Imperativparadigma und Aufforderungsformen

Der Imperativ gehört, wie manches in der Grammatik, das mit traditionellen Termini bezeichnet wird, zu den Kategorien, die bei klassisch Gebildeten Missverständnisse geradezu provozieren. Als Verbmodus ist der Imperativ eine formale Erscheinung, die bei Weitem nicht alles einschließt, was zum Ausdruck von Aufforderungen, Anweisungen oder Befehlen genutzt werden kann. So sind etwa Formen wie Reden Sie!, Warten'S! oder Lassen wir das! nicht dem Paradigma der Imperativformen zuzurechnen, sondern zwei davon abzugrenzenden Formen: der Distanz- und der Adhortativform.


DistanzformReden Sie!
AdhortativformLassen wir das!


Beispiele für die Distanzform

Reden Sie die fade Partie nicht schön!
(Peter Fricke 1997 in: Die Schwabensaga, 2.Staffel)

Die Amerikaner bringen jetzt schon was her, warten'S nur!
(Liesl Karlstadt 1946 im Bayerischen Rundfunk)

Beispiele für die Adhortativform

Lassen wir das, erzählt mir weiter von dem Baumeister.
(Arnim 1817: Die Kronenwächter, 600. In: www.zeno.org)

Machen wir den ersten Schritt. Gehen wir aufeinander zu und bringen wir unseren Nachbarn und Mitmenschen Verständnis und Akzeptanz entgegen. Reden wir mit ihnen und unterstützen wir sie.
(St. Galler Tagblatt 5.1.2010, 34)


Distanz- und Adhortativform sind nicht als Realisierungen des Verbmodus Imperativ aufzufassen, denn dagegen spricht:

1. der syntaktische Status der Formen
2. die Markiertheit der zugehörigen Verbformen in der Dimension Person

1. Syntaktischer Status der Formen

Distanz- und Adhortativform sind nicht im morphologischen Sinne Formen. Es handelt sich vielmehr um syntaktische Verbindungen aus einer Verbform und einem persondeiktischen Ausdruck. Die Distanzform besteht aus dem Hörer-Pronomen der distanzierten Anrede Sie und einer Verbform; die Adhortativform besteht aus dem pluralischen Sprecher-Pronomen wir und einer Verbform.

Eine literarische Nebenform

Als rein literarische Nebenform muss ein 'Adhortativ Singular' betrachtet werden. Er spezifiziert eine Aufforderung, die der Sprecher an sich selbst richtet:

Gesteh ich's nur! daß ich hinausspaziere, verbietet mir ein kleines Hindernis.
(Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 3, Hamburg 1948 ff, S. 42-52. In: www.zeno.org)

Die Distanzform ist nicht an einen bestimmten Satzmodus gebunden. In entsprechend ausgelegten topologischen und intonatorischen Umgebungen können Distanzformen in allen Satzmodi auftreten. Zu einem grammatischen 'Problem' werden Distanzformen jedoch vor allem im Aufforderungsmodus, weil dieser typischerweise keine Realisierung des Subjekts verlangt.

Die Adhortativform ist auf den Aufforderungsmodus festgelegt, und deshalb gilt für Adhortativformen eine feste Reihenfolgebeziehung zwischen Verb und Sprecher-Pronomen sowie die Vorgabe für eine bestimmte Intonationsstruktur des gesamten Satzes.

gehen wir:
Verb [+V-1] vor Sprecher-Deixis im Mittelfeld + fallendes Grenztonmuster

In anderer Reihenfolge und mit anderem Grenztonmuster liegt keine Adhortativform vor.

wir gehen:
1. Person Plural im Aussage-Modus
gehen wir ↑:
1. Person Plural im Frage-Modus

Bei der Distanzform der Aufforderung und der Adhortativform folgen Verbform und deiktischer Ausdruck in der Regel unmittelbar aufeinander. Treten andere Stellungsglieder dazwischen, so muss Sie oder wir einen Gewichtungsakzent tragen. Häufig sind - was diesem Akzentmuster entspricht - die dazwischengeschobenen Ausdrücke Gradpartikeln oder Kombinationen mit Gradpartikeln.

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Anders als Adhortativ- und Distanzform sind die Elemente des Verbparadigmas im morphologischen Sinn Verbformen: Zwar entscheidet oft nur die syntaktische Umgebung darüber, welche von verschiedenen homonymen Formen vorliegt, so ist lache zu analysieren als 1. Person Singular Präsens oder als Imperativ Singular. Aber nicht erst die syntaktische Verbindung konstituiert die Form.

2. Markiertheit der zugehörigen Verbformen in der Dimension Person

Das zweite Kriterium bezieht sich spezifisch auf das Imperativparadigma. Für die Imperativformen ist festzustellen, dass sie keine Kategorien gemäß der Kategorisierung 'Person' aufweisen. Hier sind zwei Fälle zu unterscheiden, der zentrale Fall a und der eher periphere Fall b:

  1. Der semantisch obligatorische Adressatenbezug wird in der Regel nicht explizit gemacht. Hörer-Pronomina werden nur fakultativ und unter speziellen Bedingungen (Kontrastierung oder Fokussierung) gesetzt.
  2. Der Adressatenbezug kann auch über Ausdrücke wie einer,alle, jeder hergestellt bzw. präzisiert werden. Diese Ausdrücke fordern in den Vollmodi als Subjektsausdrücke eine korrespondierende Flexionsendung des Verbs (3. Person Singular oder Plural). Mit den in der Dimension 'Person' nicht markierten Imperativformen sind sie dennoch kombinierbar, lediglich gesteuert über die Singular-Plural-Differenz:
Komm einer her und hilf mir!
Gib mir mal jemand Feuer!
Geh doch mal wer an die Tafel!
Kommt doch alle beide her!

Hier wird aus einer bereits bestimmten Adressatengruppe eine beliebige Person (Imperativ Singular: einer, jemand, wer) herausgegriffen bzw. auf die Vollständigkeit der Adressatengruppe abgehoben (Imperativ Plural: beide, alle ). Auch keiner oder niemand können im Kontext des Imperativ Singular verwendet werden.

Ursprünglich handelt es sich um Konjunktiv-Präsens-Formen im Heische-Modus. Die Konjunktivformen (etwa gebe statt gib) sind in der Umgangssprache ungebräuchlich bzw. wie bei komm, geh durch Elision von [ə] in gesprochener Sprache nicht mehr von Imperativformen unterscheidbar.

Die Distanzform der Aufforderung und die Adhortativform sind zwar semantisch auf eine bestimmte Adressatengruppe orientiert, syntaktisch aber verhalten sich die jeweiligen Verbformen eindeutig als personmarkierte Formen. Sie fordern obligatorisch einen Subjektsausdruck und verlangen stets Numerus- und Personkongruenz mit dem Subjekt.

Komm einer her!
* Kommen Sie einer her und helfen mir!

Jetzt nimm eine mal das ganze Zeug und leg es auf den Tisch.
* Nehmen wir eine mal das Zeug ...

Die Distanzform beliebiger Satzmodi verhält sich also syntaktisch wie die 3. Person Plural Präsens, die Adhortativform verhält sich wie die 1. Person Plural Präsens.

Bei der Distanzform steht das syntaktische Verhalten im Widerspruch zur semantischen Interpretation, bei der Adhortativform stimmt es mit dieser überein: Die Distanzform ist eine numerusunspezifische adressatenbezogene Form, die den Sprecher aussschließt. Die Adhortativform ist eine numerusspezifische sprechereinschließende Aufforderungsform.

Distanz- und Adhortativform verhalten sich, was die Alternative Indikativ oder Konjunktiv angeht, in der Regel indifferent: Die Modusopposition ist ausdrucksseitig aufgehoben, funktional ergibt sich keine Präferenz für einen der beiden Modi. Bei sein - dem einzigen Verb mit möglicher Modusopposition - kommen beide Realisierungen vor.

Seien Sie so nett!
Sind Sie so nett!


Seien wir ehrlich!
Sind wir ehrlich!
Allgemein kann festgehalten werden: Formen der Aufforderung sind nicht mit Imperativformen gleichzusetzen. Aufforderungsformen sind über ihre kommunikative Funktion bestimmt, Imperativformen durch den Verbmodus Imperativ.


Aufforderungsformen

Imperativformen
sag, sagt
Distanzform
sagen Sie
Adhortativform
sagen wir
Imperativ +--
Subjektkasus obligatorisch-++
Syntax und Semantik parallel+-+


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Autor(en)
Gisela Zifonun, Bruno Strecker
Bearbeiter
Elke Donalies
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