Das Präsensperfekt

Präsensperfekt liegt vor in Sätzen wie diesen:

Ich hab von meiner Schulzeit profitiert, und ich hab sie in sehr guter Erinnerung. [Klaus Kinkel, 1998 in SWR1: Leute]

Ich habe gesagt, dass wir jetzt das Hotel verlassen müssen, wenn wir nicht hetzen wollen, und da hast du gesagt, dass du fertig wärst, und da habe ich gefragt, warum wir nicht gehen, und dann hast du gesagt, dass du nur wartest, bis ich aufstehe, und da habe ich gesagt, dass ich so lange sitzen bleibe, bis du fertig bist. [Loriot, Aufbruch, in Loriots Klassiker]

Doch er bekundete Verständnis für den Schritt: "Sandra und ich sind lange zusammen gelaufen, jetzt sind wir geschieden, und ich glaube, daß die Fortsetzung der Karriere schwierig für sie geworden wäre." [nach: Berliner Zeitung, 04.01.1999, S. 31]

Im Präsensperfekt liegt die Betrachtzeit für den tempuslosen Satzrest vor der Betrachtzeit für das Obertempus Präsens. Die Betrachtzeit für das Obertempus Präsens wird damit zur Orientierungszeit für die Interpretation des tempuslosen Satzrestes. Beispiel:

Nun habe ich endlich alles geschafft.

Obertempus: Präsens, die Betrachtzeit ist ausgedrückt durch die Präsenssemantik in der Form des Hilfsverbs habe und durch das Temporaladverb nun.
Tempusloser Satzrest: (ich alles) geschafft haben. Die Betrachtzeit des tempuslosen Satzrestes, ausgedrückt durch den Infinitiv Perfekt, steht im Verhältnis der Vorzeitigkeit zur Orientierungszeit Präsens.

Die Betrachtzeit für das Präsens kann aufgrund der Verwendung bestimmter Temporaladverbialia allerdings verschieden situiert sein; sie kann liegen:

  • in der unmittelbaren Gegenwart:
    Nun habe ich endlich alles geschafft.
    In der heutigen, globalisierten Welt sind die Staatsgrenzen durchlässig geworden.


    oder auch, infolge der durch die Temporaladverbialia signalisierten Verschiebung auf der Zeitachse,

  • in der Vergangenheit:
    Im Dezember 1989 ist die Mauer gefallen und wir feiern Weihnachten in Hamburg.

  • oder sogar in der Zukunft:
    Peter hat morgen das Buch zu Ende gelesen.
    Katharina hat nächste Woche ihre Arbeit bestimmt erledigt.

In allen diesen Fällen wird trotz der Verschiebung auf der Zeitachse die Betrachtzeit für das Präsens zur Orientierungszeit für die Interpretation des tempuslosen Satzrestes. Das heißt, dass in jedem Falle das Verhältnis der Vorzeitigkeit des tempuslosen Satzrestes zum Obertempus erhalten bleibt.

Fassen wir zusammen. Für alle Fälle gilt:

Das Präsensperfekt drückt Vergangenheit relativ zu Betrachtzeiten im Präsens aus, also letztendlich, wenn man die Möglichkeit der Verschiebung auf der Zeitachse einbezieht, relativ zu Betrachtzeiten beliebiger Lage.
Daraus ergibt sich die Eigentümlichkeit, dass trotz ihrer prinzipiellen Vorzeitigkeit die Betrachtzeit des tempuslosen Satzrestes die Betrachtzeit des Obertempus (also der Orientierungszeit) real überlappen kann. In dem Beispiel:

Peter hat morgen das Buch zu Ende gelesen.

steht zwar formal der tempuslose Satzrest, also: (Peter das Buch) zu Ende gelesen haben, aufgrund des Infinitiv Perfekt im Verhältnis der Vorzeitigkeit zum Obertempus Präsens (das sich in der Form hat manifestiert); real jedoch überlappt das "zu-Ende-gelesen-haben" die dank "morgen" in der Zukunft liegende Betrachtzeit des Obertempus, da es ja auch erst "morgen" vollendet ist, also in die Zukunft hineinreicht.
Solche Effekte beruhen allerdings meist auf einer künstlichen Manipulation mit den Mitteln der Grammatik. Hier resultiert die komplexe Wirkung aus der Kombination des sprechzeitrelativen Adverbs "morgen", dessen Semantik Nachzeitigkeit impliziert, mit einem Vorzeitigkeitsverhältnis, bei dem außerdem das Futurperfekt, das eigentlich hier stehen "müsste", durch das geläufigere Präsensperfekt ersetzt wird:

Peter wird morgen das Buch zu Ende gelesen haben. – Peter hat morgen das Buch zu Ende gelesen.

Weiterführende Informationen:

zur Unterscheidung Präteritum versus Präsensperfekt
zur Wahl des Hilfsverbs haben oder sein?

Übung: Präsensperfekt

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