiert.
Der Steinmarder hatte die Zündkabel
zerbissen!
Sie hatten
die Latten vom Zaun abgebrochen.
Dies gilt auch für Verben, bei denen das Kakk fakultativ ist:
Sie hatten bis spät in die Nacht (Wein) getrunken.
Ich
habe früher (Zigarren) geraucht.
Das Kind hat geschlafen.
Da hatte ich nur gelacht.
Der Anzug hatte mir wie angegossen
gepasst.
Wir haben an unsere Verwandten
gedacht.
"Ja Papa," antwortete sie. "Er hat nicht länger bleiben
können und es uns nicht gesagt, um sich unserm Dank zu entziehen." ("Waldröschen Teil
33", 22.11.2010)
Einem 18-Jährigen hätte man diese Anklage
nie antun dürfen.
Michael Rensing: „Die Niederlage ist sehr ärgerlich, da sie sehr
unverdient wahr. Wir hätten das Spiel gewinnen können. Wir hatten eine
sehr gute Chance und bekommen dann fast im Gegenzug das 0:1." [Profis, "Spiel auf Messers
Schneide", 23.01.2012. fc-koeln.de]
"Meine
Großmutter ist eine sehr arme Frau, und mein Vater hat sich immer für seine Mutter
schämen müssen, weil sie ihm nur so wenig hat geben
können." (B. Vanderbeke, 2001. Das Muschelessen. S. 75)
Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen,
behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein!
[Joseph Victor von Scheffel (1853): Der Trompeter von Säckingen.]
Wie im Deutschen bilden die französischen Modalverben devoir, pouvoir,
vouloir ihre Perfektformen mit dem Hilfsverb avoir (z. B. il a
dû, il a pu, il a voulu etc.). Zwischen den beiden Kontrastsprachen besteht jedoch ein
grundlegender Unterschied, was die tempusbezogenen Merkmale von Modalverben und deren beiden
Verwendungsweisen "deontisch" vs. "epistemisch" betrifft.
Im Deutschen ist der Unterschied
zwischen deontischem und epistemischem Gebrauch von Modalverben im Perfekt grammatisch eindeutig
markiert. Die richtige Interpretation gilt somit als gesichert: Bei deontischem Gebrauch wird
nämlich das Modalverb ins Perfekt gesetzt (vgl. (1) bzw. (3a)); bei epistemischem Gebrauch steht
das regierte Verb im Infinitivperfekt (vgl. (2) bzw. (3b)):
(1) Er muss seinen Text am 31. März abgeben. Er
hat seinen Text am 31. März abgeben müssen.
(deontisch)
(2) Er muss krank sein. Er muss krank gewesen
sein. (epistemisch)
(3a) Er hat die Bilanz
frisieren müssen. (deontisch)
(3b) Er muss die Bilanz
frisiert haben. (epistemisch)
Im Französischen kann dagegen die Gefahr einer Zweideutigkeit in Sätzen mit einem Modalverb im Perfekt bestehen, da die Perfektform eines Modalverbs zwei Interpretationen zulässt: eine deontische und eine epistemische Lesart. Dies ist der Fall bei den Modalverben devoir und pouvoir; man vergleiche jeweils (4) und (5):
(4) L'athlète autrichien a dû s'entraîner sans relâche. (zweideutig)
Ohne Kontext bleibt die Lesart in (4) unklar: Entweder war der Athlet gezwungen, ununterbrochen zu trainieren (Notwendigkeit: deontisches devoir) oder der Sprecher drückt einen bestimmten Grad an Wahrscheinlichkeit aus im Sinne des Satzadverbiales sehr wahrscheinlich (epistemisches devoir). Diese Zweideutigkeit gibt es im Deutschen aufgrund der deutlich unterschiedenen Formen nicht (siehe obige Erläuterungen):
(4a) deontische Lesart im Deutschen: Der österreichische Athlet
hat pausenlos trainieren müssen.
(4b) epistemische
Lesart im Deutschen: Der österreichische Athlet muss pausenlos trainiert
haben.
Wie die Perfektform des frz. devoir ist auch die Perfektform des Modalverbs pouvoir durch diese Ambiguität - deontisch vs. epistemisch - gekennzeichnet:
(5) Elle a pu arriver à l'heure.
(5a)
deontisches pouvoir (im Sinne von sie war imstande, rechtzeitig
anzukommen). Dt.: Sie hat rechtzeitig ankommen
können.
(5b) epistemisches pouvoir (sie ist
vielleicht / möglicherweise rechtzeitig angekommen). Dt.: Sie kann rechtzeitig
angekommen sein.
In konkreten Kommunikationssituationen ermöglichen aber der sprachliche Kontext oder der
Rückgriff auf allgemeines Weltwissen prinzipiell eine eindeutige
Interpretation.
Wenn das frz. Modalverb im Präsens sich mit einem
Infinitivperfekt verbindet, ist die Interpretation ebenfalls ganz eindeutig: Fälle wie (4b') bzw.
(5b') im Französischen entsprechen dem epistemischen Gebrauch des entsprechenden deutschen
Modalverbs:
(4b') L'athlète autrichien doit s'être entraîné sans
relâche.
(5b') Elle peut être arrivée à
l'heure.
(vgl. auch die quasi lexikalisierte, epistemisch zu deutende Form:
Il se peut qu'elle soit arrivée à l'heure.)
Über die beiden frz. Modalverben devoir und pouvoir hinaus verdient auch das frz. Modalverb vouloir Erwähnung. Generell wird es deontisch verwendet. Sein epistemischer Gebrauch ist zwar nicht ausgeschlossen, es handelt sich aber eher um einen seltenen Fall, der starken Beschränkungen unterliegt: Epistemisches vouloir tritt prinzipiell nur in Kombination mit einem Adjektiv auf (also im Unterschied zum Deutschen ohne Infinitiv), es kommt immer reflexiv und nur in einfachen Tempusformen vor:
(6) Elle se veut / se voulait très riche. (Dt.: Sie will / wollte sehr reich sein.)
Ich hoffe, ich habe ihre
Gefühle nicht verletzt, Gnä' Frau.
Ich hoffe, Sie haben
sich nicht verletzt, Gnä'
Frau.
Die Digitalkamera hat er seinem
Sohn in Yokohama gekauft.
Sein erstes Motorrad
hat er sich in Fürstenwalde gekauft: eine
DKW zum Anschieben, für 50 Mark. [Berliner Zeitung, 04.09.1998, S.
24]
Er hat seinen Freund Paul
in der Bar getroffen.
Sie haben sich in der Bar getroffen.
Paul ist
dem Künstler während der Ausstellung
begegnet.
Sie sind
sich während der Ausstellung begegnet.
Am Ende des Films ist der Held dem
Bösewicht entgegengegangen.
Am Ende des Films
sind sich der Held und der Bösewicht
entgegengegangen.
Zur Bildung der Perfektformen der reflexiv oder reziprok verwendeten Verben im Französischen siehe Hilfsverb.
Perfektbildung mit dem Hilfsverb sein
Er ist durch die ganze Stadt
gerannt.
Sie sind mit der S-Bahn zur
Schwabstraße gefahren.
Der Apfel war nicht weit vom Stamm zur Erde
gefallen.
Bougainville ist um die ganze Welt
gereist.
Wenn die Bewegungsverben mit einem Kakk realisiert werden und dabei ihre Bedeutung ändern, werden die Perfektformen mit dem Hilfsverb haben gebildet.
Ich weiß genau, dass Manfred Germar 1956 in Melbourne
die 100-Meter gelaufen hat.
Er hat das Rennen nicht zu
Ende gefahren.
Das Wasser ist über Nacht
gefroren.
Der Kessel ist explodiert.
Der Junge ist vielleicht
gewachsen!
Die Blüten sind bereits
aufgegangen.
Die ehemals wohlhabende Familie
ist inzwischen verarmt.
Sie ist
endlich eingeschlafen.
Umweltministerin Angela Merkel legte gestern den Rückwärtsgang ein:
"Von Anfang an ist klar gewesen, daß der Verkehr keinen wesentlichen
Beitrag zur CO2-Reduktion leisten wird".
[Berliner Zeitung, 08.10.1997, S. 4]
Trotz dieser enttäuschenden Zahlen bekräftigen die Gutachter die
Hoffnung auf eine Fortdauer des Wirtschaftsaufschwungs sogar über 1987 hinaus. "Anstelle des
Exports ist der private Verbrauch, neben den Investitionen, zur Stütze der Konjunktur
geworden".
[die tageszeitung, 25.11.1986, S. 2]
Geblieben ist aus dieser Zeit nichts als ein köstlicher
Erfahrungsschatz Tucholskys.
[Fritz J. Raddatz: Vorwort, S. 21. Digitale
Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 362]
Perfektbildung mit dem Hilfsverb haben oder sein
Platins Fazit: Es war ein super Mannschaftserfolg. Wir
haben prima gestanden und zum richtigen Zeitpunkt nachgelegt.
[Braunschweiger Zeitung,
17.12.2008]
"Wir sind hinten wieder gut gestanden, von
den Atzenbruggern war danach nicht mehr viel zu sehen."
[Niederösterreichische Nachrichten, 19.11.2008]
Im süddeutschen Raum, aber nicht nur dort, kann die Konstruktion des Präsensperfekts von Positionsverben mit haben oder mit sein eine jeweils andere Bedeutung aktualisieren. Zwei Fälle sind zu unterscheiden. Im ersten Fall handelt es sich um dasselbe Verb, aber die regional bedingte Möglichkeit der Konstruktion mit sein oder haben lässt eine bestimmte, zweite Bedeutungsvariante als Sonderfall hervortreten, die im übrigen Sprachraum durch die unitäre Konstruktion mit abgedeckt ist:
er ist (vor dem Fernseher usw.)
gesessen
il était assis (devant le téléviseur etc.)
er hat
gesessen = er war im Gefängnis
il a fait de la prison
der Hund
ist vor der Tür gelegen
le chien était couché devant la porte
er
hat drei Wochen gelegen [weil er krank war]
il a gardé le lit pendant trois
semaines
Im nicht-süddeutschen Raum dagegen nur: er hat gesessen bzw. er hat gelegen für beide Bedeutungen.
Im zweiten Fall handelt es sich um zwei verschiedene, homographe Verben, die gleichlautende Partizipialformen aufweisen, durch das jeweils spezifische Hilfsverb jedoch in ihrer Identität und damit Bedeutung differenziert werden:
er ist gestanden, er ist vor der Tür gestanden (von:
stehen)
il était debout, il se trouvait devant la
porte
er hat (den Mord) gestanden (vom Präfixverb
gestehen)
il a avoué (le meurtre)
Im nicht-süddeutschen Raum dagegen bei beiden Verben: er hat gestanden.
In manchen Fällen wird mit einer der ähnlich lautenden Verbformen die Grenze zum Adjektiv überschritten; dies ist auch außerhalb des süddeutschen Raumes gültig:
die Lampe hat über dem Tisch gehangen
la lampe
était suspendue au-dessus de la table
das Fleisch ist gut
abgehangen
la viande est bien rassise
Hier zeigt vor allem die frz. Übersetzung, dass "abgehangen" als voll zum Adjektiv gewordenes Partizip zu beurteilen ist. In der Fachsprache wird es als Antonym zu "frisch" gebraucht.
Im Französischen sind bei manchen Bewegungsverben auch beide Hilfsverben möglich, wobei être eine intransitive, avoir eine transitive Bedeutung auslöst:
elle est sortie à cinq heures
sie ist um fünf Uhr
ausgegangen
elle a sorti son portefeuille
sie hat ihre Geldbörse
hervorgeholt
Zusätzliches zur Wahl zwischen den Perfekthilfsverben sein und haben bei der Tempusbildung in Hilfsverb.