Nachweis oder Nachweisung, Einschnitt oder Einschneidung? — System und Norm in der Wortbildung
Nachweis, Nachweisung, Einschnitt, Einschneidung sind legitime Wortbildungsprodukte - Nachweisung und Einschneidung stören aber zumindest diejenigen, die sich im Deutschen auskennen. Warum eigentlich?
Weil Nachweisung und Einschneidung zwar nach den Regeln, nach dem System der Wortbildung, aber gegen die Norm, gegen die Sprachüblichkeit gebildet sind.
Die Möglichkeiten
Im Prinzip können viele Verben mit dem Wortbildungsaffix-ung zu Nomina actionis abgeleitet werden, also zu Nomina, die eine Aktion, eine Handlung ausdrücken, z.B. Hoffnung, Übung, Klärung, Bewegung, Entdeckung, Versuchung. Auch die sogenannten Präverbfügungen können mit -ung zu Nomina actionis abgeleitet werden, z.B. Andeutung, Einkerbung, Nachbesserung.
Außerdem wird zur Bildung von Nomina actionis die Konversion genutzt; dabei werden ohne Wortbildungsaffixe Verben zu Nomina umgewandelt, konvertiert, es entstehen Konvertate wie Lauf, Antwort, Treff, Betreff, Einschlag, Nachschlag. Offenbar haben sich keine Vorlieben für die eine oder andere Möglichkeit entwickelt; beide Möglichkeiten werden gleichermaßen genutzt. Es ist nicht festgelegt, ob eine Handlung durch ein -ung-Nomen oder durch ein Konvertat ausgedrückt wird. Vom System her sind beide Möglichkeiten gegeben.
Für gewöhnlich setzt sich der eine oder andere Ausdruck durch. Von der Norm her üblich ist dann entweder das -ung-Nomen oder das Konvertat, z.B.
- Beschneidung, Überschneidung, Durchschnitt, Zuschnitt, und eben auch Einschnitt
- Anweisung, Einweisung, Überweisung, Zuweisung, Beweis, Hinweis, Verweis, und eben auch Nachweis
Dass sich die Sprachüblichkeit im Verlauf der Sprachgeschichte ändern kann, zeigt Nabil Osman (1971) in seinem "Kleinen Lexikon untergegangener Wörter": Was heute mit einem -ung-Nomen gesagt wird, wurde historisch mitunter mit einem Konvertat gesagt; was heute mit einem Konvertat gesagt wird, wurde historisch mitunter mit einem -ung-Nomen gesagt. Noch bis ins 18.Jahrhundert üblich waren etwa Beweisung, Urteilung, Genießung, Empfehl, heute üblich sind Beweis, Urteil, Genuss, Empfehlung. Wer also seine Ferienwohnung am Plattensee so anpreist: Zur Genießung dieser wirklich seltenen Gegebenheiten bieten wir Ihnen Entspannung in unserem wohl ausgestatteten Haus. (http://zimmerinfo.hu/badacsony/), der outet sich als anrührender Deutschlaie.
Parallelformen
Gelegentlich gibt es aber eben doch neben den sprachüblichen Ausdrücken Parallelformen: In den Sprachkorpora des Instituts für Deutsche Sprache findet sich etwa neben Zuschnitt auch Zuschneidung, z.B.:
[Frankfurter Allgemeine, 1995]
[St. Galler Tagblatt, 13.09.2000, Sechs Millionen investiert]
Solche Parallelausdrücke sind in bestimmten Kontexten sogar die weitaus üblicheren. So ist Beschnitt in gartenpflegerischen Kontexten sprachüblicher als Beschneidung, z.B.:
[Berliner Zeitung, 17.12.2003, S.23]
Geradezu terminologisiert ist in juristischen, in amtlichen, speziell bauamtlichen und in bautechnischen Kontexten Nachweisung. Auch Einschneidung ist terminologisiert, und zwar vor allem in geologischen Kontexten. In www.google.de fanden sich am 5.4.2006 rund 245.000 deutschsprachige Seiten mit Nachweisung, 16 Seiten mit Bedarfsnachweisung und 55 mit Baubedarfsnachweisung, u.a. von der Technischen Universität Clausthal, der Universität Marburg und der Universität Münster. Auf 459 deutschsprachigen Seiten war von Einschneidung die Rede, z.B.:
Fazit
Wer sich aber auskennt, kann verschiedene Sprachregister ziehen und so sagen, wie Thomas Mann 1909: