haben oder sein?

Im Deutschen werden zwei Perfekt-Hilfsverben für die Bildung von Präsensperfekt und Präteritumperfekt unterschieden: haben und sein.

Die Wahl des Perfekt-Hilfsverbs hängt sowohl von syntaktischen als auch von semantischen Kriterien ab.

Perfektbildung mit dem Hilfsverb haben

Verben, die ein Komplement im Akkusativ (Kakk) fordern, bilden die Perfektformen mit haben.

Er hat mich recht freundlich gegrüßt.
Sie haben ein Haus gebaut.

Das Pferd hat den Reiter aus dem Sattel geworfen.
Sie haben noch kein wirksames Konzept gefunden.
Sie haben die Urkunde zurückdatiert.
Der Steinmarder hatte die Zündkabel zerbissen!
Sie hatten die Latten vom Zaun abgebrochen.

Dies gilt auch für Verben, bei denen das Kakk fakultativ ist:

Sie hatten bis spät in die Nacht (Wein) getrunken.
Ich habe früher (Zigarren) geraucht.

Verben, die kein Komplement im Akkusativ (Kakk) fordern und mit denen das Bestehen eines Zustands, die Ausführung eines Vorgangs oder einer Tätigkeit bezeichnet werden, ohne dass dabei auf eine Veränderung gegenüber einem Vorzustand oder auf einen Folgezustand (Anfangs- oder Endphase) abgehoben wird, bilden Perfektformen mit dem Hilfsverb haben. Es darf sich dabei nicht um Tätigkeiten oder Vorgänge handeln, die eine räumliche oder zeitliche Veränderung der Position des Gegenstands bewirken, der als Ksub realisiert ist.

Das Kind hat geschlafen.
Da hatte ich nur gelacht.

Der Anzug hatte mir wie angegossen gepasst.
Wir haben an unsere Verwandten gedacht.

Modalverben bilden ihre Perfektformen mit haben, gleichgültig mit welchem Vollverb sie verbunden werden.

"Ja Papa," antwortete sie. "Er hat nicht länger bleiben können und es uns nicht gesagt, um sich unserm Dank zu entziehen." ("Waldröschen Teil 33", 22.11.2010)
Einem 18-Jährigen hätte man diese Anklage nie antun dürfen.

Michael Rensing: „Die Niederlage ist sehr ärgerlich, da sie sehr unverdient wahr. Wir hätten das Spiel gewinnen können. Wir hatten eine sehr gute Chance und bekommen dann fast im Gegenzug das 0:1." [Profis, "Spiel auf Messers Schneide", 23.01.2012. fc-koeln.de]

"Meine Großmutter ist eine sehr arme Frau, und mein Vater hat sich immer für seine Mutter schämen müssen, weil sie ihm nur so wenig hat geben können." (B. Vanderbeke, 2001. Das Muschelessen. S. 75)

Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen,
behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein!
[Joseph Victor von Scheffel (1853): Der Trompeter von Säckingen.]

Wie im Deutschen bilden die französischen Modalverben devoir, pouvoir, vouloir ihre Perfektformen mit dem Hilfsverb avoir (z. B. il a dû, il a pu, il a voulu etc.). Zwischen den beiden Kontrastsprachen besteht jedoch ein grundlegender Unterschied, was die tempusbezogenen Merkmale von Modalverben und deren beiden Verwendungsweisen "deontisch" vs. "epistemisch" betrifft.
Im Deutschen ist der Unterschied zwischen deontischem und epistemischem Gebrauch von Modalverben im Perfekt grammatisch eindeutig markiert. Die richtige Interpretation gilt somit als gesichert: Bei deontischem Gebrauch wird nämlich das Modalverb ins Perfekt gesetzt (vgl. (1) bzw. (3a)); bei epistemischem Gebrauch steht das regierte Verb im Infinitivperfekt (vgl. (2) bzw. (3b)):

(1) Er muss seinen Text am 31. März abgeben. Er hat seinen Text am 31. März abgeben müssen. (deontisch)
(2) Er muss krank sein. Er muss krank gewesen sein. (epistemisch)

(3a) Er hat die Bilanz frisieren müssen. (deontisch)
(3b) Er muss die Bilanz frisiert haben. (epistemisch)

Im Französischen kann dagegen die Gefahr einer Zweideutigkeit in Sätzen mit einem Modalverb im Perfekt bestehen, da die Perfektform eines Modalverbs zwei Interpretationen zulässt: eine deontische und eine epistemische Lesart. Dies ist der Fall bei den Modalverben devoir und pouvoir; man vergleiche jeweils (4) und (5):

(4) L'athlète autrichien a dû s'entraîner sans relâche. (zweideutig)

Ohne Kontext bleibt die Lesart in (4) unklar: Entweder war der Athlet gezwungen, ununterbrochen zu trainieren (Notwendigkeit: deontisches devoir) oder der Sprecher drückt einen bestimmten Grad an Wahrscheinlichkeit aus im Sinne des Satzadverbiales sehr wahrscheinlich (epistemisches devoir). Diese Zweideutigkeit gibt es im Deutschen aufgrund der deutlich unterschiedenen Formen nicht (siehe obige Erläuterungen):

(4a) deontische Lesart im Deutschen: Der österreichische Athlet hat pausenlos trainieren müssen.
(4b) epistemische Lesart im Deutschen: Der österreichische Athlet muss pausenlos trainiert haben.

Wie die Perfektform des frz. devoir ist auch die Perfektform des Modalverbs pouvoir durch diese Ambiguität - deontisch vs. epistemisch - gekennzeichnet:

(5) Elle a pu arriver à l'heure.
(5a) deontisches pouvoir (im Sinne von sie war imstande, rechtzeitig anzukommen). Dt.: Sie hat rechtzeitig ankommen können.
(5b) epistemisches pouvoir (sie ist vielleicht / möglicherweise rechtzeitig angekommen). Dt.: Sie kann rechtzeitig angekommen sein.

In konkreten Kommunikationssituationen ermöglichen aber der sprachliche Kontext oder der Rückgriff auf allgemeines Weltwissen prinzipiell eine eindeutige Interpretation.

Wenn das frz. Modalverb im Präsens sich mit einem Infinitivperfekt verbindet, ist die Interpretation ebenfalls ganz eindeutig: Fälle wie (4b') bzw. (5b') im Französischen entsprechen dem epistemischen Gebrauch des entsprechenden deutschen Modalverbs:

(4b') L'athlète autrichien doit s'être entraîné sans relâche.
(5b') Elle peut être arrivée à l'heure.
(vgl. auch die quasi lexikalisierte, epistemisch zu deutende Form: Il se peut qu'elle soit arrivée à l'heure.)

Über die beiden frz. Modalverben devoir und pouvoir hinaus verdient auch das frz. Modalverb vouloir Erwähnung. Generell wird es deontisch verwendet. Sein epistemischer Gebrauch ist zwar nicht ausgeschlossen, es handelt sich aber eher um einen seltenen Fall, der starken Beschränkungen unterliegt: Epistemisches vouloir tritt prinzipiell nur in Kombination mit einem Adjektiv auf (also im Unterschied zum Deutschen ohne Infinitiv), es kommt immer reflexiv und nur in einfachen Tempusformen vor:

(6) Elle se veut / se voulait très riche. (Dt.: Sie will / wollte sehr reich sein.)

Die reflexive oder reziproke Verwendung eines Verbs hat keinen Einfluss auf die Wahl des Hilfsverbs bei der Bildung der Perfektformen.

Ich hoffe, ich habe ihre Gefühle nicht verletzt, Gnä' Frau.
Ich hoffe, Sie haben sich nicht verletzt, Gnä' Frau.

Die Digitalkamera hat er seinem Sohn in Yokohama gekauft.

Sein erstes Motorrad hat er sich in Fürstenwalde gekauft: eine DKW zum Anschieben, für 50 Mark. [Berliner Zeitung, 04.09.1998, S. 24]

Er hat seinen Freund Paul in der Bar getroffen.
Sie haben sich in der Bar getroffen.

Paul ist dem Künstler während der Ausstellung begegnet.

Sie sind sich während der Ausstellung begegnet.

Am Ende des Films ist der Held dem Bösewicht entgegengegangen.
Am Ende des Films sind sich der Held und der Bösewicht entgegengegangen.

Zur Bildung der Perfektformen der reflexiv oder reziprok verwendeten Verben im Französischen siehe Hilfsverb.

Perfektbildung mit dem Hilfsverb sein

Verben, mit denen Vorgänge oder Tätigkeiten bezeichnet werden, die eine räumliche und zeitliche Veränderung der Position des Gegenstands bewirken, der als Ksub realisiert ist, bilden Perfektformen mit dem Hilfsverb sein. Sie werden auch Vorgangs- oder Bewegungsverben genannt.

Er ist durch die ganze Stadt gerannt.
Sie sind mit der S-Bahn zur Schwabstraße gefahren.

Der Apfel war nicht weit vom Stamm zur Erde gefallen.
Bougainville ist um die ganze Welt gereist.

Wenn die Bewegungsverben mit einem Kakk realisiert werden und dabei ihre Bedeutung ändern, werden die Perfektformen mit dem Hilfsverb haben gebildet.

Ich weiß genau, dass Manfred Germar 1956 in Melbourne die 100-Meter gelaufen hat.
Er hat das Rennen nicht zu Ende gefahren.

Verben, mit denen Zustandsveränderungen bezeichnet werden und bei denen die davon betroffenen Gegenstände als Ksub realisiert werden, bilden Perfektformen mit dem Hilfsverb sein.

Das Wasser ist über Nacht gefroren.
Der Kessel ist explodiert.

Der Junge ist vielleicht gewachsen!
Die Blüten sind bereits aufgegangen.
Die ehemals wohlhabende Familie ist inzwischen verarmt.
Sie ist endlich eingeschlafen.

Kopulaverben (sein, werden, bleiben) bilden ihre Perfektformen mit sein.

Umweltministerin Angela Merkel legte gestern den Rückwärtsgang ein: "Von Anfang an ist klar gewesen, daß der Verkehr keinen wesentlichen Beitrag zur CO2-Reduktion leisten wird".
[Berliner Zeitung, 08.10.1997, S. 4]

Trotz dieser enttäuschenden Zahlen bekräftigen die Gutachter die Hoffnung auf eine Fortdauer des Wirtschaftsaufschwungs sogar über 1987 hinaus. "Anstelle des Exports ist der private Verbrauch, neben den Investitionen, zur Stütze der Konjunktur geworden".
[die tageszeitung, 25.11.1986, S. 2]

Geblieben ist aus dieser Zeit nichts als ein köstlicher Erfahrungsschatz Tucholskys.
[Fritz J. Raddatz: Vorwort, S. 21. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 362]

Perfektbildung mit dem Hilfsverb haben oder sein

Die Perfektformen der Verben der Ruhe stehen, liegen, sitzen werden in Norddeutschland mit dem Hilfsverb haben und in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz mit dem Hilfsverb sein gebildet.

Platins Fazit: Es war ein super Mannschaftserfolg. Wir haben prima gestanden und zum richtigen Zeitpunkt nachgelegt.
[Braunschweiger Zeitung, 17.12.2008]
"Wir sind hinten wieder gut gestanden, von den Atzenbruggern war danach nicht mehr viel zu sehen."
[Niederösterreichische Nachrichten, 19.11.2008]

Im süddeutschen Raum, aber nicht nur dort, kann die Konstruktion des Präsensperfekts von Positionsverben mit haben oder mit sein eine jeweils andere Bedeutung aktualisieren. Zwei Fälle sind zu unterscheiden. Im ersten Fall handelt es sich um dasselbe Verb, aber die regional bedingte Möglichkeit der Konstruktion mit sein oder haben lässt eine bestimmte, zweite Bedeutungsvariante als Sonderfall hervortreten, die im übrigen Sprachraum durch die unitäre Konstruktion mit abgedeckt ist:

er ist (vor dem Fernseher usw.) gesessen
il était assis (devant le téléviseur etc.)
er hat gesessen = er war im Gefängnis
il a fait de la prison
der Hund ist vor der Tür gelegen
le chien était couché devant la porte
er hat drei Wochen gelegen [weil er krank war]
il a gardé le lit pendant trois semaines

Im nicht-süddeutschen Raum dagegen nur: er hat gesessen bzw. er hat gelegen für beide Bedeutungen.

Im zweiten Fall handelt es sich um zwei verschiedene, homographe Verben, die gleichlautende Partizipialformen aufweisen, durch das jeweils spezifische Hilfsverb jedoch in ihrer Identität und damit Bedeutung differenziert werden:

er ist gestanden, er ist vor der Tür gestanden (von: stehen)
il était debout, il se trouvait devant la porte
er hat (den Mord) gestanden (vom Präfixverb gestehen)
il a avoué (le meurtre)

Im nicht-süddeutschen Raum dagegen bei beiden Verben: er hat gestanden.

In manchen Fällen wird mit einer der ähnlich lautenden Verbformen die Grenze zum Adjektiv überschritten; dies ist auch außerhalb des süddeutschen Raumes gültig:

die Lampe hat über dem Tisch gehangen
la lampe était suspendue au-dessus de la table
das Fleisch ist gut abgehangen
la viande est bien rassise

Hier zeigt vor allem die frz. Übersetzung, dass "abgehangen" als voll zum Adjektiv gewordenes Partizip zu beurteilen ist. In der Fachsprache wird es als Antonym zu "frisch" gebraucht.

Im Französischen sind bei manchen Bewegungsverben auch beide Hilfsverben möglich, wobei être eine intransitive, avoir eine transitive Bedeutung auslöst:

elle est sortie à cinq heures
sie ist um fünf Uhr ausgegangen
elle a sorti son portefeuille
sie hat ihre Geldbörse hervorgeholt

Zusätzliches zur Wahl zwischen den Perfekthilfsverben sein und haben bei der Tempusbildung in Hilfsverb.

Übung zum Perfekt-Hilfsverb 2

Zum Text

Letzte Änderung
Aktionen
Seite als PDF
Seite drucken
Seite zitieren

Seite teilen