Kasusflexion in der Nominalphrase

Die folgenden Abschnitte gehen auf Restriktionen bei der Bildung von Nominalphrasen im Deutschen ein und erläutern die Distribution der Flexionsmarker auf Nomen und Begleiter, insbesondere in Bezug auf die Kasusflexion. Die besonderen syntaktischen und flexionsmorphologischen Bedingungen, die für Nomina ohne Begleiter gelten (auch 'bloße Nomina' genannt), sind hierbei die Grundlage für die Betrachtung komplexerer Nominalphrasen.

Kasusflexion bei bloßen Nomina

Während der Numerus am Nomen selbst mit Hilfe der Pluralmarker konsequent gekennzeichnet wird (wenn es phonologisch möglich ist), werden Kasusmarker am Nomen nur in bestimmten Fällen gesetzt. Bei Nominalphrasen im Singular, die nur aus dem lexikalischen Kopf (bloßes Nomen) bestehen, d. h. denen kein Artikel oder Adjektiv vorausgeht, unterbleibt die Kasusflexion im heutigen Deutsch meistens (siehe auch Unterlassung der Kasusflexion). Der Kasusflexion unterworfen sind dagegen Nomina im Plural (Marker nur für den Dativ) und artikellose Eigennamen (Marker nur für den Genitiv*).
* Ein -n im Dativ oder Akkusativ von Eigennamen oder affektiven nominalen Bezeichnungen auf -er und -el ( sie hat es Petern nie verziehen, er hat Muttern sehr geliebt) ist heute veraltet.

Ausnahmen bilden ebenfalls einige stilistisch markierte Präpositionalphrasen, deren Präposition den Genitiv regiert, z. B. mit wegen, infolge. Nomina in solchen Präpositionalphrasen können auch ohne Begleiter Genitivmarker erhalten:

Die gestrigen Wettfahrten fielen dort übrigens wegen Sturms ins Wasser. [Kleine Zeitung, 28.04.2000]

Der Unfallfahrer hatte infolge Alkoholgenusses eine Kurve nicht richtig genommen, ein Fahrzeug gestreift und war weitergefahren. [Frankfurter Rundschau, 21.01.1999]

Bei Feminina sind es im Singular ausschließlich die Begleiter des Nomens, die kasusspezifische Markierungen besitzen können, da feminine Flexionsklassen im Singular grundsätzlich endungslos sind. Im Plural haben nur markierte Feminina (Flexionsklasse 2) regelmäßig eine Kasusmarkierung: Sie kennzeichnen den Dativ (z. B. mit Händen). Bei Maskulina und Neutra existieren zwar Kasusmarker, doch werden solche Markierungen (rot) nur im Beisein von Begleitern in der Nominalphrase (fett) am Nomen selbst vorgenommen, z. B.:

die Verarbeitung des Holzes

Nicht möglich: *die Verarbeitung Holzes.

In Nominalphrasen mit Feminina im Singular, die keine Begleiter besitzen, z. B. mit femininen Stoffnamen wie Milch, können die verschiedenen Kasus flexionsmorphologisch überhaupt nicht gekennzeichnet werden, da in femininen Flexionsklassen im Singular keine Kasusmarker vorkommen. Nominalphrasen mit Maskulina oder Neutra, die keine Begleiter besitzen, verhalten sich diesbezüglich genau wie Feminina. Obwohl in ihren Flexionsklassen im Singular Kasusmarker für Genitiv (und fakultativ Dativ), teilweise auch für Akkusativ/Dativ vorkommen, wird eine solche Markierung aber im heutigen Deutsch nicht vorgenommen.

Die folgende Tabelle zeigt die Vorkommensmöglichkeiten von Nominalphrasen mit/ohne Begleiter im jeweiligen Kasus (fett) mit den entsprechenden Kasusmarkern am Nomen (rot). Die Beispiele sind Maskulina/Neutra der s- und n-Kasusflexion:

DativGenitiv
ohne Begleiter,
mit Kasusmarker:
ØØ
ohne Begleiter,
ohne Kasusmarker:
Ein Bauteil aus Holz_.
Ein Seminar mit Dozent_.
Ø
mit Begleitern:Bauteil um Bauteil wurde aus dem Holze von eigens hierfür gefällten Eichen handgearbeitet [...] [die tageszeitung, 15.05.2000]
Für Sänger und Chorleiter wird erneut ein Stimmbildungsseminar, […], mit dem Dozenten Arthur Groß durchgeführt. [Mannheimer Morgen, 13.07.2002]
Die Verarbeitung des Holzes ist für Kinder wie auch für Erwachsene gleichermaßen wichtig. [Mannheimer Morgen, 25.08.2004]
Zuletzt besuchten wir zusammen einen Vortrag eines armenisch-türkischen Dozenten über die Zivilgesellschaft. [Die Zeit (Online-Ausgabe), 27.11.2003]

Der Dativ Plural wird im Standard grundsätzlich in allen drei Genera mit -n markiert, wenn es phonologisch möglich ist. Das gilt, anders als bei den Kasusmarkern im Singular, auch für Nomina ohne Begleiter. Ein Blick auf die Tabelle zeigt auch, dass die Bildung einer Nominalphrase ohne Kasusmarker im Dativ Singular möglich (die Dativendung -(e) ist bei der s-Kasusflexion fakultativ), aber im Genitiv nicht möglich ist. Beide Bedingungen gelten auch für Feminina, also für alle drei Genera (vgl. Eine Schachtel aus Pappe; *die Verarbeitung Pappe). Die Beschränkung für den Genitiv gilt auch im Plural:

SingularPlural
ohne Kasusmarker:Ø Ø
mit Begleitern:die Verarbeitung des Marmors / des Holzes / der Pappedie Lektüre der Bücher

Die Beobachtung, dass solche Nominalphrasen im Genitiv im Deutschen ungrammatisch sind, bedarf aber genauerer Erklärungen im Abschnitt Besonderheiten bei Nominalphrasen im Genitiv.

Berücksichtigt man die Tatsache, dass Feminina im Singular keine Kasusmarker besitzen sowie die Einschränkungen der Kasusflexion bei Maskulina/Neutra (s- und n-Kasusflexion), kommt man für das Deutsche zu folgendem Schluss:

Nomina können im Singular nur in Begleitung von Artikeln und/oder Adjektiven Kasusmarker erhalten.

Besonderheiten bei Nominalphrasen im Genitiv

Während die Nicht-Markierung des Kasus bei den Feminina bzw. Unterspezifiziertheit der Maskulina und Neutra bei der Bildung von Nominalphrasen in anderen Kasus kein Problem darstellt, führt sie bei solchen im Genitiv hingegen dazu, dass sie ungrammatisch werden. Es muss auf Ersatzkonstruktionen ausgewichen werden:

Mit Begleiter: die chemischen Bestandteile der Luft

Kasuslos (ohne Begleiter): *die chemischen Bestandteile Luft

Ersatzkonstruktion: die chemischen Bestandteile von Luft

Unflektierte Artikel sind ebenfalls nicht akzeptabel:

Mit flektiertem Artikel: […] der "Getränkeverkauf direkt ab Rampe" […] hatte da […] dem momentanen Wunsch manch eines Fussballers und manch einer Fussballerin [...] entsprochen. [St. Galler Tagblatt, 05.07.1999]

Nur unflektierter Artikel:*dem Wunsch manch Fussballerin

Die Bildung einer Nominalphrase im Genitiv ist nur in Begleitung von flektierten Artikeln und/oder Adjektiven möglich.

Einen Sonderfall gegenüber der vorstehenden Regel stellt der so genannte "Sächsische Genitiv" (frz. génitif saxon) dar: Maskuline und feminine Eigennamen erhalten im Genitiv den Marker -s. Dabei kann der genitivische Eigenname voran- oder nachgestellt sein (obwohl man traditionell nur den vorangestellten als "sächsischen Genitiv" bezeichnet). Er wurde früher, wie im Englischen, durch einen Apostroph vom Wortkörper getrennt, was jedoch heute nicht mehr korrekt ist:

Monikas Wohnung, die Wohnung Monikas
Götz Georges Biographie, die Biographie Götz Georges

Eine weitere Einschränkung betrifft den Kasusmarker -en. Da er auch den Akkusativ kennzeichnet, ist er am Artikel/Adjektiv für die Markierung des Genitivs nicht spezifisch genug und für die Bildung einer Nominalphrase im Genitiv daher ausgeschlossen.

Die Aussage, dass die Bildung einer Nominalphrase im Genitiv nur in Begleitung von flektierten Artikeln und/oder Adjektiven möglich ist, formuliert noch nicht hinreichend alle Bedingungen. Auch Bildungen mit Artikeln, die Genitivformen nach dem Muster der Adjektivflexion (siehe Flexion der Artikel) mit -en besitzen, sind ausgeschlossen, falls ein Nomen mit n-Kasusflexion folgt. Die Kombination von -en beim Begleiter und -en beim Nomen wäre hier zur Markierung des Genitivs nicht spezifisch genug. Beispiele:

Der Hund mag manches Menschen bester Freund sein. [Mannheimer Morgen, 17.10.2001]

Und des Menschen Lust ist manchen Tieres Leid. [Berliner Zeitung, 16.07.2003]

Nicht möglich: *der beste Freund manchen Menschen

Die Teilnahme an der Neugestaltung des Zentrums von Berlin ist der Traum jedes Architekten.

Nicht möglich: *der Traum jeden Architekten

Fasst man die Besonderheiten bei Nominalphrasen im Genitiv zusammen, kommt man zu folgendem Schluss:

Eine Nominalphrase im Genitiv muss hinreichend kasusspezifisch sein. Das bedeutet:
Keine bloßen Nomina: Da Nomina nur in Begleitung von flektierten Artikeln und/oder Adjektiven Kasusmarker erhalten (und infolge kasusspezifisch sein können), kann eine Nominalphrase im Genitiv überhaupt nur in Begleitung solcher flektierten Artikel und/oder Adjektive gebildet werden.
Spezifische Kasusmarker: Nur -er, -(e)s und -s sind für eine Nominalphrase im Genitiv als Endungen am Nomen oder seinen Begleitern hinreichend kasusspezifisch, d. h. mindestens ein Vorkommen dieser Marker muss gegeben sein.

Auffällig ist, dass Maskulina und Neutra als bloße Nomina (artikellose Eigennamen ausgenommen) für die Bildung von Nominalphrasen im Genitiv ausgeschlossen sind, obwohl sie ja die Bedingung, hinreichend kasusspezifisch zu sein, durch ihre Genitivmarker erfüllen könnten. Dennoch sind solche Phrasen ungrammatisch, z. B.:

Die Verarbeitung des Holzes.

*die Verarbeitung Holzes

Eine Erklärung liefert Thieroff 2004. Bei diesen attributiven Nominalphrasen im Genitiv mit bloßem Nomen zeigt sich, dass sich Maskulina und Neutra trotz ihrer flexionsmorphologischen Möglichkeiten hier an den Restriktionen orientieren, die für Feminina gelten (Ausnahmen finden sich lediglich bei bloßen Nomina in Präpositionalphrasen). Da feminine Genitivattribute, die keine Begleiter enthalten, nicht kasusspezifisch sein können (keine Genitivmarker), sind entsprechende Attribute auch mit Maskulina oder Neutra nicht erlaubt, obwohl diese hinreichend kasusspezifisch wären. Hierzu passt auch die oben erwähnte Tatsache, dass bloße Nomina (Maskulina/Neutra) im Dativ nur grammatisch korrekte Phrasen bilden, wenn sie unterspezifiziert sind, also formal Feminina gleichen (Endungslosigkeit). Die flexionsmorphologischen Möglichkeiten der Feminina bestimmen also die Syntax und Kasusflexion der Nominalphrasen im Allgemeinen.

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