Semantische Rolle
Zunächst einige Beispiele:
Sie können heute dem Gastgeber X Blumen Y auch in durchsichtigem Papier übergeben.
X die Ungereimtheiten der gängigen Impfstofftheorie Y aufgefallen.
(Die Zeit 3.5.1985, 82)
Was ist das entscheidende Kriterium für die Voranstellung der mit X markierten Komplemente vor den Y-Komplementen? Es ist nicht der Unterschied Nomen versus Pronomen und auch nicht jeweils eine bestimmte Komplementklasse oder ein bestimmter Kasus. Das entscheidende Kriterium ist die unterschiedliche semantische Rolle dieser Komplemente in Bezug auf die Handlungsfähigkeit. Die X-Komplemente bezeichnen handlungsfähige Objekte, die Y-Komplemente bezeichnen nicht-handlungsfähige Objekte. Wir nennen dieses Stellungsprinzip vereinfachend BELEBT vor UNBELEBT.
(Ullrich 1960, 28)
Gleich nach unserem Telefonat vom 17.3. hat unser Herr Knocke +belebt dem Kunden +belebt das Ersatzteil -belebt zugeschickt.
Die Kraft dieses Prinzips wird aber besonders deutlich, wenn bei der sogenannten Subjektinversion das Subjekt nachgestellt wird. Das ist immer der Fall, wenn es typischerweise Träger einer unbelebten Rolle ist und die belebte Rolle als Dativ- oder Akkusativkomplement erscheint.
(Die Zeit 3.5.1985, 82)
Auf der letzten Cebit haben unsere Experten +belebt vor allem die Multimedia-Entwicklungen einiger kleinerer Firmen -belebt beeindruckt.
Diese Abfolge ist typisch für sogenannte Dativverben wie passieren, widerfahren, zustoßen, unterlaufen, gelingen zustehen, auffallen, einfallen, entfallen, gefallen, helfen, schaden, fehlensowie Akkusativverben wie interessieren, beeindrucken, erstaunen, überraschen, beunruhigen, langweilen, stören, ärgern. Sehr häufig kommt dieses Prinzip auch bei Dativ-Akkusativverben zur Geltung wie geben, schenken, senden, überlassen, gewähren, verkaufen, leihen, wegnehmen, stehlen, entziehen, verweigern sowie bei Mitteilungsverben wie übermitteln, mitteilen, erzählen, gestehen, berichten, schildern, vorschlagen:
Angeklagter schildert dem Richter +belebt den mißglückten Raubüberfall +belebt
(Bild 17.1.1997, 2)
Das folgende Textsegment aus der Welt (19.1.1966, 1) mit zwei aufeinanderfolgenden Sätzen zeigt, dass die Regel K+bel >> K-bel unabhängig von der Verteilung der Kasus ist:
Komplement+belebt | Komplement-belebt | ||
Dürfen fünf Partner einer Gemeinschaft | dem sechsten dativ | ihren Willen akkusativ | aufzwingen? |
Oder darf einer | die anderen fünf akkusativ | seinem Willen dativ | unterwerfen? |
Dass die Abfolge der nominalen Komplemente vom Belebtheitsprinzip und nicht von der Kasusrealisierung abhängt zeigt sich auch bei Verben mit doppeltem Akkusativ wie lehren, abfragen, kosten.
Das Belebtheitsprinzip ist weitgehend auf nominale Komponenten beschränkt. Es gibt aber Ausnahmen: Obwohl sich das Belebtheitsprinzip nicht generell auf Präpositivkomplemente anwenden lässt, ist die Abfolge K+bel >> K-bel auch über den Bereich der nominalen Komplemente hinaus wirksam:
(FAZ, 15.12.1965, 4)
Obwohl es sich nicht generell auf Präpositivkomplemente anwenden lässt, ist die Abfolge Komplement+belebt >> Komplement-belebt auch über den Bereich der nominalen Komplemente hinaus wirksam.
(Frankfurter Allgemeine 15.12.1965, 4)