Präteritum versus Präsensperfekt

Eine der Hauptschwierigkeiten bei einer grammatischen Beschreibung der deutschen Tempora liegt darin, den Unterschied zwischen den beiden Vergangenheitstempora Präteritum und Präsensperfekt angemessen zu fassen. Hierzu trägt eine kompositionale Analyse bei (s. Einfaches versus zusammengesetztes Vergangenheits-Tempus und Präteritum/Präsensperfekt mit Temporaladverbialia).

In der Literatur werden die beiden Tempora Präteritum und Präsensperfekt in ihrer Beziehung zueinander unterschiedlich betrachtet. Die Spannweite bewegt sich zwischen einem absoluten Bedeutungsunterschied und einer synonymen Verwendung der beiden Tempora. Tatsächlich können die beiden Tempora oft gegeneinander ausgetauscht werden, ohne dass sich die Bedeutung des Satzes signifikant verändert. Dies heißt jedoch nicht, dass Präteritum und Präsensperfekt in ihrer Funktion identisch sind (s. Unterschiede im Gebrauch von Präteritum/Präsensperfekt)

Der Bedeutungsunterschied zwischen Präteritum und Präsensperfekt kann nicht kontextlos bzw. kotextlos beschrieben werden, da verschiedene Kriterien zum Bedeutungs- bzw. Verwendungsunterschied beitragen (s. Weitere Unterscheidungskriterien).

Einfaches versus zusammengesetztes Vergangenheits-Tempus

Durch die in den Einheiten zum Präsensperfekt, Präteritum und Formenbestand des deutschen Tempussystems gegebene Beschreibung ist ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Tempora bereits klar:

Das Präsensperfekt ist – im Gegensatz zum Präteritum – eine zusammengesetzte Zeit und wird entsprechend auch in zwei Schritten interpretiert.

Unterschiede im Gebrauch von Präteritum/Präsensperfekt

Bei Sätzen ohne Temporaladverbialia führt der Unterschied in der kompositionalen Interpretation von Präsensperfekt und Präteritum zunächst nicht zu einer unterschiedlichen zeitlichen Einordnung:

Hans arbeitete.
Hans hat gearbeitet.

Der Unterschied zwischen beiden Sätzen reduziert sich darauf, dass im Fall des Präteritums die Betrachtzeit in einem Interpretationsschritt erreicht wird, während im Fall des Präsensperfekt die Betrachtzeit in zwei Schritten erreicht wird (s.u.).

Mit diesem Unterschied kann man auf zweierlei Weisen umgehen: Man kann ihn ignorieren, wodurch die Sätze quasi austauschbar werden. Entsprechend finden sich Beispiele, bei denen der Unterschied quasi neutralisiert ist. So etwa hier:

(...) – aber dass mein Mann mich nahm, trotz meinem Kind, dass er Angela ein liebevoller Vater geworden ist, der keinen Unterschied gemacht hat zwischen ihr und seinen eigenen Kindern, das weißt du nicht. [Jung 1965, 43]

Dies wird vor allem im Oberdeutschen stark genutzt, wo Präteritalformen zumindest in gesprochener Sprache selten sind, auch Präteritum-Perfekt-Formen, an deren Stelle Formen treten, die man als 'Präsensperfekt-Perfekt' (auch 'Doppelumschreibung' – siehe unten – oder superkomponierte Formen genannt) bezeichnen könnte:

Ich hab's zwar das alles schon vorher gehört gehabt, dass so was möglich ist, aber ich hab's nicht, für realistisch gehalten, dass das sich verwirklichen könnte.
[Manfred Rommel, 2. 9. 1998 im Gespräch mit Martin Born in SWR 4: Unternehmungen]

Andererseits aber kann die Wahl zwischen beiden Formen auch im Sinne der Fokussierung des kompositionalen Unterschiedes zwischen beiden Tempusformen genutzt werden:
Wählt ein Sprecher, der beide Formen nutzt, an einer bestimmten Stelle statt des aus Hörer- wie Sprecherperspektive einfacheren Präteritums das komplexere Präsensperfekt, wird die – gegenüber dem Präteritumsatz zusätzliche – Betrachtzeit für das Obertempus fokussiert. Das betont die Relevanz des Ereignisses für die Gegenwart.

Ein solcher Effekt kann sich einstellen, wenn in einer Präteritumsequenz ein Präsens und dann ein Präsensperfekt auftritt – besonders am Anfang oder am Ende einer erzählenden Sequenz:

Ich wollte Fenster putzen. Damit ich von außen an das Fenster herankommen konnte, legte ich ein Bügelbrett auf die Fensterbank. Mein Mann, der schwerer als ich ist, setzte sich innen auf das Bügelbrett, und ich putzte auf dem Brett stehend das Fenster von außen. Plötzlich klingelte es an der Haustür. Als mein Mann unten öffnete, fand er mich vor dem Eingang liegend. Wir wissen bis heute nicht, wer geklingelt hat. [Spiegel, 51/1984, 200, Hohlspiegel]

Bei der Übertragung eines französischen Textes ins Deutsche, noch stärker aber bei der Übertragung eines deutschen Textes ins Französische stellt sich die heikle Frage der für die einzelnen Verbformen passenden Zeitform. Dies ist auf die grundsätzliche Asymmetrie der deutschen und französischen Zeitsysteme zurückzuführen. Diese Asymmetrie lässt sich vielleicht am deutlichsten am Beispiel des deutschen Präteritums veranschaulichen, das je nach Kontext mit einer französischen Verbform im (frz.) passé composé (= PC) (1a), (frz.) passé simple (= PS) (1b), (frz.) imparfait (= IMPFT) (1c); (frz.) plus-que-parfait (= PQP) (1d), wenn nicht sogar im (frz.) subjonctif (1e) wiedergegeben werden kann bzw. muss:

(1a) Ich war noch nie in Paris.
- Je n'ai jamais été à Paris.

(1b) Er verließ Nazaret, um in Kafarnaum zu wohnen, das am See liegt.[...]
- Il quitta Nazareth, et vint demeurer à Capernaüm, située près de la mer. [...] (Mt. 4,13)

(1c) [Plötzlich wachte sie auf.] Es war halb drei.
- Il était deux heures et demie.


(1d) [Diderot war 32, ohne Stellung, ohne festes Einkommen [...], als er von seinem Verleger den Auftrag erhielt, die Cyclopedia des Engländers Ephraim Chambers ins Französische zu übertragen, gegebenenfalls leicht umzuarbeiten.] Auf welches Projekt er sich schließlich einließ, merkte er, als er sich an die Arbeit machte. [Mit einer bloßen Übersetzung oder einem flüchtigen Neuarrangement konnte es nicht getan sein.]
- Ce n'est que lorsqu'il se mit au travail qu'il comprit l'ampleur du projet dans lequel il s'était lancé.


(1e) Ein paar Minuten vergingen noch, bevor sie sagte, meine Geschichte sei nicht sehr glaubwürdig.
- Il s'écoula encore quelques minutes avant qu'elle ne dise que mon histoire n'était pas très crédible.


Beispiele (1a-e) lassen erkennen, dass französische Zeit- und Modusformen "Regeln" unterschiedlicher Natur unterliegen: Zum einen wird die Form eines Verbs durch bestimmte grammatische Zwänge festgelegt (z. B. wird in einem mit avant que eingeleiteten Nebensatz immer ein Verb im (frz.) subjonctif verwendet). Zum anderen hängt die Zeitform der Verbvorkommen, die keinem grammatischen Zwang unterliegen, davon ab, wie sich die in der jeweiligen Äußerung dargestellten Prozesse/Vorgänge/Sachverhalte in das schon Gesagte/Erzählte einfügen.
Besonders in narrativen Texten/Sequenzen muss bei jeder Verbform überlegt werden, ob die über sie vermittelte Information zum Fortschreiten der Erzählung beiträgt oder aber kontextualisierende (z. B. ergänzende/präzisierende, veranschaulichende oder erklärende) Elemente hinzufügt. Nur Verbformen, die in irgendeiner Weise zum Fortschreiten der Erzählung beitragen, können im PC (mit Sprecherbezug) oder PS (ohne Sprecherbezug) verwendet werden.

Mit (frz.) passé composé- (= PC) oder passe simple- (= PS) Formen gibt der Sprecher zu verstehen, dass jeder Prozess zeitlich aufgefasst, d. h. auf einer (fiktiven oder realen) Zeitachse verankert wird, wobei er mit anderen Prozessen in derselben Zeitform verkettet wird; damit wird der Schwerpunkt auf die Darstellung der zeitlichen Verhältnisse dieser Prozesse zueinander und zur Sprechinstanz gelegt.
Daher eignen sich diese Formen unter anderem zur Darstellung von Prozessen, die als eine einmalige Prozesskette verstanden werden sollen (1) oder zur Darstellung eines Prozesses, der sich innerhalb einer bestimmten Zeitspanne wiederholt, egal, ob diese Zeitspanne explizit genannt wird (2a) oder nicht (2b):

(1) Il se retourna, épaula son fusil et appuya sur la gâchette. La crosse lui heurta la mâchoire. "J'épaule comme un pied", pensa Rabe. Il ajusta de nouveau le capitaine et tira sans le toucher. (Pierre Mac Orlan, Quai des Brumes)
- Er drehte sich um, brachte das Gewehr in Anschlag und drückte ab. Der Gewehrkolben schlug im in den Kiefer. "Ich lege ja an wie ein Idiot.", dachte Rabe. Er zielte nochmals auf den Kapitän, schoss, traf ihn aber nicht.

(2a) Toute sa vie, il a bu son thé à cinq heures précises.
- Sein Leben lang trank er seinen Tee um Punkt fünf.


(2b) La femme de ménage nettoya chacune des chambres de fond en comble. // Elle essaya à plusieurs reprises de le prévenir du danger qui le menaçait.
- Das Zimmermädchen reinigte jedes einzelne Zimmer von Grund auf. // Sie versuchte mehrmals, ihn vor der Gefahr zu warnen, die ihn bedrohte.

Beispiel (3) zeigt, dass mit diesen Formen auch mehr oder weniger parall laufende Prozesse geschildert werden können:

(3) Nous avons passé une excellente soirée: nous avons beaucoup ri, nous nous sommes raconté nos souvenirs d'enfance, nous avons dégusté un grand cru bourguignon et, cerise sur le gâteau nous avons eu droit à un concert privé.
- Wir haben einen wundervollen Abend verbracht: Wir haben viel gelacht, haben uns unsere Kindheitserinnerungen erzählt, haben einen prämierten Burgunderwein getrunken und sind - als Krönung des Ganzen - auch noch in den Genuss eines Privatkonzerts gekommen.

Die in (3) dargestellten Prozesse bilden strenggenommen keine eigentliche Prozesskette: Die erste Proposition bietet einen bewertenden Überblick darüber, was direkt danach im Detail erzählt wird. Die Prozesse rire - raconter des souvenir d'enfance - boire - écouter un concert folgen auch nicht unbedingt aufeinander, vielmehr überlappen sie sich zum großen Teil. Mit der Verwendung von PC-Formen wird also in erster Linie nicht das zeitliche Verhältnis dieser Prozesse zueinander fokussiert, sondern darauf hingewiesen, dass jeder einzelne Prozess im selben zeitlichen Verhältnis zum Erzählzeitpunkt steht:

Die Rekonstruktion des Zusammenhangs zwischen den einzelnen Prozessen erfolgt aus der Kombination aus Zeitform (gleiche Zeitform = gleiches Verhältnis zum Erzählzeitpunkt) und Musterwissen (hier: geselliger Abend mit Freunden).

Im Vergleich zum (frz.) passé composé (=PC) und (frz.) passé simple (=PS), die grundsätzlich als Erzählformen zu betrachten sind, lässt sich die Leistung des (frz.) imparfait (=IMPFT) im narrativen Gebrauch (der Gebrauch des IMPFT kann ja auch grammatisch bedingt sein – wie z. B. in der indirekten Rede zur concussio tempora oder in hypothetischen Nebensätzen usw.) am besten ex negativo definieren: In Erzählsequenzen stehen IMPFT-Formen da, wo keine PS- oder PC-Formen stehen können, und zwar hauptsächlich aus (der Kombination von) folgenden Gründen:

  • Der mit der Verbform ausgedrückte Prozess trägt nicht zum Fortschreiten der Erzählung bei – mit anderen Worten: Er bildet keinen Teil der Prozesskette, die im Zentrum der Erzählung steht.
  • Der mit der Verbform ausgedrückte Prozess wird nicht als Zeitpunkt auf einer (realen oder fiktiven) Zeitachse betrachtet und dargestellt, er wird nicht in seiner zeitlichen Dimension aufgefasst; sein zeitliches Verhältnis zu anderen Prozessen oder zum Erzählzeitpunkt ist irrelevant.
  • Der Prozess wird "an und für sich" betrachtet, in seiner qualitativen Dimension, d. h. als Schilderung einer "Handlung(sweise)", eines Zustands, eines Verhaltens, insofern, als diese zur genaueren Charakterisierung einer Situation oder Figur beitragen können.

(1) Les deux cavaliers arrivèrent en peu de temps à une habitation située dans la partie du bourg qui regardait les montagnes de la Grande-Chartreuse. A la porte de cette maison [...], ils aperçurent un cercueil couvert d'un drap noir, posé sur deux chaises au milieu de quatre cierges. [...] Chaque passant entrait dans la cour, venait s'agenouiller devant le corps, disait un Pater, et jetait quelques gouttes d'eau bénite sur la bière. (Balzac, Le Médecin de campagne, II)

(2) Au dix-neuvième siècle, les femmes participaient largement au travail de la vigne, mais restaient dans l'ombre de leur mari. Aujourd'hui, de nombreuses exploitations sont gérées par des couples.
- Im 19. Jahrhundert arbeiteten die Frauen tatkräftig im Weinbau mit, standen aber im Schatten ihrer Ehemänner. Heutzutage werden zahlreiche Weingüter von Ehepaaren geführt.

Beispiel (1) zeigt, wie die Unterbrechung einer PS-Kette mit einer "Pause" in der Darstellung einer Ereigniskette einhergeht. Zwar bilden die Prozesse entrer dans la cour - s'agenouiller - dire un Pater - jeter de l'eau bénite eine eigene Handlungskette; da diese Prozesskette keine Fortsetzung der Haupterzählung arriver - apercevoir darstellt, kann sie aber nicht wie diese im PS stehen. Mit diesen Prozessen wird die Situation charakterisiert, wie sie die Protagonisten bei ihrer Ankunft vorfinden; es werden Begleitumstände der Haupterzählung dargestellt, die die Szene "sichtbar" machen sollen bzw. die die Szene vergegenwärtigen.

Will ein Sprecher vergangene Prozesse wiedergeben, ohne sie auf einer Zeitachse genau zu verankern, deren zeitliche Verhältnisse zu bestimmen oder sie als einzelne Etappen einer bestimmten Entwicklung darzustellen, dann wird das IMPFT verwendet. In Beispielen wie (2) geht es darum, die Rolle der Frauen im Weinbau zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten (19. Jahrhundert - heute) gegenüberzustellen; es geht aber nicht darum, die dabei festgestellten Unterschiede als Momente einer "historischen" Entwicklung oder als Schritte in einem Veränderungsprozess darzustellen. Jeder Zeitpunkt wird an und für sich betrachtet, und nicht in zeitlichen Zusammenhang mit dem anderen gebracht; das schließt die Verwendung des PC oder PS aus.

Aus den Beispielen, die in den kontrastiven Abschnitten "Asymmetrien der Zeitformen im Deutschen und im Französischen", "Rolle der französischen passé composé- und passé simple-Formen im Erzählprozess" sowie "Rolle der französischen imparfait-Formen im Erzählprozess" angeführt wurden, wird mehreres ersichtlich:

(a) Die "Etikette", die üblicherweise mit den einzelnen Zeitformen des Französischen verbunden werden, sind irreführend: Es wurde gezeigt, dass PC/PS-Formen nicht zwangsläufig mit "Einmaligkeit" und "Abgeschlossenheit" einhergehen; Beispiel (1) im kontrastiven Abschnitt "Rolle der französischen passé composé- und passé simple-Formen im Erzählprozess" zeigt außerdem, dass der Ausdruck von "Gewohnheit" keinerlei als ein inhärentes Merkmal des (frz.) imparfait (=IMPFT) betrachtet werden darf; dass es auch nicht richtig ist, im Ausdruck von "Dauer" eine grundsätzliche Eigenschaft des IMPFT zu sehen, zeigen Beispiele wie folgende:

(1a) La Guerre de 100 Ans dura 116 ans.
- Der Hundertjährige Krieg dauerte 116 Jahre.


(1b) Il lui a fallu 10 ans avant de réussir à décrocher le poste de ses rêves.
- Es dauerte zehn Jahre, bis er seine Traumstelle endlich bekam.

(b) An all diesen Beispielen wird auch klar, dass die Wahl der Zeitform im Französischen einen wesentlichen Beitrag zur Konstitution der Textbedeutung und somit weitgehend zur Textkohärenz leistet. Mit dem Wechsel der Zeitform ändert sich der erzählerische Status des mit dem betreffenden Verb dargestellten Prozesses; wird die "falsche" Zeitform verwendet, kann der Zusammenhang zwischen den Prozessen nicht richtig rekonstruiert werden, wobei die Textkohärenz verletzt wird.

Im Deutschen ist eine solche Möglichkeit der Diskursgestaltung durch Zeitformenpaare wie PS-IMPFT oder PC-IMPFT nicht gegeben; dabei wird im Deutschen vieles von dem, was im Französischen über solche Zeitformen vermittelt wird, lexikalisch geleistet:

(2a) Quand sa femme rentra, il servit le champagne aux invités.
- Als seine Frau nach Hause kam, schenkte er den Gästen Champagner ein.


(2b) Quand sa femme rentrait, il servait le champagne aux invités.
- Wenn seine Frau nach Hause kam, schenkte er den Gästen Champagner ein.


(2c) Quand sa femme rentra, il servait le champagne aux invités.
- Als seine Frau nach Hause kam, schenkte er den Gästen gerade Champagner ein / war er gerade dabei, den Gästen Champagner einzuschenken.


(3a) Quand Léonidas apprit que l'armée Perse allait encercler ses troupes, il sut que tout était fini.
- Als Leonidas erfuhr, dass das persische Reichsheer seine Truppen einkesseln würde, wurde ihm klar, dass alles vorbei war.


(3b) Les trois agresseurs se tenaient à présent à côté de lui. Il savait que tout était fini.
- Die drei Angreifer standen jetzt neben ihm. Ihm war klar, dass alles vorbei war.

Bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Zeitformen und deren Zusammenspiel im Deutschen und im Französischen können dennoch bestimmte Ähnlichkeiten festgestellt werden. So kennzeichnen sich sowohl das deutsche Perfekt als auch das französische passé composé durch ihre Sprecherbezogenheit, die aus der Verwendung des Hilfsverbs im Präsenz/présent resultiert und das Perfekt und das passé composé vom Präteritum bzw. dem passé simple unterscheidet. Auf diese gemeinsame Sprecherbezogenheit sind Ähnlichkeiten im Gebrauch dieser Formen zurückzuführen: So werden zur Wiedergabe vergangener Ereignisse sowohl das Perfekt als auch das passé composé in Textsorten oder Kommunikationssituationen verwendet, in denen die Sprache der Nähe (im Sinne von Koch/Österreicher) bevorzugt wird, so z. B. in der mündlichen Kommunikation oder in bestimmten journalistischen Textsorten (wie z. B. in narrativen Artikeln in der Rubrik "Vermischtes").
Hier hören die Ähnlichkeiten allerdings auf. Denn die dem passé composé und Perfekt gemeinsame Sprecherbezogenheit wird im Französischen und im Deutschen anders genutzt.
So schlägt z. B. das Perfekt aufgrund seiner Sprecherbezogenheit sozusagen eine "Brücke" zwischen der Redesituation und dem Erzählten, in narrativen journalistischen Texten wird es oft zum "Einstieg" in den Text oder in eine neue Textsequenz verwendet; danach wird im Präteritum weitererzählt:

(1) Der erste Tote an der diesjährigen Wiesn ist traurige Tatsache. Ein 72-jähriger Mann ist schwerstbetrunken gestürzt und hat sich eine Platzwunde am Kopf zugezogen. Die Sanitäter versorgten den Mann und wollten ihn sogleich ins Spital zur Behandlung einweisen. Der Mann wehrte sich aber und folgte den Anweisungen nur widerwillig. Erst eine Polizeistreife konnte den Rentner schließlich überreden, sich behandeln zu lassen. Im Spital angekommen, erlitt er einen Herzstillstand und starb wenig später. (20 Minuten online, 21.09.2010)

Dem deutschen Perfekt kommt also eine textstrukturierende Funktion zu. Im Französischen dagegen wird mit der Wahl zwischen passé composé und passé simple eine grundsätzliche Entscheidung getroffen, wie eine zusammenhängende Ereigniskette dargestellt wird, es werden Anweisungen an den Rezipienten gegeben, ob bei der Verarbeitung und mentalen Verortung der Informationen ein Bezug zwischen dieser Ereigniskette als Ganzes und dem Origo der Interaktanten herzustellen ist oder nicht, unabhängig davon, ob ein solcher Bezug de facto gegeben ist. Daraus folgt, dass der Wechsel von passé composé zu passé simple oder umgekehrt bei der sprachlichen Wiedergabe einer zusammenhängenden Ereigniskette unnatürlich und meistens sogar problematisch ist.

Mit solch skizzenhaften Versuchen des Vergleichs ist die Komplexität der Zeitsysteme im Deutschen und im Französischen natürlich nicht erfasst. Es ging nur darum zu zeigen, dass die kontrastive Behandlung von Zeitformen insofern schwierig ist, als dem Gebrauch der einen oder anderen Form in beiden Systemen zum Teil völlig unterschiedliche Prinzipien zugrunde liegen, so dass keine 1:1-Entsprechung, und somit keine direkte "Übersetzbarkeit" gegeben ist.

Präsensperfekt eignet sich auch dazu, Vorzeitigkeit zum Ausdruck zu bringen; vor allem kann durch Präsensperfekt Vorzeitigkeit zu im Präsens berichteten Ereignissen dargestellt werden:

Ein junger Mann, den ich zuerst für einen Zuhälter halte, besteht darauf, meinen Whisky zu zahlen, weil er Vater geworden ist: "for the first time!" [Frisch 1966, 217]

Ich habe in den Ausführungen von Herrn Strasser wesentlich dies bemerkt, dass man eine kleine philologische Veränderung vorgenommen hat, nämlich dass man nicht mehr von der "Brechung der Zinsknechtschaft" redet, weil das eine durch die Abgedroschenheit und Inhaltslosigkeit fragwürdige Formel geworden ist, sondern dass man sie ersetzt hat durch das schöne Wort der "produktiven Kreditschöpfung". [Heuss 1964, 428]

Auch hier ist es nicht nötig, die Beispiele weiter zu häufen, nachdem die zur Rede stehende Erscheinung deutlich geworden ist. [Bollnow 1962, 167]

Heute führt [Frischknecht] mit seiner langjährigen Freundin den Hockeyshop in der Eishalle Lerchenfeld und lehrt Kinder den Sport in einer Hockeyschule, die er mit gegründet hat. [St. Galler Tagblatt, 09.01.2010, S. 38]

In vielen Fällen markiert die Verwendung des Präsensperfekts im Kontext von im Präteritum dargestellten Ereignissen Sachverhalte, die als Ergebnis einer Zustandsänderung auch für die Sprechzeit noch relevant sind:

Wie verwirrt Ida Ott durch die fünfjährige Not geworden ist, bewies eine Szene vor Gericht: vor dem Urteilsspruch wurde die alte Frau von ihrer Peinigerin umarmt. [Bild, 15.3.1967, 8]

Ich hörte, dass meine Mutter aufschrie, dann seufzte sie auf eine Weise, die mir deutlich machte, wie alt sie geworden ist. [Böll 1963, 39]

Präteritum/Präsensperfekt mit Temporaladverbialia

Äußerungen mit Präteritum in Kombination mit Temporaladverbialia sind eindeutig zu verstehen, da sich das Temporaladverbiale nur auf die Betrachtzeit des Präteritums beziehen kann:

Damals eroberte Napoleon halb Europa.

Dieser Satz hat immer nur die eine Lesart, in der sich damals auf die Betrachtzeit bezieht, wohingegen

Damals hat Napoleon halb Europa erobert.

je nach Kontext zwei Lesarten hat:

  • Die Lesart, in der sich das Temporaladverb auf die Betrachtzeit des Infinitiv Perfekt bezieht, besagt, dass Napoleon zu der mit damals bezeichneten Zeit, die in unserer Vergangenheit liegt, halb Europa erobert
  • Die Lesart, in der sich damals auf das Obertempus Präsens bezieht, besagt, dass Napoleon zu der mit damals bezeichneten Zeit, deren Lage zu unserer Gegenwart im Prinzip irrelevant ist, bereits halb Europa erobert hat

In der ersten Lesart könnte man damals auf das gesamte Intervall zwischen 1796 und 1812 beziehen, in der zweiten nur auf einen Zeitpunkt, etwa um 1812.
Viele Verben im Präsensperfekt lassen a priori beide Interpretationen zu. Die Desambiguierung erfolgt im Kontext. Ausnahmen bilden dabei Verben, die 'punktuelle' Prozesse beschreiben, d. h. Prozesse, deren Dauer so kurz ist, dass sie als punktuell empfunden werden.

Gestern habe ich meinen PC runtergefahren und auf einmal hat es richtig geknallt.

Weiteres Beispiel für Temporaladverbialia, die mit Bezug auf die Betrachtzeit des Obertempus Präsens – also als sprechzeitrelativ – interpretiert werden können:

Wie es gegen sieben hell geworden ist, schließt es sich einer großen Gnuherde an. [Grzimek, B. & Grzimek, M. 1967, 202]

Weiteres Beispiel für Temporaladverbialia, deren Deutung mit Bezug auf den Infinitiv Perfekt erfolgt; sie sind dann nicht sprechzeitrelativ:

In einer Volksabstimmung am 13. und 14. Juni 2003 hat sich eine deutliche Mehrheit der Tschechen für den EU-Beitritt ausgesprochen.

Sätze im Präsensperfekt mit einem Temporaladverbiale, das sich auf die Betrachtzeit des Infinitiv-Perfekt-Satzrestes bezieht, sind mit entsprechenden Präteritumsätzen fast bedeutungsgleich:

  1. Gestern ist Helmut ins Kino gegangen.
  2. Gestern ging Helmut ins Kino.

In der Interpretation des zweiten Satzes (b) muss die Betrachtzeit gemäß der Festlegung für das Präteritum vor der Sprechzeit liegen und ist außerdem durch gestern spezifiziert.

Im ersten Satz (a) ist die Betrachtzeit für das Obertempus – das Präsens – nicht ausdrücklich spezifiziert, weshalb sie nach den Interpretationsregeln für das Präsens mit der Sprechzeit gleichgesetzt werden kann. Die Betrachtzeit für den Satzrest liegt nach den Interpretationsregeln für den Infinitiv-Perfekt vor seiner Orientierungszeit, die wiederum mit der Betrachtzeit des Obertempus identisch und hier gleich der Sprechzeit ist. Zusätzlich wird sie – die Betrachtzeit des Infinitiv-Perfekt-Satzrestes – durch gestern spezifiziert.

Der Unterschied zwischen beiden Sätzen liegt also lediglich darin, dass im zweiten Satz die Betrachtzeit, auf die sich das Temporaladverb bezieht, in einem Interpretationsschritt erreicht wird, im zweiten Satz hingegen in zwei Schritten. Dies ist jedoch in vielen Kontexten irrelevant.

Das Präsensperfekt erlaubt, zwei Temporaladverbialia in einem Satz zu haben, von denen sich eines auf das Obertempus, das zweite auf den Infinitiv-Perfekt-Satzrest bezieht. Diese Möglichkeit, die selten genutzt wird, zeigt das folgende Beispiel:

Ich muss Ihrer Auffassung widersprechen, dass heute kein noch aktiver Journalist Konrad Adenauer früher kennengelernt hat als Sie. [Spiegel, 3/1985, 8, Leserbrief]

Zu der Zeit, als der Leserbrief geschrieben wurde, lebte Konrad Adenauer bekanntermaßen nicht mehr. Der Satz muss deshalb so interpretiert werden, dass sich heute auf das Obertempus bezieht, früher als Sie auf den Infinitiv-Perfekt-Satzrest. Dieser Satz ist im Grunde eine Verkürzung der folgenden Struktur:

Ich muss Ihrer Auffassung widersprechen, dass es heute keinen noch aktiven Journalisten gibt/gäbe, der KA früher kennengelernt hat als Sie.

Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen den beiden Tempora besteht darin, dass in Präsensperfektsätzen zukunftsbezogene Temporaladverbialia auftreten können:

Morgen Mittag habe ich das gemacht.

ist ein möglicher, sogar gängiger Satz des Deutschen. Das komplexe Temporaladverbiale morgen Mittag muss hier in Bezug auf die Betrachtzeit des Obertempus gedeutet werden, da nur diese Interpretation nicht widersprüchlich ist. Dagegen ist ein entsprechender Präteritumsatz in der Regel nicht möglich:

*Morgen Mittag machte ich das.

Die Betrachtzeit für das Präteritum muss vor der Sprechzeit liegen, woraus sich ein Widerspruch mit der Interpretation von morgen ergäbe.

Sonderfälle sind die erlebte Rede (bzw. "innerer Monolog"), wie z. B.:

Morgen war Weihnachten: Hatte er eigentlich schon alle Geschenke besorgt?

oder konventionalisierte Verwendungen wie in:

Was gab es morgen im Theater?

Weitere Unterscheidungskriterien

Bei der Unterscheidung von Präteritum und Präsensperfekt müssen noch weitere Überlegungen, z. B. hinsichtlich regionaler Varianten, textsortenspezifischer Verwendung, Register/Stil und phonetischer Kriterien beachtet werden:

Die Verwendung von Präteritum oder Präsensperfekt ist oftmals textsortenabhängig. In Erzählungen z. B. herrscht das Präteritum vor (vgl. Weinrich 2001 und 2007). In verschiedenen Zeitungssorten (Schlagzeilen, Sensationsmeldungen) wird ebenfalls das Präteritum bevorzugt. Das Präsensperfekt dagegen dominiert in den Printmedien z. B. in Kurzmeldungen (Latzel 1975). Dies hängt sicher mit der Aktualität des Inhalts, die mit der Sprechzeit zusammenfällt, aber auch mit der Nähe zum Leser zusammen, dem etwas mitgeteilt werden soll. (vgl. Weinrich).

Alle bisher genannten Unterscheidungskriterien sind für den süddeutschen Sprecher bezüglich seiner gesprochenen Sprache nicht relevant. Seit dem 16./17. Jahrhundert ist im Oberdeutschen der sog. Präteritumsschwund belegt.
Der Präteritumsschwund ist in einigen Regionen Süddeutschlands in der gesprochenen Sprache absolut, in der geschriebenen Sprache teilweise ausgeprägt.
An Stelle des Präteritums tritt das Präsensperfekt als einzige Vergangenheitsform. Aspektuelle Unterschiede (Perfektivität und Imperfektivität) werden dann mit Hilfe lexikalischer Mittel ausgedrückt.
Im folgenden Beispielsatz wird z. B. durch die Fokuspartikel gerade klar, dass Rosetta ihr Schnitzelessen noch nicht beendet hatte, als die Nachricht gesendet wurde.

Rosetta hat gerade ihr Schnitzel gegessen, als die Meldung im Radio kam.

Aufgrund des nicht vorhandenen Präteritums wird in logischer Folge das Präteritumperfekt durch eine "superkomponierte" Form ersetzt, da auch das im Präteritum stehende Hilfsverb des Präteritumperfekts durch die periphrastische Form des Präsensperfekts ausgetauscht wird (diese Konstruktion wird auch Doppelumschreibung oder superkomponierte Form genannt):

Ich habe gegessen gehabt.
für:
Ich hatte gegessen.

Regional übergreifend ist in der gesprochenen Sprache eher das Präsensperfekt, in der geschriebenen Sprache das Präteritum das vorherrschende Tempus. Ähnlich verhält es sich mit der Umgangssprache versus der Hochsprache. Während in der Umgangssprache eher das Präsensperfekt verwendet wird, wird in der geschriebenen Hochsprache eher das Präteritum gebraucht. Darüber hinaus bestimmen verschiedene sprachliche Register die Tempusverwendung: In formellen Kommunikationssituationen wird z. B. der Anteil der Sätze im Präteritum höher sein als in informellen Gesprächssituationen, in denen der Bezug zum Sprecher bzw. zur Sprecheraktualität besonders in den Blick rückt.

PräsensperfektPräteritum
in der gesprochenen Sprachein der geschriebenen Sprache
im Oberdeutschenim Niederdeutschen
in der Umgangssprachein der Hochsprache
in informellen Gesprächssituationenin formellen Gesprächssituationen

Freilich drücken diese Polarisierungen nur Tendenzen aus, eine absolute Gültigkeit beanspruchen sie nicht.

Phonetische Gründe sind verantwortlich für die Vermeidung von Präteritumformen einiger Verben in der 2. Person Singular und Plural. Die Ausspracheschwierigkeiten führen dazu, dass Präsensperfektformen bevorzugt werden:

rasten

du rastetest vs. du hast gerastet
ihr rastetet vs. arbeiten

ihr habt gerastet

du arbeitetest vs. du hast gearbeitet
ihr arbeitetet vs. ihr habt gearbeitet

Verwendungsunsicherheit besteht bei heute ungewöhnlich gewordenen Formen starker Verben, welche sich teilweise im Übergang zu schwachen Verben befinden. Die Präteritumsform wird vermieden bzw. umgangen:

backen

Karlo buk/backte einen Kuchen. vs. Karlo hat einen Kuchen gebacken.

Übung: Präsensperfekt

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