Morphologischer Einfluss
Fehringer (2011: 94) wirft die Frage auf, ob bei komplexen Wörtern nicht viel eher die Morphologie die Wahl des Genitivallomorphs beeinflusst. Zu erwarten wäre, dass der Genitiv bei einem Kompositum wie Heimatort aufgrund grammatischer bzw. phonologischer Faktoren wie nicht (haupt-)betonte Endsilbe oder komplexe phonologische Struktur vorzugsweise mit -s gebildet wird. Fehringers Untersuchung ergab jedoch das Gegenteil. Heimatortes wurde fast 10mal so oft verwendet wie Heimatorts. Die genannten phonologischen Faktoren kommen hier als Erklärung der Tendenz also nicht mehr in Frage. Da auch das monosyllabische Wort Ort im Genitiv am häufigsten mit -es gebildet wird, geht Fehringer davon aus, dass der zweite Teil des Kompositums eine wichtige Rolle spielt. Dasselbe Allomorph, welches von dem jeweiligen Simplex bevorzugt werde, trete auch häufiger an sein Kompositum (Fehringer 2011: 102). Dabei ist diese Tendenz stärker ausgeprägt, wenn das Simplex -s bevorzugt. Monosyllabische Wörter mit Präferenz für -es bilden ihr Kompositum zwar ebenfalls bevorzugt mit demselben Allomorph, jedoch etwas weniger häufig.
Betrachtet man den zweiten Teil der hier verwendeten Komposita und erhebt deren Frequenz im KoGra-DB, so ist das in nachstehender Abbildung dargestellte Ergebnis zu erwarten. Dabei werden nur die Komposita berücksichtigt, deren zweiter Teil ein Simplex ist. Die Kombinationen {Simplex + Kompositum} oder {Derivat + Simplex} werden wegen mangelnder Vergleichsmöglichkeiten vernachlässigt.
Abb.: Morphologischer Einfluss und erwartetes Allomorph gemäß der Annahme Fehringers (2011).
Wie man anhand der Abbildung sehen kann, haben alle Simplizia eine Präferenz für -es. Würde die Morphologie eine entscheidende Rolle spielen, müssten demnach auch alle Komposita (Brautpaar, Rindfleisch, Presseamt, Fundort, Wochenblatt, Werkstoff, Rheinland, Raubtier, Vordermann, Kreuzweg, Menschenraub, Volkswagenwerk) ihren Genitiv mit -es bilden. Mit welcher prozentualen Wahrscheinlichkeit das in den einzelnen Regionen der Fall ist, zeigt die nachstehende Tabelle.
Lemma | Nordost | Südost | Nordwest | Südwest |
Brautpaar | 62% | 89% | 63% | 59% |
Fundort | 69% | 89% | 63% | 76% |
Kreuzweg | 40% | 78% | 72% | 67% |
Menschenraub | 52% | 62% | 50% | 25% |
Presseamt | 74% | 72% | 100% | 76% |
Raubtier | 47% | 41% | 45% | 50% |
Rindfleisch | 51% | 71% | 100% | 59% |
Rheinland | 44% | 90% | 100% | 77% |
Volkswagenwerk | 52% | 0% | 55% | n.A. |
Vordermann | 59% | 75% | 44% | 56% |
Werkstoff | 52% | 78% | 17% | 40% |
Wochenblatt | 63% | 63% | 44% | 44% |
Tab.: Prozentuale Wahrscheinlichkeit für -es bei Komposita.
Wie vorhergesagt werden Brautpaar, Fundort,
Rindfleisch und Presseamt überregional bevorzugt mit
-es gebildet. Demhingegen bildet man den Genitiv von Raubtier
eher mit -s.
Bei Rheinland, Vordermann
und Kreuzweg verhalten sich immerhin noch drei Regionen wie zu erwarten: Während
sich bei Rheinland und Kreuzweg der Nordosten entgegen der
Annahme verhält, entscheidet sich bei Vordermann und Wochenblatt
der Nordwesten häufiger für -s. Bei Wochenblatt und
Werkstoff verhalten sich nur die Ostregionen wie erwartet, während die
Westregionen die kurze Genitivvariante präferieren. Bei Volkswagenwerk scheinen
sich die Nordregionen minimal von morphologischen Kriterien beeinflussen zu lassen.
Aus der Sicht der Regionen ergibt sich, dass sich der Nordosten in neun von zwölf Fällen (75%) wie zu erwarten entscheidet, der Südosten in zehn (83%), der Nordwesten in sechs (50%) und der Südwesten in sieben (58%) Fällen. Die morphologische Voraussage stimmt also im Durchschnitt der Regionenergebnisse zu 67%. Insgesamt betrachtet scheint der Faktor 'Morphologie' also einen Einfluss auf die Wahl des Genitivallomorphs zu haben, jedoch ist dieser Einfluss von Region zu Region unterschiedlich stark ausgeprägt. Insgesamt ist er im Osten stärker als im Westen.
Zum Faktor 'Morphologie' lässt somit sich folgendes Fazit ziehen:
- Das morphologisch vorhersagbare Ergebnis lässt sich meist bestätigen.
- Es gibt jedoch fast immer regionale Ausnahmen, vor allem im Westen.
- Der Faktor 'Morphologie' kann bei der Allomorphwahl ausschlaggebend sein, wobei seine Bedeutung aber regional schwanken kann.