Zum Geltungsbereich (Skopus) der Tempora
Die einzelnen Kategorien der Kategorisierung Tempus werden zwar morphologisch am Verb bzw. am Verbalkomplex kenntlich gemacht, das jeweilige Tempus erfasst jedoch die gesamte Proposition. Nicht nur das Verb wird temporal eingeordnet, die komplette Handlung, der komplette Sachverhalt wird unter einem temporalen Gesichtspunkt betrachtet.
Es kommt allerdings auch vor, dass Teile von Sätzen aus der Zeitabhängigkeit herausfallen:
Manfred Menzenbach aus Oberelsaff feiert am heutigen Mittwoch sein 40. Betriebsjubiläum bei der Firma Hochtief Geräteservice GmbH, vormals Streif Schalungsbau in Vettelschoß. Der Jubilar erlernte von 1957 bis 1960 den Beruf des Zimmerers bei Streif. [Rhein-Zeitung, 23.04.1997]
Hier trifft der Ausdruck der Jubilar als Personenbezeichnung nur zur Sprech- bzw. Berichtzeit zu, nicht aber zu der mit dem Präteritum eingeführten und von 1957 bis 1960 begrenzten Betrachtzeit. Derjenige, der von 1957 bis 1960 das Handwerk erlernte, ist zwar dasselbe Individuum, das jetzt (d. h. zur Sprechzeit) Jubilar ist, war aber damals kein Jubilar – oder zumindest nicht Jubilar aufgrund des hier zur Debatte stehenden Jubiläums.
In solchen Beispielen liegt offensichtlich die betreffende Bezeichnung außerhalb des Geltungsbereichs (Skopus) des Tempus. Eine verdeutlichende Paraphrase für das Beispiel wäre:
Derjenige, der heute Jubilar ist, / unser heutiger Jubilar erlernte von 1957 bis 1960 (...).
Bei kontextlosen Sätzen können unterschiedliche Geltungsbereiche eines einzelnen Satzes zutreffen, der somit mehrdeutig ist.
Wie heute bekannt wurde, hat die Delegation 1999 erstmals mit dem Ministerpräsidenten verhandelt.
Bei Lesart (1), bei welcher Ministerpräsident innerhalb des Skopus ist, hat die Delegation 1999 mit dem damaligen Ministerpräsidenten verhandelt. Bei Lesart (2), bei der die Bezeichnung Ministerpräsident außerhalb des Skopus liegt, hat die Delegation mit dem heutigen Ministerpräsidenten verhandelt, der 1999 noch nicht im Amt war, und in Lesart (3) hat die Delegation 1999 mit dem Ministerpräsidenten verhandelt, der kontinuierlich bis heute zur Sprechzeit immer noch Ministerpräsident ist, dabei liegt Ministerpräsident sowohl innerhalb als auch außerhalb des Skopus des Tempus.
Das Prinzip, dass eine Verzeitung mittels Tempus nicht nur das Verb, sondern die gesamte
Proposition erfasst, lässt sich auch anders gewichten und bedarf daher einer Ergänzung: Ein Tempus
bezieht sich in der Regel auf eine und nur eine Proposition. Damit ist ausgedrückt,
dass im Prinzip in einem Satzgefüge mit mehreren hierarchisch geordneten Propositionen jede
einzelne gesondert verzeitet wird.
Im Sprachvergleich stellt sich allerdings heraus, dass
differenziert werden muss. So ist im Französischen die temporale Beziehung zwischen Obersatz und
Nebensatz gemäß der lateinischen Tradition der consecutio temporum (frz. concordance des temps)
stärker festgelegt als im Deutschen.
Auszugehen ist von der Dreierkonstellation, die das
Tempussystem a priori anbietet: Zu einem Obertempus, das als
Orientierungszeit gilt, gehört jeweils ein Vorzeitigkeits- bzw. Abgeschlossenheitstempus sowie ein
Nachzeitigkeits- bzw. Prospektivtempus (man könnte von "Sekundärtempus" oder "Nebentempus"
sprechen), also Blick in die Vergangenheit und Blick in die Zukunft von einem Orientierungspunkt
aus. Somit gilt, abgesehen von Feinheiten:
Zur aspektuellen Differenzierung im Französischen siehe auch: Synthetische / analytische Tempora
Es gibt grundsätzlich zwei Situationen: Entweder wird die eine Proposition (in der Regel:
der Nebensatz) aus der Perspektive der anderen (in der Regel: des Obersatzes), also in Abhängigkeit
von deren Tempus verzeitet – das dann zum Orientierungstempus wird – und folgt dann der consecutio
temporum. Oder Ober- und Nebensatz werden jeder bezüglich eines eigenen Orientierungstempus
verzeitet, was einem Perspektivenwechsel entspricht.
In Satzgefügen mit Temporalsätzen,
bei denen ja aufgrund der Semantik der Relation bereits ein Zeitverhältnis zwischen den
Propositionen thematisiert ist, also bei Verbindungen mit als, während, immer wenn,
nachdem, ... / quand, lorsque, chaque fois que, après que ... gelten die Beziehungen der
jeweiligen Dreierkonstellation so, wie sie vom Subjunktor vorgegeben sind (1, 2, 3); das
Sekundärtempus kann auch im Obersatz erscheinen (4):
(1) Als / Während wir warteten, fuhren drei Züge vorbei.
(Gleichzeitigkeit, Inklusion)
Pendant que nous attendions, trois trains
passèrent. (idem)
(2) Als / Nachdem Leo gegangen war, ergriff Irma das
Wort. (Vorzeitigkeit)
Quand / Lorsque / Après que Léon fut parti, Irma
prit la parole. (idem)
(3) Immer, wenn ich schreibe, stört Irma
mich. (Gleichzeitigkeit, Inklusion)
Chaque fois que j'écris, Irma vient
me déranger. (idem)
(4) (Immer,) wenn ich aus dem Urlaub nach Hause kam,
hatte die Katze was angestellt. (Vorzeitigkeit im Obersatz)
Chaque fois
que je revenais de vacances, le chat avait fait des bêtises. (idem)
Im Deutschen steht in einer durch bevor eingeleiteten Proposition das Obertempus, wohl weil die paradoxe bevor-Logik (es heißt dort "vor", angebunden ist aber etwas Nachzeitiges) sonst bewirken könnte, dass das Zeitverhältnis mithilfe des sperrigen Nachzeitigkeits-Sekundärtempus ausgedrückt werden müsste (1a). Dagegen hängt das Tempus im Obersatz allein von der vom Sprecher gewählten Ausgangsperspektive ab (1b, 1c):
(1a) * Wir verließen das Theater, bevor das Stück zu Ende sein
würde.
(1b) Wir verließen das Theater, bevor das Stück zu Ende
war.
(1c) Wir hatten das Theater verlassen, bevor das Stück zu Ende
war.
Das Französische hat hier ein eigenes Rezept: Maßgebend ist bei avant que die Unsicherheit, ob das zeitlich nachgeordnete Ereignis auch wirklich stattfindet. Folglich ist hier der (frz.) subjonctif gefordert. Bei Gleichheit der Subjekte wird allerdings wie bei après que die – im Deutschen nicht mögliche – Infinitivkonstruktion vorgezogen, die sich nicht um Tempora schert:
(2) Er hat seinem Sohn Geld gegeben, damit der sich
einen Computer kaufen kann / kaufe.
Il a donné de l'argent à son
fils pour que celui-ci puisse s'acheter un
ordinateur.
(3a) Man hat damals diese Brücke gebaut, damit
sich der Reiseweg verkürzte / verkürzt.
On a construit
ce pont à l'époque pour que la route soit moins
longue.
(3b) ... damit der Verkehr besser fließen konnte. /
... pour fluidifier la circulation.
In allen anderen Fällen gibt es meist eine klare Alternative: gemeinsamer Bezugspunkt oder getrennte Verzeitung.
Bei Verkettungen von Sätzen durch dann, danach, nun, schließlich ... / puis, ensuite, alors, enfin ... bezieht der Erzähler entweder alles auf das Obertempus (= Orientierungszeit) (1), oder er erzählt chronologisch die Reihung der Ereignisse unter Beibehaltung desselben Tempus, wobei sein Blick an den Ereignissen "entlangfährt" (2):
(1) Sie hatten sich bestens vorbereitet und waren nun sehr motiviert.
Sie würden es schon schaffen!
Ils s'étaient parfaitement préparés et étaient maintenant
très motivés. Ils y arriveraient!
(2) Erst planten sie das Abenteuer,
dann bauten sie ihren kleinen Bus um, und schließlich besorgten sie sich die Visa.
D'abord, ils ont planifié l'aventure, puis ils ont transformé leur mini-bus, et enfin ils se sont
procuré les visas.
Auch bei Verben des Wissens, Denkens, Sagens gibt es prinzipiell beide Lösungen (siehe 3 vs. 4). Steht bei getrennter Verzeitung der Objektsatz im Präsens, so heißt das, dass die Aussage auch für die Sprechergegenwart zutrifft (3). Bei gleichen Tempora ist die Alternative aufgehoben (Orientierungszeit und Betrachtzeit fallen zusammen) (5):
(3) Wir wussten alle, dass du türkischer Abstammung
bist.
Nous savions tous que tu es / étais d'origine turque.
(4)
Wir ahnten, dass du den Umgang mit uns meiden würdest.
On se doutait que tu
éviterais de nous fréquenter.
(5) Wir stellen aber erfreut fest, dass du
jetzt zu unserem Freundeskreis gehörst.
Mais nous constatons avec joie qu'à présent tu
fais partie de notre cercle d'amis.
Wird die Rede eines Anderen nicht in Form eines Objektsatzes (dass, ob, indirekter Fragesatz) zitiert, so gilt, dass der Redetext gegenüber dem Rahmentext sein eigenes Bezugssystem hat. Bei direkter Rede ist dies klar zu erkennen, da der Redetext als syntaktisch unabhängig erscheint. Indirekte Rede lässt heute viele Varianten zu. In der kanonischen Form stehen lediglich die Formen Präsens, Präsensperfekt bzw. Präteritumperfekt und Futur im Konjunktiv I oder II zur Verfügung. Dabei ist es ebenfalls gleichgültig, welches Tempus im Rahmentext erscheint:
(1') Leo meinte, sie hätten sich bestens vorbereitet gehabt und seien
nun sehr motiviert. Sie würden es schon schaffen!
Léon a dit qu'ils s'étaient parfaitement
préparés, qu'ils étaient maintenant très motivés et qu'ils y arriveraient!