Wie sind Abtönungen zu erkennen?

Abtönungen werden unter Verwendung von Partikeln realisiert, wie sie in Abtönung und Modus dicendi - den verschiedenen Modi zugeordnet - aufgeführt sind. Da diese Partikeln jedoch durchweg auch in anderer als eben abtönender Funktion verwendet werden können, genügt es nicht die infrage kommenden Partikeln zu kennen, um gegebenenfalls eine Abtönung zu erkennen oder selbst vorzunehmen. Da die Partikeln zudem kein Stellungsverhalten zeigen, das geeignet wäre, sie über ihre Position in kommunikativen Ausdruckseinheiten zu identifizieren, ist ihre abtönende Verwendung vor allem daran zu erkennen, dass andere, prinzipiell mögliche Verwendungen nicht vorliegen können oder zumindest im gegebenen Kontext wenig Sinn machen würden.

Kompetenten Sprachteilhabern gelingt diese überwiegend "negative Selektion", ohne sich eigens davon Rechenschaft geben zu müssen, was sie - ohne spezielle theoretische Schulung - im Allgemeinen auch gar nicht könnten. Was sie als kompetente Sprachteilhaber gleichsam "en passant" leisten, erweist sich jedoch als ausgesprochen kompliziert, wenn man versucht, ihre Fertigkeit theoretisch zu rekonstruieren, denn um letztlich zur Identifikation einer abtönenden Verwendung einer Partikel zu kommen, muss man auch all die anderen prinzipiell möglichen Verwendungsweisen kennen, damit man erkennen kann, dass diese im gegebenen Fall nicht vorliegen.

Da nicht alle Partikeln, die für eine abtönende Verwendung infrage kommen, dieselben alternativen Verwendungsweisen haben, sind die Kriterien für die Identifikation von Abtönungen nahezu wortweise zu bestimmen. Einige allgemeine Feststellungen lassen sich dennoch treffen:

  • Bestimmte Partikeln können nur in Verbindung mit bestimmten Modi dicendi abtönend verwendet werden. So wird etwa eben nicht bei Dikta in Frage-Modi, im Wunsch-Modus und im Exklamativ-Modus zur Abtönung eingesetzt. Das ist keinesfalls auf eine stilistische Laune zurückzuführen, sondern darauf, dass sich die Partikel aufgrund ihrer Bedeutung für abtönende Verwendung bei Fragen, Wünschen und Ausrufen nicht eignet. Damit reduziert sich das Identifikationsproblem bei eben schon mal auf Verwendungen bei Dikta im Aussage-Modus, Aufforderungsmodus und Heische-Modus.
  • Bestimmte Partikeln kommen nur in abtönender Verwendung bei Dikta in bestimmten Modi dicendi vor. So etwa denn allein bei Dikta in den Frage-Modi oder vielleicht bei Dikta im Exklamativ-Modus, wenn die entsprechende kommunikative Ausdruckseinheit mit dass eingeleitet wird. Mithin liegt bei diesen Beispielen abtönende Verwendung vor:
Kann man denn in solch einer traumatischen Situation, wenn man, womöglich von einem Bekannten, angegriffen wird, diese neuen Verteidigungstechniken anwenden, ist man da nicht völlig panisch und weiß gar nichts mehr?
(die tageszeitung, 27.11.1993, S. 39)
Wer hat denn da wieder nicht aufgepaßt?
(die tageszeitung, 16.05.1997, S. 18)
Und Ignaz schreit zurück: "Du bist vielleicht ein Dodel. Ich kann doch nicht wegschauen, sonst verlier ich den Ball!"
(Vorarlberger Nachrichten, 19.06.1999, Der ehrlichste Kampf ums runde Leder)
  • Partikeln, die im linken Außenfeld stehen, werden - ob intonatorisch abgesetzt oder nicht - nicht zur Abtönung verwendet. Bei folgenden Beispielen liegt deshalb keine Verwendung der markierten Partikeln zum Zweck einer Abtönung vor:
Hast du die Bananen zum Abfall getan? - Ja, das hab' ich, weil sie völlig vergammelt waren.
Und ich habe mich auch gesundheitlich in der Zeit sehr wohl gefühlt. Nur, in den letzten Jahren bin ich davon abgekommen, überhaupt Wein oder Bier zu trinken, weil ich, äh, nun einfach auf meine Linie achten muss
(Roman Herzog, 22. 1. 1994 in SDR3 - Leute)
  • Partikeln und vermeintliche Partikeln, allein im Vorfeld auftreten, werden nicht zur Abtönung verwendet. Also keine Abtönung in solchen Fällen:
Natürlich wird auch kritisch gefragt, das ist ganz klar. Nur war halt bis jetzt eigentlich noch nicht Anlass da, um ah, um ah, kritisch zu fragen.
(Franz Beckenbauer, Sommer 1994 in SDR3: Leute)
Vielleicht wird gerade zufällig ein Negativ gefunden, das augenblicklich gerettet werden muß.
(die tageszeitung, 11.08.1988, S. 11-12)
  • Eine Partikel, die im gegebenen Kontext als Konnektoren interpretiert werden kann, fungiert immer auch als solche, so etwa bei diesem Beispiel:
Ihre Behandlung war nicht verfehlt, sie war nur möglicherweise zu einseitig orientiert.
(Thomas Mann, "Der Zauberberg", SFV 1960, Bd. 3, Erste Buchausgabe: Berlin, 1924, S. 869)
  • Partikeln, die auch zur Diktumsgraduierung verwendet werden können, sind nicht zur Abtönung zu verwenden, wo sie fokusbezogen interpretiert werden können. Damit keine Abtönung bei diesen Sätzen:
Wenn man des mal in Ruhe sich anschaut, merkt man, dass es bestimmte Vorschläge gibt, die nur Placebo sind.
(Fritz Kuhn am 30. 11. 2004, in Phoenix, Unter den Linden)
Es war schon dunkel, als ich in Bonn ankam.
(Heinrich Böll, Ansichten eines Clowns, Köln-Berlin, 1963, S. 11. Gelesen vom Autor.)

Die hier aufgeführten Kriterien lassen freilich mehr offen, als sie einschränken. Letztlich führt, wie bereits festgestellt, allein die Erkenntnis für Identifikation von Abtönungen, dass alle anderen Versuche, die entsprechenden Ausdrücke zu interpretieren, keinen oder wenig Sinn machen.

Zum Text

Schlagwörter
Letzte Änderung
Aktionen
Seite merken
Seite als PDF
Seite drucken
Seite zitieren

Seite teilen