Vorfeldbesetzung durch Verbalkomplexteile

Der Verbalkomplex kann nie insgesamt das Vorfeld bilden, da die finite Verbform in Sätzen mit Vorfeld immer im linken Satzklammerteil stehen muss. Als mögliche Vorfeldeinheiten kommen deshalb nur das Präverb einer Präverbfügung und die infiniten Verbformen des Verbalkomplexes in Frage.

Im Ungarischen ist die Wortstellung insgesamt grammatisch weniger gebunden als im Deutschen. In der ersten Hälfte des Satzes, die bis zur fokussierten Phrase dauert und gewisse funktionale Ähnlichkeiten mit dem deutschen Vorfeld aufweist, können bis auf einige Partikeln fast unbeschränkt alle Stellungseinheiten auftreten und auch miteinander kombiniert werden. So können dort auch Präverben, Präverbfügungen und infinite Verbformen stehen.

Finite Verben sind auch im Ungarischen in dieser ersten Satzhälfte nicht möglich, weil das finite Verb immer fest mit der fokussierten Phrase verbunden ist: Das finite Verb steht immer hinter der folussierten Phrase oder das finite Verb bildet selbst den Fokus. Es kann natürlich vorkommen, dass ein Satz (sogar auch ein Aussagesatz) mit dem finiten Verb anfängt. Diese Sätze verfügen aber nicht über die erste Satzhälfte, sie sind Verberstsätze wie auch im Deutschen. Der Unterschied besteht darin, dass im Deutschen Verberst-Strukturen im Allgemeinen (mit wenigen markierten Ausnahmen) nur in anderen Satztypen denkbar sind, nicht aber in Aussagesätzen, während sie im Ungarischen in allen Satztypen, auch in Aussagesätzen vorkommen können.

Präverben

In Verbzweitsätzen stehen Präverben getrennt vom finiten Vollverb:

(1) anrufen – Ich rufe dich morgen wieder an.

bei infiniten Vollverbformen sind sie mit dem Verb verbunden:

(1') Ich habe dich gestern wieder angerufen.
(1'') Du wirst von mir morgen wieder angerufen.

Präverben können im Allgemeinen nicht allein (2), sondern nur zusammen mit dem verbalen Teil das Vorfeld besetzen (3):

(2) *An rufe ich dich morgen wieder.
(3) Anrufen will ich dich morgen wieder.

Die alleinige Vorfeldstellung ist allerdings bei Präverben möglich, die sich aufgrund ihrer adverbialen oder adjektivischen Herkunft noch eine relativ eigene Bedeutung bewahrt haben, wie z. B. bei feststehen und hinzukommen:

(4) Fest steht aber wohl schon jetzt, dass nicht jeder, der einen Hund besitzt oder ausführt, seine Sachkunde in einer Prüfung nachweisen muss.
[Hannoversche Allgemeine, 04.06.2009]
(5) Hinzu kommt in letzter Zeit ein Ansteigen der Beratungen bei finanziellen Problemen.
[Niederösterreichische Nachrichten, 29.04.2009]

(6) Ab geht die Post – zumindest für das blonde Rotkäppchen, das mit seiner Begleiterin auf einem heißen Schlitten die Piste hinabbraust.
[Rhein-Zeitung, 18.03.2006]

Stehen zwei Präverbfügungen semantisch direkt im Kontrast, kann das Präverb ebenfalls alleine im Vorfeld auftreten:

(7) Sie ist Mahnung pur – wie die feine Inschrift auf dem Emailschildchen: "Hin geht die Zeit, Her kommt der Tod, Mensch tue Buße und fürchte Gott".
[Rhein-Zeitung, 31.12.2002]

Im Ungarischen werden Verben sehr häufig mit Präverben (ung. igekötő) kombiniert. Für die zentralen ungarischen Präverben (be, ki, fel, le, meg, el usw.) gelten folgende Stellungsregeln: Wenn das Präverb vor dem Vollverb steht, wird es in der Regel zusammengeschrieben, wenn es hinter dem Vollveb steht, wird es getrennt geschrieben: Elmegy. 'Er/sie geht weg' vs. Menj el! 'Geh weg!'. Voranstellung und Nachstellung des Präverbs hängen grundsätzlich von den Betonungsverhältnissen ab. Vorangestellt wird das Präverb, wenn der Verbalkomplex selber den Satzakzent trägt, wenn also Präverb und finites Verb gemeinsam den Fokus bilden. Nachgestellt wird das Präverb, wenn eine andere Phrase fokussiert wird und die Stelle vor dem finiten Verb besetzt.

Das Präverb kann sich in Nachstellung unter Umständen von dem finiten Verb distanzieren, dies stellt aber eine markierte Wortstellung dar. Vgl.:

Miklós holnap megy otthonról el.
Miklós morgen geht von zu Hause weg. 'Miklós geht morgen von zu Hause weg.'

Das vorangestellte Präverb ist eng mit dem finiten Verb verbunden, nur Hilfsverben und einige Partikeln (wie z. B. die Negationspartikeln ne, nem) können zwischen die beiden eingeschoben werden. Wenn ein Hilfswort eingeschoben wird, werden zwar alle drei Wörter getrennt geschrieben, bilden aber zusammen eine Stellungseinheit:

Miklós el akar menni.
Miklós weg will gehen. 'Miklós will weggehen.'
El ne menj!
Weg nicht gehe! 'Geh nicht weg!'

Zentrale Präverben können also in der ersten Satzhälfte nicht auftreten. In nachgestellter Position stehen sie immer in der zweiten Satzhälfte. In vorangestellter Position bilden sie eine untrennbare Stellungseinheit mit dem Finitum und gemeinsam bilden sie zugleich auch die fokussierte Phrase. Solche Sätze gelten also als Verberstsätze, die über keine erste Satzhälfte verfügen.

Ähnlich wie im Deutschen gibt es aber auch im Ungarischen Präverben, die noch ihre adverbialen oder adjektivischen Eigenschaften bewahrt haben, die also einen Übergang zwischen dem Präverb und dem Adverb bzw. Adjektiv bilden: hazamegy, továbbjut, alábbhagy usw. Sie können sich vom Verb trennen und als phrasenwertige Stellungeinheit in jede Position, so auch in die erste Satzhälfte gestellt werden. (In den folgenden Beispielen wird zugunsten der besseren Übersicht die fokussierte Phrase rot, das finite Verb blau markiert):

Haza későn ment Miklós.
Nach Hause spät ging Miklós. 'Nach Hause ging Miklós spät.'
Tovább nehezen jutott a karaván.
Weiter schwierig gelangte Karawane. 'Weiter konnte die Karawane schwierig gehen.'

Infinite Teile des Verbalkomplexes

Der Verbalkomplex besteht mindestens aus einem finiten Verb, kann aber zusätzlich auch eine oder mehrere infinite Verbformen enthalten. Diese bilden in unmarkierter Stellung im V-2-Satz die rechte Satzklammer, sie können aber auch ins Vorfeld gerückt werden.
Infinite Teile sind: Partizip II (1), Infinitiv (2), Infinitiv mit zu (3).

(1) Geblieben sind aber auch die Gründe dafür, warum sich so wenig zum Besseren gewendet hat.
[Süddeutsche Zeitung, 08.04.2010]
(2) Glauben kann ich nur, wenn ich dafür nicht Vernunfteinsichten opfern muss“, sagt der gelernte Mathematiker und Theologe.
[Hannoversche Allgemeine, 10.06.2009]
(3) Auszuschließen ist nämlich angesichts der sich dramatisch verschlechternden Wirtschaftsindikatoren gar nichts mehr.
[dpa, 13.03.2009]

Wenn die infiniten Teile des Verbalkomplexes ins Vorfeld gestellt werden (4, 5), bleibt die Abfolge der infinten Teile beibehalten, wie sie auch in der rechten Satzklammer auftritt:

(4) Wie für das Alte Rathaus in der Stadt Bad Ems gilt auch für die Feuerwache: Gemacht werden muss es so oder so.
[Rhein-Zeitung, 11.04.2009]
(5) Gestohlen worden sein kann es nicht.

Mit dem sich anschließenden finiten Verb des Verbalkomplexes entsteht auf diese Weise am Satzanfang genau die Abfolge der Verbformen wie im Nebensatz:

Werden nicht alle Infinitivformen des Verbalkomplexes ins Vorfeld gestellt, verteilt sich der Verbalkomplex auf drei Positionen im Satz:

(6) [Gestohlen worden] [kann] es nicht [sein].

Im Ungarischen tauchen seltener Verbalkomplexe mit infiniten Verben auf. Immerhin regieren aber einige Hilfsverben (z. B. fog 'werden' tud 'können', szeret 'mögen', akar 'wollen', szándékozik 'beabsichtigen') den Infinitv. Bei solchen Hilfsverben bildet der infinite Teil des Verbalkomplexes eine Stellungseinheit, die grundsätzlich in allen Positionen, so auch in der ersten Satzhälfte stehen kann:

Olvasni holnap fogok.
Lesen morgen werde. 'Lesen werde ich morgen'
Futni nagyon szeret.
Rennen sehr mag. 'Rennen mag er/sie sehr.'

Im Konjunktiv Präteritum liegt ein Verbalkomplex vor, in dem das Vollverb konjugiert wird und das Hilfsverb eine unflektierte infinite Form hat. Das infinite Hilfsverb volna ist eng mit dem Vollverb verbunden, steht immer obligatorisch hinter ihm, kann also in der ersten Satzälfte nicht vorkommen:

Tegnap olvastam volna még egy kicsit.
Gestern gelesen hätte noch ein bisschen. 'Gestern hätte ich noch ein bisschen gelesen.'
Nicht aber: *Volna olvastam tegnap még egy kicsit.

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