Das Prasens

(frz. present)

Prasens liegt z. B. in folgenden Satzen vor:

Das ist eine Marotte von mir. Ich rauche Zigarillos und immer funf pro Tag, aber das ist nur der Durchschnitt. [Roman Herzog, am 22.1.1994 in SDR3: Leute]

Vom Knall geweckt rumpft nur der Hase, zwei, drei, vier Mal die Schnuppernase ... [Loriot, Advent]

Wir reden immer von der Kritik, oder wir reden nur von den Leuten, die meinen, die Kritik bestimmen zu konnen. [Gunter Grass, Oktober 1995 in SDR3: Leute]

... So a Antwort bekommen Sie von einem Politiker nur, wenn sie falsch ist. [Manfred Rommel, 1996 in SDR3: Leute] (mit schwabischer Aussprache)

Das Prasens ist das prototypische Tempus des Gegenwartsbezugs. Anders als die Bezeichnung 'Prasens' aber vermuten lassen konnte, ist der Gebrauch dieses Tempus nicht auf das Reden uber ein Geschehen in der gegenwartigen Sprechzeit festgelegt. Beim Prasens ist die Lage der Betrachtzeit relativ zur Sprechzeit offen:

speed80

Nicht gegenwartsbezogene Verwendungsweisen

Mit dem Tempus Prasens werden nicht nur Vorgange und Ereignisse bezeichnet, die in der Gegenwart stattfinden. Es gibt neben dem gegenwartsbezogenen Prasens noch weitere Bezuge mit Betrachtzeiten, die kontextbedingt als nicht-gegenwartig festgelegt sind. Dies kann fur stilistische Effekte genutzt werden. Die Betrachtzeit kann durch Temporaladverbialia (z. B. heute, im letzten Monat, demnachst) im Satz selbst festgelegt oder durch zeitgebunden zu interpretierende Nominalphrasen (der derzeitige Titeltrager, Napoleon der Dritte) im Satz erschlie?bar sein:

Gestern sitze ich mit Charly im alten Rathaus und wer kommt herein: der Oskar Lafontaine!

Der VfB spielt in der nachsten Saison immer am Samstag.

Im ersten Beispiel steht die Prasensform sitze in Konkurrenz zu der in ahnlich gelagerten Kontexten ublicheren Prateritumform sa? (im suddeutschen Raum zur Prasensperfektform bin gesessen). Die Verwendung der Prasensform dient hier dazu, eine spezielle stilistische Wirkung, eine Vergegenwartigung, zu erzielen. Das zweite Beispiel verdient besondere Beachtung, denn, anders als die traditionelle Bezeichnung suggeriert, wird im Deutschen meist Prasens und nicht etwa das Futur verwendet, wenn von Zukunftigem die Rede ist. Es handelt sich dann um eine Verwendung als 'futurisches' Prasens.

Wo die Kontextunterstutzung fehlt und auch Weltwissen nicht weiterhilft, wird zum Futur gegriffen, um von Zukunftigem zu sprechen:

Wir werden ein Haus am Meer haben und ein eigenes Segelboot.

Stellt man diese Ankundigung in einen Kontext, in dem vorab klar ist, dass von Erwartetem die Rede ist, konnte ohne weiteres die Prasensform gewahlt werden.

Du wirst sehen, in ein paar Jahren geht es uns wieder besser: Wir haben (dann) ein Haus am Meer und ein eigenes Segelboot.

Auch Au?erungen, in denen die Betrachtzeit nicht durch grammatische und/oder lexikalische Mittel explizit gemacht wird, lassen sich also dennoch zeitlich korrekt einordnen.

Das weitgehende Fehlen einer Festlegung der Betrachtzeit beim Prasens und die damit verbundene Flexibilitat machen das Prasens zum idealen Tempus fur zeitunabhangige Aussagen:

Wissenschaft ist im eigentlichen Sinne Mu?e [...] [Heimpel 1960, 78]

sowie fur Aussagen, die relativ zu im Kontext bestimmten Zeitintervallen zutreffen:

Aber am Schluss ist mir nur wichtig, dass wir am 27. September bei den ausgezahlten Stimmen die Mehrheit haben. [Wolfgang Schauble, 1998 in SWR1: Leute]

Es kann sich um die Sprech- oder Kommunikationszeit handeln, aber auch um ein Intervall in Zukunft oder Vergangenheit. Der Sprecher/Schreiber hat dabei Sorge zu tragen, dass die Betrachtzeit durch sprachliche Ausdrucke wie z. B. Temporaladverbialia ? auch im weiteren Kontext ? spezifiziert ist oder anhand pragmatischer Prinzipien erschlie?bar ist.

Ein zeitloses Prasens wird z. B. in Sprichwortern, allgemeingultigen Aussagen, topischen Formen und Gesetzestexten verwendet und hat immerwahrende Gultigkeit:

Die Axt im Hause ersetzt den Zimmermann.

Man unterscheidet beim Prasens gern zwischen einem "echten" Prasens, das einen Sachverhalt (Handlung, Vorgang, Zustand) als gegenwartig, d. h. gleichzeitig zum Sprechzeitpunkt stattfindend einordnet, und einem "markierten" oder "zeitlosen" Prasens, das einen Sachverhalt als allgemeingultig, immerwahrend, oder atemporal charakterisiert. Dabei scheint es sich um eine Universalie zu handeln. Signifikate von Tempora sind als Relationen zwischen Punkten abstrakt fassbar. Parameter wie Dauer oder Wiederholbarkeit konnen sie aber nicht mitformulieren. Diese gehen aus der Verbbedeutung oder aus Kontextinformationen, Zeitadverbien usw. hervor. Satze wie Die Kinder spielen im Garten bleiben ohne Kontexthinweise temporal mehrdeutig (jetzt gerade? oft? immer?), erfullen aber eine Bedingung: Sie gelten in jedem Fall auch fur den Sprechzeitpunkt.
Unter Einbeziehung aller Pramissen ergibt sich folgender logischer Grundsatz:

Ein Sachverhalt wird immer dann im Prasens formuliert, wenn er unter anderem auch fur den Sprechzeitpunkt gultig ist.

Diese Definition schlie?t den Fall der Allgemeingultigkeit ein, namlich, dass etwas nach menschlichem Ermessen immer, allgemein, also auch wahrend des Sprechzeitpunkts, gultig ist oder als solches ausgegeben wird:

Drei mal drei ist neun. ? Trois fois trois font neuf.
Der Wal ist ein Saugetier. ? La baleine est un mammifere.
Kinder mogen Su?igkeiten. ? Un enfant ca aime les bonbons.

Wurde man solche Satze in einem anderen Tempus, z. B. im Prateritum formulieren, ergabe sich eine Aussage, die entweder als absurd empfunden wurde oder sich auf eine fiktive, hypothetische oder versunkene Welt bezoge. Es ergaben sich auch Nebeneffekte, die aus dem Tempusbereich herausfuhren. So kann der Satz:

Der Wal wird ein Saugetier sein.

in unserer Realwelt nur eine modale, nicht aber eine futurische Bedeutung haben:

La baleine doit etre un mammifere.

Bei der Verwendung von Satzen im Prasens, bei denen die Betrachtzeit vor der Sprechzeit liegt, wird vor allem in mundlicher Rede durch die 'szenisches' Prasens genannte Verwendung ein stilistischer Effekt der Vergegenwartigung erzielt, insbesondere, wenn solche Satze in Erzahlsequenzen auftreten, die Vergangenheitstempora gebrauchen:

Karl kam beim Fest mit der Flasche ins Zimmer, Pauline dreht sich um, und die Flasche fliegt in hohem Bogen auf den Boden.

Das wei? ich noch, und zwar just, als ich's erste Mal lief, da spielte Bayern bei Ajax Amsterdam, und es lauft die Halbzeit, und die wurde verkurzt von irgendeinem wildgewordenen Uefa-Funktionar, der, nach dreizehn Minuten schickt er die Mannschaften raus, und ich frag noch so uber, uber unsere Regie: "Sag mal, Leute, wie lang lauft die Werbung noch?" ? Ja noch ? fff ? drei Minuten. ? Sag ich: "Das kann ich mir aber nicht vorstellen, weil die Herrschaften kommen gerade auf den Platz." ? Ja, is aber so. ? Um's kurz zu machen: Normal sagt man dann immer beim Zuruckkommen: "Und es ist 20, 30 Sekunden gespielt. Sie haben nichts verpasst." Was passierte dort? Litmanen ? ich seh die Szene vor mir, die werd ich in hundert Jahren nicht vergessen ? es lauft als letzte Werbung, und zwar zum ersten Mal, die Bitburger-Geschichte mit mir. Ich seh mich da. Litmanen holt aus und versenkt das Ding. [Marcel Reif in SDR3: Leute, Best of Leute 1997]

Eines Morgens hatte ich nach meiner Gewohnheit das Holz durchstrichen, die Fahrte eines Hirsches zu verfolgen. Zwei Stunden hatte ich mich vergeblich ermudet, und schon fing ich an, meine Beute verloren zu geben, als ich sie auf einmal in schussgerechter Entfernung entdeckte. Ich will anschlagen und abdrucken ? aber plotzlich erschreckt mich der Anblick eines Hutes, der wenige Schritte vor mir auf der Erde liegt. [Friedrich Schiller (1786), Der Verbrecher aus verlorener Ehre. E-Text]

Fast schon konventionalisiert ist auch die Verwendung des vergangenheitsbezogenen Prasens in historischen Texten ('historisches' Prasens), bei denen Datumsangaben die Bestimmung der Betrachtzeit erleichtern:

1918 beendet Ludwig Wittgenstein seinen Tractatus Logico-Philosophicus.

Zweiter Oktober 1989, 20.000 Menschen demonstrieren in Leipzig. Am zweiten Oktober ist die Nikolai-Kirche schon um 17 Uhr vollig uberfullt. Vor der Kirche drangen sich noch einmal mehrere tausend Menschen.
[Susanne Henn in der Sendung 40 Tage im Herbst, SWR 1, 1999]

Wie im Deutschen kann im Franzosischen das Prasens in bestimmten narrativen Textsorten (Berichte, Biographien, Protokolle, mundliche Erzahlungen, Witze etc.) verwendet werden. Diese textsortenspezifische Verwendungsweise des Prasens fungiert als ein Mittel der Vergegenwartigung, um beim Rezipienten unter anderem den Eindruck unmittelbarer Nahe zu erwecken. Dabei wird die Bestimmung der vergangenheitsbezogenen Betrachtzeit haufig durch Temporaladverbialia ausgedruckt; es kann sich z. B. um eine zeitlich prazise abgegrenzte Zeitspanne in der Vergangenheit oder um eine genaue Datumsangabe handeln:

(1) Entre 1784 et 1786, Mozart compose en moyenne une oeuvre tous les quinze jours. [...] Le 18 novembre 1791, Mozart tombe gravement malade. ("La fin d'une vie", wa-mozart.net)

Zwischen 1784 und 1786 komponiert Mozart durchschnittlich alle vierzehn Tage ein neues Werk. [...] Am 18. November 1791 erkrankt Mozart schwer.

(2) Le 12 octobre 1492 Christophe Colomb accoste aux Bahamas, archipel qu'il prend pour les iles japonaises. ("Colomb n'a jamais su qu'il avait aborde un Nouveau Monde", linternaute.com)

Am 12. Oktober 1492 legt Columbus auf den Bahamas, einer Inselgruppe, an, die er fur die japanischen Inseln halt.

(3) Dans la soiree du 9 novembre 1989, des milliers de Berlinois, de l'Est comme de l'Ouest, affluent vers les postes-frontieres du Mur qui coupe la ville en deux. Beaucoup de jeunes participent a cet elan de liberte apres 28 ans de separation. ("20eme anniversaire de la Chute du Mur de Berlin", www.leparisien.fr)

Am Abend des 9. November 1989 drangen Tausende West- und Ostberliner zu den Grenzposten an der Mauer, die die Stadt teilt. An diesem freiheitlichen Aufschwung nach 28 Jahren Teilung beteiligen sich viele Jugendliche.

(4) Au cours d'une croisiere, une tempete fait rage. Sur le pont du bateau un marin s'approche d'une passagere accoudee au bastingage et lui dit:
- Vous ne devriez pas rester la, Madame, une vague pourrait vous emporter...
Un homme qui se trouve a cote se retourne alors et apostrophe vertement le marin:
- Dites donc, occupez-vous de vos affaires, c'est ma belle-mere, pas la votre!


Wahrend einer Kreuzfahrt zieht Sturm auf. Auf dem Deck des Schiffes lehnt eine Dame an der Reling. Ein Matrose tritt an sie heran und warnt sie:
"Sie sollten hier nicht stehen bleiben, Madame, Sie konnten von einer Welle erfasst werden und uber Bord gehen."
Da dreht sich ein Mann um, der sich auch gerade dort aufhalt, und schnauzt den Matrosen an:
"Horen Sie mal, kummern Sie sich um Ihren eigenen Kram. Das ist meine Schwiegermutter, nicht Ihre."

Im Zusammenhang mit dem 'historischen Prasens' stehen auch entsprechende Verwendungsweisen des Futurs und des Futurperfekts.

Aufgabe zum Tempus Prasens

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